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Veröffentlicht am 07.12.2017

Einblick in eine längst vergangene Ära

Himbeeren mit Sahne im Ritz
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In diesem Kurzgeschichtenband gibt es elf Episoden, in denen verschiedenste Frauen im Mittelpunkt stehen. Mal ist es eine Revuetänzerin, mal eine Leinwandkönigin oder eine Ballerina, und trotz ihres unterschiedlichen ...

In diesem Kurzgeschichtenband gibt es elf Episoden, in denen verschiedenste Frauen im Mittelpunkt stehen. Mal ist es eine Revuetänzerin, mal eine Leinwandkönigin oder eine Ballerina, und trotz ihres unterschiedlichen Hintergrundes und Lebenslaufs sind es in der Regel typische "Flapper". Also Frauen, die sich nicht um überholte Konventionen scheren, die unabhängig und selbstbestimmt durchs Leben gehen, aber trotzdem auf der Suche nach der großen Liebe sind.

Die 20er Jahre sind meine absolute Lieblingsdekade des 20. Jahrhunderts, denn sind wir mal ehrlich, die erste Hälfte war, von diesen zehn Jahren einmal abgesehen, keine Epoche in der man gerne gelebt hätte. Erster Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise, Zweiter Weltkrieg - alles in allem eine traurige Bilanz für ein halbes Jahrhundert. Nur in den 20ern hatten die Menschen die Gelegenheit, das Leben in vollen Zügen zu genießen, und unter dem Eindruck des gerade beendeten Krieges haben sie das auch getan, wenn sie die Möglichkeit dazu hatten.
Aus diesem Grund lese ich gerne Romane, die in dieser Zeit angesiedelt sind, aber in der Regel sind das dann natürlich historische Romane. In diesem Fall ist die Autorin aber Zelda Fitzgerald, die berüchtigte Ehefrau des Schriftstellers F. Scott Fitzgerald, und die Ikone (heutzutage würde man wahrscheinlich sagen: das "It-Girl") ihrer Ära. Das macht diese Anthologie zu etwas besonderem, denn sie ist ein Zeitzeugnis, geschrieben von einer Schriftstellerin, an der sich eine ganze amerikanische Frauengeneration gemessen hat.

Die Geschichten selbst sind sehr unterschiedlich, die Protagonistinnen kommen mal aus einfachsten Verhältnissen, mal sind sie reiche Erbinnen oder auch Ehefrauen. Aus heutiger Sicht wirkt das Lebensgefühl der 20er oft sehr oberflächlich und ichbezogen, denn es ging ja hauptsächlich darum, sich zu amüsieren und das Leben zu genießen, und sich selbst - vor allem als Frau - richtig in Szene zu setzen, um ein möglichst geheimnisvolles und anrüchiges Image zu kreieren. Zelda Fitzgerald lüftet den Schleier für den Leser und lässt ihn in diesen ganz und gar nicht oberflächlichen Geschichten hinter die perfekt inszenierten Fassaden blicken.

Besonders gut hat mir ihr Stil gefallen, am Anfang ungewohnt, doch Geschichte für Geschichte vertrauter und ansprechender. Obwohl in Kurzgeschichten eigentlich wenig Platz dafür ist, werden Schauplätze und ihre Atmosphäre auf sehr besondere und plastische Art zum Leben erweckt. Manche Geschichten haben einen traurigen oder melancholischen Hintergrund ("Miss Ella" oder "Zwei Verrückte"), aber es gibt auch heitere, die mit feiner Ironie zeigen, dass Zelda Fitzgerald ihre Generation selbst nicht immer völlig ernst nahm ("Unsere Leinwandkönigin" oder "Ein Mädchen aus einfachen Verhältnissen").

