Überraschend tiefgreifend
All Saints High - Der VerloreneZum Schreibstil:
L. J. Shen zieht einen mit ihrem Stil sofort in ihren Bann. Sie schreibt sehr düster. Anders kann man es bald nicht ausdrücken. An den richtigen Stellen fehlen die Details, sodass man ...
Zum Schreibstil:
L. J. Shen zieht einen mit ihrem Stil sofort in ihren Bann. Sie schreibt sehr düster. Anders kann man es bald nicht ausdrücken. An den richtigen Stellen fehlen die Details, sodass man halb unwissend ist, gleichzeitig aber schnell Vermutungen anstellt. Diese Vermutungen sind jedoch meist irreführend, denn L. J. Shen erschafft immer wieder Situationen und Protagonisten, die alles andere als vorhersehbar sind. Ich habe dieses Buch mit einer Mischung aus Unglaube und Faszination gelesen. Man muss sich schon ein bisschen darauf einlassen, ansonsten wirkt es vielleicht manchmal etwas drüber. Ist man aber erst drin, lässt es einen nicht mehr los.
Zur Geschichte allgemein:
Die Geschichte beginnt in der Vergangenheit mit dem ersten und später auch nächsten Treffen der beiden Hauptprotagonisten. Mein erster Eindruck: alles sehr geheimnisvoll und Vaughn scheint echt ein böser Kerl zu sein. Ihr könnt euch darauf gefasst machen, dass dieser Eindruck euch die ganze Geschichte lang begleitet. Diese Szenen aus der Vergangenheit sorgten auf jeden Fall gleich zu Anfang für ordentlich Spannung, auch wenn ich mich erst in die Geschichte einfühlen musste. Es ist eben doch alles sehr vage und Vaughn für den Leser erst einmal ohne ersichtlichen Grund böse und unberechenbar.
In der Gegenwart angekommen, wirkt er deshalb fast deplatziert. Die Szenerie ist nämlich eine ganz normale. Wie der Titel der Reihe schon vermuten lässt, spielt es an der High School. Vaughn ist dort der typische Bad Boy. Geheimnisvoll, sexy, gut aussehend, arrogant. Allerdings eine Spur krasser. Seine Handlungen sind unberechenbar, gefühllos, haben zwar einen Zweck, sind ihm allerdings auch nicht unbedingt nützlich. Man fragt sich, was das soll. Ich kannte allerdings schon seinen Vater Vicious und generell L. J. Shens Charaktere, sodass ich einfach abgewartet habe. Ihre Charaktere fallen oft aus dem Muster, weil sie kein Gewissen zu haben scheinen. Die Beziehungen, die sie führen, ähneln schon beinahe der Dark Romance-Beziehungen. So ist es auch bei Vaughn. Man versucht natürlich, den „weichen Kern“ zu ermitteln, aber das scheint zunächst sinnlos und ist bei dieser Geschichte vielleicht auch einfach nicht angebracht. Das werdet ihr am Ende schon sehen^^
Was ich allerdings sehr interessant an Vaughn fand, war, dass er, anders als die anderen Charaktere der Autorin, erstmals psychologisch sehr geschädigt ist. Das wird nach und nach ersichtlich – zeigt sich in seinen Handlungen, Aussagen und Gefühlen. Für mich hatte er so sehr viel Tiefe. Und trotz dessen ist er eben kein weinerlicher, mitleiderregender Protagonist, sondern bleibt stets stark, scheint unberührbar. Gerade deshalb wird es irgendwann beim Lesen über ihn dann doch emotional.
Lenora ist anders. Normaler^^ Erst wirkte sie auf mich sehr verschüchtert und ich dachte: oh ha, da kommt wieder das einsame, schüchterne Mädchen, das natürlich genau die Richtige für den Bad Boy ist. Zum Glück ist Lenora in der Gegenwart bereits taffer. Sie hat früh gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen und dabei einen wirklich starken Charakter entwickelt. In so vielen Situationen beweist sie unheimlichen Mumm. Klar, sie ist an der High School und in einem entsprechenden Alter, sodass Mut ganz schnell in Dummheit umschlagen kann. Dennoch war ich oft neidisch, wie resolut und selbstbewusst sie Vaughn und den fiesen Zicken der Schule begegnet.
Sie zieht einfach ihr eigenes Ding durch und lässt sich nicht leicht beeindrucken. Damit ist sie innerhalb der Geschichte automatisch eine Außenseiterin. Ich persönlich fand jedoch, dass sie einfach jeden Tag wieder bewies, dass sie bereits erwachsener als die anderen ist.
