Ein Roman, der mein Innerstes berührt hat
Shuggie BainShuggie wächst im Glasgow der Achtzigerjahre auf. Ein Leben zwischen den schäbigen Arbeitersiedlungen und der Ungewissheit, ob es am Ende der Woche noch genug zu Essen geben wird. Denn Shuggies Mutter ...
Shuggie wächst im Glasgow der Achtzigerjahre auf. Ein Leben zwischen den schäbigen Arbeitersiedlungen und der Ungewissheit, ob es am Ende der Woche noch genug zu Essen geben wird. Denn Shuggies Mutter hat ein Problem, ein Problem, das mehr und mehr Geld verschlingt und den Familiensegen mehr und mehr zerstört. Doch Shuggie hat auch noch ein anderes Problem. Er schafft es nicht, den männlichen Idealvorstellungen der Arbeitergesellschaft gerecht zu werden, und landet so immer weiter am Rande des erträglichen Lebens. Geschlagen und getreten, wie es sich für jemanden gehört, der nicht normal ist. Doch der Junge hat noch einen Stern an seinem Himmel. Seine Mutter, deren Schönheit er idealisiert, auch wenn sie droht, ihn in den Abgrund ihrer eigenen Probleme mit hinab zu reisen.
Ich war unglaublich gespannt, auf die Geschichte, da ich die sozialen Brennpunkte der britischen Industriezentren zur Zeit von Thatcher extrem interessant finde, selbst aber viel zu jung bin, um diese selbst wahrgenommen zu haben. Und gerade diese Milieustudie ist extrem gut und anschaulich gelungen. Gepaart mit einem Schreibstil, direkt, einvernehmlich und voller Schmerz, wird diese Epoche und ihre Probleme deutlich greifbar. Massenarbeitslosigkeit trifft auf veraltete Rollenbilder, sodass als Endergebnis finanzielle Abhängigkeit und Armut unbarmherzig zuschlagen. Thematisch werden auch noch andere gesellschaftliche Probleme wie Homophobie, toxische Männlichkeit und Alkoholmissbrauch in die Geschichte miteingeflochten, immer wieder in den Fokus gerückt. Insgesamt bildet sich ein erdrückendes Gesamtkonstruckt, depressiv und ohne jede Hoffnung auf Besserung. Hinzu kommen noch die Nebencharaktere, die beispielgebend für die Doppelmoral dieser Gesellschaft sind. Herablassend werden die eigenen Unzulänglichkeiten und Inkompetenzen unter den Teppich gekehrt und diejenigen, die es wagen, die Pfade der gesellschaftlichen Zwangsvorstellungen verlassen, mit beißendem Spot übergossen. Extrem gut gelungen sind auch die Protagonist:innen. Shuggie, seine Mutter, sein Vater und sein Bruder sind extrem facettenreich gestaltet, einzigartig und extrem authentisch in ihrer Geltungssucht und ihren Problemen. Auch die Konflikte, die inneren und die äußeren sind von einer überzeugenden Authentizität, sodass sie dieses triste Stimmungsbild noch weiter verstärken. Besonders intensiv wird neben Alkoholismus in allen Stadien auch Homophobie aufgegriffen, und zwar in einem Ausmaß, mit dem ich vor Lesebeginn noch nicht gerechnet habe. Hier werden dieses gesellschaftliche Problem so akribisch aufgegriffen, dass es beim Lesen schon wehtut, und man dermaßen froh ist, bis jetzt sich nie in vergleichbaren Situationen wiedergefunden zu haben. Gerade diese Homophobie und der Alkoholismus haben an Tagesaktualität in keinster Weiße eingebüßt, womit der Autor eine Brücke in die Gegenwart schlägt. Einzig und alleine die Übersetzung hinkt hinsichtlich des Slangs der Unterschicht ein wenig, allerdings in einem Maße, dass ich mich beim Lesen nicht eingeschränkt gefühlt habe. Trotzdem ergibt sich bei den Dialogen und Monologen ein Gefühl davon, in welchen gesellschaftlichen Kreisen sich die Geschichte bewegt.
Im Nachhinein, nachdem ich die Geschichte noch ein wenig nachklingen habe lassen, kann ich sagen, dass es sich um eine außergewöhnliche Milieustudie gepaart mit Kritik an dem niederträchtigen Umgang gesellschaftlicher Probleme handelt, deren Lektüre sich zwar eindeutig lohnt, aber definitiv schwere Kost ist.