Dass in allen Geschichten ausschließlich die weibliche Sicht auf die Welt zum Tragen kommt, macht das Buch in meinen Augen außergewöhnlich, denn die meisten zeitgenössischen Werke wurden ja immer noch von Männern geschrieben. In Zelda Fitzgeralds Geschichten sind die männlichen Figuren bestenfalls Staffage, was bei einer Autorin, die bezüglich ihres Schaffens zeitlebens im Schatten ihres berühmten Ehemannes stand, nicht weiter verwundert.
"Himbeeren mit Sahne im Ritz" ist ein literarisches Denkmal für die erste Generation von Frauen, die das althergebrachte Rollenbild in Frage stellten und bewiesen haben, dass Frauen nicht zwangsläufig ihre Erfüllung als Ehefrau und Mutter finden, sondern genauso wie die Männer nach den Sternen greifen dürfen.

Veröffentlicht am 01.12.2017

Verwirrendes Intrigenspiel in der Belle Époque

Grandhotel Angst
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Bordighera, im Jahr 1899: Nell und ihr frisch angetrauter Ehemann Oliver verbringen ihre Flitterwochen an der Riviera. Noch nie zuvor hat Nell England verlassen, doch nun ist sie an diesem traumhaften ...

Bordighera, im Jahr 1899: Nell und ihr frisch angetrauter Ehemann Oliver verbringen ihre Flitterwochen an der Riviera. Noch nie zuvor hat Nell England verlassen, doch nun ist sie an diesem traumhaften und exotischen Ort, und wohnt sogar an der ersten Adresse am Platz, im Grandhotel Angst. Nells anfängliche Begeisterung für das Hotel schlägt aber schon nach kurzer Zeit ins Gegenteil um: jemand wird ermordet, Oliver ist plötzlich wie ausgewechselt und die düsteren Legenden, die sich um das Hotel ranken, jagen ihr eine Höllenangst ein.

Der Klappentext hat mich sofort angesprochen, und dass der Schauplatz des Romans, das Hotel mit dem ungewöhnlichen Namen, keine Erfindung der Autorin ist, gab mir noch einen zusätzlichen Anreiz, das Buch lesen zu wollen.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert war die italienische Riviera bei gut betuchten Touristen extrem angesagt, und der heute etwas in Vergessenheit geratene Ort Bordighera war das Zentrum der Region. Das Grandhotel wurde im Jahr 1887 eröffnet und verfügte über eine spektakulär moderne Ausstattung - es gab elektrisches Licht im ganzen Haus, und auch fließend Warmwasser in allen Gästezimmern. Kein Wunder also, dass jeder, der es sich leisten konnte, genau dort die milden Wintermonate genießen wollte. Im Jahr 1900 soll sogar Queen Victoria einen Aufenthalt geplant haben, der aber (sicher sehr zum Leidwesen des Eigentümers Adolf Angst) nie realisiert wurde.
Mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges und dem anschließenden Niedergang des europäischen Adels, begann leider auch der Niedergang des imposanten Hotels, in den 30er-Jahren schloss es endgültig seine Pforten. Heute ist die Ruine, deren frühere Eleganz noch immer zu erahnen ist, ein "Lost Place". Bilder davon sind im Internet zu finden, und es verwundert nicht, dass ein solcher Ort die Phantasie einer Autorin beflügeln muss.

So ist auch das Setting absolut überzeugend, man hat die luxuriösen Gemeinschaftsräume und das edel ausgestatte Zimmer des frischvermählten Ehepaares ebenso vor Augen wie die mondäne Gästeschar, die das Hotel bevölkert.