Dennoch ist sie auch ein Mädchen, das außer Vaughn Spencer noch nicht viel Böses in ihrem Leben kennengelernt hat. So gibt es einige Momente, in denen sie dann doch wieder jünger erscheint. Für mich machte diese Zweiseitigkeit sie aber besonders interessant und passend für die Geschichte, weil auch Vaughn zwei Seiten hat, die es zu durchdringen und vor allem zu verstehen gilt. Sie passte aber auch deshalb zu Vaughn, weil auch sie ihre etwas creepy Seiten hatte. Beispielsweise im Hinblick auf ihre sexuellen Vorlieben muss man sich da als Leser schon auf etwas Ungewöhnliches gefasst machen. Wie gesagt: Dark Romance-Züge sind hier erkennbar. Wer mit solchen Fetischen oder generell mit recht krank anmutenden Szenen nicht umgehen kann, für den ist Vaughns und Lennys Liebesgeschichte wohl nichts.
Den Aufbau der Geschichte fand ich super. Man ist zwar zunächst durch die Vergangenheitsperspektiven leicht desorientiert, das bessert sich aber schnell. Danach verläuft es wirklich recht gradlinig und beinahe schon der Reihe nach. Die beiden kommen sich näher, haben ihre Problemchen und so weiter. Ihr wisst schon. Auf dem Weg dahin geschehen jedoch einige echt heftige Dinge. Vaughns Verhalten in der Schule zum Beispiel. Erstmal richtig krass und letztlich ergibt sich aber doch ein Grund dafür. Man wartet nur etwas darauf und rätselt herum. So verfährt die Autorin in diesem Buch recht oft und ich hatte leicht die Befürchtung, dass am Ende doch bloß alles heiße Luft ist. In einem anderen Buch von ihr zum Beispiel hatte ich das Gefühl, dass sie gerne alles überdramatisiert und einen Protagonisten gerne sehr gewollt „böse“ macht. Dieses Gefühl hatte ich bei Vaughn spätestens ab der Hälfte dieses Buches nicht mehr. Die Gründe für die krassen Situationen sind überraschend tiefgreifend und stichhaltig. Plötzlich konnte man alles nachvollziehen und Vaughns Verhalten wirkte einfach nur so krass, weil er seinen Gefühlen entsprechend handelt, ohne sich um die Konventionen der Gesellschaft zu scheren.
(Achtung, dahinter steckt ein möglicherweise triggerndes Thema!)
Was die sexuellen Szenen in diesem Buch angeht, so sind sie wie gesagt etwas ungewöhnlich, nehmen dafür aber nur wenig Platz in diesem Buch ein. Euch erwartet im Hinblick darauf eine riesige Überraschung, die das erklärt. Für mich war es mal eine ganz schöne Abwechslung, einen Bad Boy zu erleben, der nicht jeden Tag Sex hat. Bei Lenny und Vaughn geht es dann tatsächlich doch um etwas mehr und das merkt man auch deutlich. Sie drücken sich eben nur etwas eigen aus:)
Thematisch war dieses Buch echt interessant situiert. Beide, Vaughn und Lenny, sind Künstler und halten sich teilweise an einem Kunstinternat auf. Für meinen Geschmack hätte das im Alltag der beiden noch etwas deutlicher hervorkommen können. Ich finde nämlich immer, dass Künstler die Welt ganz anders sehen. Die Kunst findet dennoch ihren Platz in diesem Buch und hat mich gerade zum Ende hin sehr berührt.
Das Ende fand ich super passend für die beiden. Es machte mich happy, war aber auch dramatisch und verrückt genug und hat den Künstleraspekt schön aufgegriffen.
Fazit:
Ich war wirklich überrascht von dieser Geschichte. Ich habe schon einige Bücher der Autorin gelesen und war immer etwas skeptisch, was die „Bosheit“ der Protagonisten angeht. Klar, auch auf dieses Buch, auf Vaughn speziell, muss man sich wieder etwas einlassen, aber das Buch hatte letztlich doch erstaunlich viel Tiefe und hat mir bewiesen, dass die Autorin auch anders kann. Und vor allem, dass ein Bad Boy nicht ein Bad Boy ist. Es war mitreißend, schockierend und super lesbar. Eine super Mischung.
5 von 5 Sterne von mir.