Etwas schwer getan habe ich mich allerdings mit der Erzählform: Die Ich-Perspektive kann oft sehr gelungen sein, in diesem Fall ist Nell allerdings eine etwas anstrengende Protagonistin, die sich sehr schnell in die kursierenden Geistergeschichten hineinsteigert, und dann tatsächlich etwas hysterisch wirkt. Mit ihren 21 Jahren ist sie noch sehr naiv, obwohl sie sich bereits nach wenigen Wochen Hals über Kopf in die Ehe mit Oliver gestürzt hat, kommt für sie Erkenntnis, dass sie ihren Ehemann überhaupt nicht kennt, völlig überraschend. Da kann man sich als heutiger Leser manches Mal fast besser mit Oliver identifizieren, der von den diversen Anwandlungen seiner jungen Frau überfordert ist, und dann kühl und reserviert auf ihre schwer nachvollziehbaren Ansinnen reagiert.
Ich bin etwas hin- und hergerissen - in Romanen, die in derselben Epoche spielen, sind die Protagonistinnen oft ein wenig aus der Zeit gefallen: freiheitsliebend, emanzipiert und unabhängig. Insofern ist Nell vermutlich viel eher ein Kind ihrer Zeit, Oliver ist praktisch die Sonne in ihrem Universum, seine Verschlossenheit, seine Stimmungen und Befindlichkeiten bestimmen zu einem großen Teil ihre Gedanken, sie bezieht jede seiner Launen sofort auf sich und ein eventuelles Fehlverhalten ihrerseits. Bisher hat sie sich den Wünschen ihrer Eltern gefügt, und nun ist Oliver in Nells Augen an deren Stelle getreten, er trägt die Verantwortung für ihr Wohlergehen, und trifft somit auch alle Entscheidungen für sie. Dazu kommt dann, dass sie ein mordendes Gespenst für eine realistische Option hält. Für die damalige Zeit tatsächlich nicht so lächerlich, wie es sich heute anhört, denn die Konsultation eines Mediums oder das Abhalten von spiritistischen Sitzungen waren damals tatsächlich sehr en vogue.
In Nells "Kopf" fühlt es sich für den Leser manchmal an, als wäre man in den Schleudergang der Waschmaschine geraten, denn ihre eigene Stimmung ist so wechselhaft wie ein Tag im April, und ihre Theorien ändern sich mindestens genauso oft. Darum dachte ich während des Lesens so manches Mal, dass eine neutrale Erzählform, oder zumindest eine zweite, etwas rationalere Perspektive dem Roman ganz gut getan hätte. Andererseits könnte man sich dann auch vielleicht noch schwerer in Nell hineinversetzen - ich bin in dem Punkt wirklich unschlüssig.

Trotz dieses Kritikpunktes hat mir das Buch sehr gut gefallen, ich mochte die "Spukhaus-Atmosphäre" des Hotels, und auch die Geschichte selbst bietet immer noch mal eine Wendung, die man so nicht vorausahnen konnte, wodurch es bis zum Schluss sehr spannend blieb.

Veröffentlicht am 28.11.2017

Magische Turbulenzen im Wald von Trindemossen

Lennart Malmkvist und der ganz und gar wunderliche Gast aus Trindemossen
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Lennart Malmqvist ist im Dauerstress: Zum einen muss er schnellstmöglich seinen geerbten Zauber- und Scherzartikelladen neueröffnen, denn das Finanzamt sitzt ihm im Nacken. Und zum anderen muss er sich ...

Lennart Malmqvist ist im Dauerstress: Zum einen muss er schnellstmöglich seinen geerbten Zauber- und Scherzartikelladen neueröffnen, denn das Finanzamt sitzt ihm im Nacken. Und zum anderen muss er sich noch mit einem schrulligen Professor und allerlei magischen Problemen herumschlagen.

Auf die Fortsetzung von "Lennart Malmqvist und der ziemlich seltsame Mops des Buri Bolmen" war ich sehr gespannt, denn der Auftaktband hatte durchaus seine kleinen Schwächen. Damals habe ich bemängelt, dass das Vorgeplänkel die ganze erste Hälfte andauerte, sozusagen zum Ausgleich wurde aber die zweite Hälfte umso besser und spannender. Ich hatte die Hoffnung, dass es für eine längere Reihe manchmal einfach auch einen längeren Anlauf braucht, um die Figuren einzuführen und die Geschichte aufzubauen.
Und - welch ein Glück! - der zweite Band wirft den Leser gleich zu Beginn mit viel Schwung mitten in die Handlung und es bleibt bis zur letzten Seite ein rasantes, spannendes und witziges Spektakel.

Man trifft natürlich alle alten Bekannten wieder, und auch ein paar neue Figuren werden dem Leser vorgestellt. Besonders zu erwähnen ist hier Professor Titus Hellström, der Prototyp des exzentrischen, vom alltäglichen Leben etwas überforderten Intellektuellen. Zum Glück hat er eine Schwäche für Bölthorn und auch ansonsten ein liebenswertes Wesen, was ihn schnell ans Leserherz wachsen ließ.

Es gibt wieder zwei parallele Handlungsstränge: Kommissarin Maja Tysja ermittelt in einem Entführungsfall, Lennart kümmert sich um einen Auftrag magischer Natur, aber natürlich hängen die beiden Ermittlungen zusammen. Das normale Verbrechen wird am Ende aufgeklärt, aber Lennarts "Mission Krähenbein" wird ihn wohl noch eine ganze Weile beschäftigen.

Insgesamt war ich in Lennarts schrulliger Welt sofort wieder heimisch. Lars Simons trockener Humor trifft genau meinen Geschmack, und es gab mehr als eine Stelle, an der ich laut loslachen musste. Auch Lennarts etwas kompliziertes Liebesleben steht ab und an mal im Fokus, aber für Leser, die es mit der Romantik nicht so haben, gibt's die Entwarnung gleich dazu: Es bleibt vollkommen kitschfrei, und auf den allermeisten Seiten hat Lennart eh drängendere Probleme als ein paar Stresspusteln.

Als Fazit lässt sich also sagen, dass man das Manko des Vorgängerbandes in der Fortsetzung definitiv nicht mehr bemängeln kann, alle Vorzüge aber wieder auf den Leser warten. Gibt's also gar nichts zu meckern am "ganz und gar wunderlichen Gast aus Trindemossen"? Tatsächlich jedenfalls nicht viel, allerdings hätte ich mir gewünscht, dass ich am Ende etwas weniger das Bedürfnis gehabt hätte, das Buch aus dem Fenster zu werfen...
Es ist wahrscheinlich selbsterklärend, dass ich auf das "Warum" nicht näher eingehen kann, das sollte jeder für sich selbst herausfinden.

Veröffentlicht am 22.11.2017

Lost Places warten darauf, entdeckt zu werden

Die Burg am Mondsee
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Für Tessa Donkert zeichnet sich eine glückliche Zukunft ab, als sie den Star-Architekten Burghardt Faerber heiratet, nachdem er ihren geschichtsträchtigen Familienstammsitz Burg Weidenau zu einem erstklassigen ...

Für Tessa Donkert zeichnet sich eine glückliche Zukunft ab, als sie den Star-Architekten Burghardt Faerber heiratet, nachdem er ihren geschichtsträchtigen Familienstammsitz Burg Weidenau zu einem erstklassigen Tagungshotel umgebaut hat. Doch das Glück soll nicht lange anhalten, bald wird Tessas neues Leben von einem schweren Schicksalsschlag überschattet...
Mehr als hundert Jahre früher lebte eine andere junge Frau auf Weidenau, Raquel Vossberg. Sie ist die Gesellschafterin von Jakob Martin Donkerts frisch angetrauter Ehefrau Anna Margarethe und blickt auf eine ungewöhnliche Lebensgeschichte zurück...

Die Burg am Mondsee ist Carolin Raths zweiter Familiengeheimnis-Roman, baut aber nicht auf dem vorangegangenen Das Erbe der Wintersteins auf, sondern ist ein völlig eigenständiges Buch.

Die beiden Zeitschienen der Gegenwart und der Vergangenheit wechseln sich ab, nach jedem Tessa-Kapitel folgt ein Raquel-Kapitel. Dieser Aufbau gefiel mir sehr gut, weil er das Lesen sehr abwechslungsreich macht, obendrein viel Spannung aufbaut, und auch weil so die Parallelen zwischen den beiden Handlungssträngen deutlich zu Tage treten.
Beim letzten Buch gefiel mir die Geschichte aus der Vergangenheit besser als die aus der Gegenwart, diesmal könnte ich mich nicht entscheiden, denn beide Teile sind gut gelungen und fügen sich vor allem sehr harmonisch zusammen, so dass die Handlung wie aus einem Guss wirkt.

Ich würde Carolin Raths Romane zwar nicht in eine Reihe mit den Büchern von beispielsweise Kate Morton (meine persönliche Genre-Königin) stellen, weil Mortons Geschichten doch um einiges vielschichtiger sind, mehr Perspektiven bieten und dadurch auch verzwickter und komplizierter sind, aber mit beispielsweise einer Rebecca Martin kann Frau Rath meiner Meinung nach locker mithalten. Das liegt vor allem an ihrem gefälligen Stil, der mir das Lesen wirklich leicht macht und mich problemlos ins Geschehen eintauchen lässt.

In kritischen Rezensionen habe ich gelesen, dass das Buch als zu seicht, beziehungsweise fast groschenromanartig empfunden wurde - der Meinung kann ich mich nicht anschließen. Natürlich ist es keine "große Literatur", aber der Leser bekommt eigentlich ganz genau, was das Cover verspricht: ein "Mädchenbuch", eine Familiensaga, ein Familiengeheimnis, und ja - auch eine unkomplizierte Geschichte, in die man an einem verregneten Wochenende oder an einem faulen Tag am Strand eintauchen kann, weil sie sich gemütlich wegschmökern lässt. Zumindest ich habe öfter mal Lust auf genau so ein Buch, denn manchmal möchte ich mich beim Lesen einfach nur entspannen und ein wenig abschalten ;)

Wer also gerade auf der Suche nach etwas anspruchsvollem und fordernden ist, sollte vielleicht lieber zu einem anderen Buch greifen, wer aber Lust hat, die Vergangenheit und Gegenwart einer malerischen Burg und ihrer Bewohner zu erkunden, ist hier richtig.

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Veröffentlicht am 21.11.2017

(A)soziale Medien

Der gefährlichste Ort der Welt
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Tristan Bloch besuchte die achte Klasse der Mill Valley Middle School- im nächsten Jahr sollte sein schulischer Werdegang an der High School fortgesetzt werden. Eigentlich. Denn Tristan begeht einen schwerwiegenden ...

Tristan Bloch besuchte die achte Klasse der Mill Valley Middle School- im nächsten Jahr sollte sein schulischer Werdegang an der High School fortgesetzt werden. Eigentlich. Denn Tristan begeht einen schwerwiegenden Fehler: er wurde bisher zwar als "sonderbar" abgestempelt und von seinen Mitschülern gemieden, aber zumindest wurde er geduldet und in Ruhe gelassen. Doch Tristan entschied sich eines Tages, seiner Mitschülerin Cally Broderick in einem Brief seine Liebe zu gestehen. Die gleichaltrige, von der Pubertät und der schweren Krankheit ihrer Mutter gebeutelte Cally kann mit diesem völlig unerwarteten Gefühlsausbruch ihres Mitschülers (mit dem sie bisher kaum je ein Wort gewechselt hat) nicht umgehen, er wirft sie aus der Bahn. Also wendet sie sich damit an ihre Freundinnen. Eine Entscheidung von verhängnisvoller Tragweite, denn damit ist die Katze aus dem Sack, der Tratsch verbreitet sich wie ein Lauffeuer im gelangweilten Mikrokosmos der Schule und der virtuelle Pranger in den sozialen Medien ist die unausweichliche Folge. Über Wochen wird Tristan verhöhnt, fertiggemacht und gezielt erniedrigt. So lange, bis für den sensiblen und klugen Tristan feststeht, dass er keinen Platz mehr hat in dieser Welt.

Dieser Roman geht einem wirklich unter die Haut. Obwohl sich die Autorin in ihrer Figurenzeichnung sämtlicher Klischees bedient, die die beliebten High-School-Filme der 80er Jahre in unseren Köpfen zementiert haben (der Sportler, die Unangepasste, die unnahbare Schöne, der Streber usw.), variiert sie diese Charaktere und passt sie an die heutige Zeit an, so dass sie wider Erwarten weder schablonenhaft noch überzeichnet wirken.
Da es nicht "den einen" Protagonisten gibt, sondern eine nicht gerade kleine Gruppe von Schülern im Mittelpunkt steht, die noch dazu kaum Berührungspunkte untereinander hat, werden die Ereignisse zwar chronologisch wiedergegeben, aber die Perspektivwechsel erfolgen oft etwas abrupt und unerwartet - eine Erzählweise, auf die man sich nach und nach einstellen muss, und die wahrscheinlich auch nicht jedermanns Geschmack trifft. Dazu kommt noch, dass abgesehen von Cally jeder nur einen "Auftritt" hat, und die Autorin sich offensichtlich bewusst dagegen entschieden hat, Sympathien für ihre Figuren wecken zu wollen. In meinen Augen zwar eine mutige, aber auch riskante Entscheidung, da man als Leser immer auf Distanz bleibt.

Cybermobbing ist der Aufhänger dieser Geschichte, ein Thema, das zumindest mir immer wieder nahegeht, und mich in meiner generellen Aversion gegen die sozialen Medien wie Facebook, Twitter, Snapchat usw. bestätigt. Gerade junge Menschen neigen dazu, viel zu viel von sich preiszugeben und sich damit zur Zielscheibe nicht nur ihres persönlichen Umfeldes, sondern eines viel größeren Personenkreises zu machen. Da oft (nicht nur von Jugendlichen, sondern auch von Erwachsenen) nicht mehr wahrgenommen wird, dass am anderen Ende echte Menschen mit Gefühlen, Komplexen und ihren ganz eigenen Befindlichkeiten sitzen, werden oft Dinge geschrieben, die man im wahren Leben und Auge in Auge niemals aussprechen würde.
Nur am Anfang wird dieses Thema wirklich angesprochen, aber unterschwellig ist es die ganze Zeit vorhanden. Es geht weniger um Tristans tragische Geschichte, sondern um diejenigen, die ihn virtuell attackiert haben, und von außen betrachtet danach einfach ihr Leben weiterleben. Doch ist das wirklich so? Haben die Mobber damit abgeschlossen, oder trägt jeder Tristan und den eigenen Anteil an seinem Schicksal mit sich herum?

"Der gefährlichste Ort der Welt" ist wirklich keine leichte Lektüre, denn obwohl die (tatsächlich real existierende) kalifornische Stadt Mill Valley nach außen hin paradiesisch wirkt - die Bevölkerung ist zwischen wohlhabend und reich anzusiedeln, die Jugendlichen leben im materiellen Überfluss und die Kriminalitätsrate ist für amerikanische Verhältnisse lächerlich gering - trügt das Kleinstadtidyll und hinter den gepflegten Fassaden bestimmen Leistungsdruck, Gruppenzwang und emotionale Verwahrlosung das Leben der Teenager.
Ein Buch, das mich wirklich nachdenklich zurücklässt, das die Grenzen zwischen "Täter" und "Opfer" aufweicht und am Ende zwar keine Antworten liefern kann, dafür aber viele Fragen aufwirft, die die meisten Leser noch eine Weile beschäftigen dürften.