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Veröffentlicht am 11.01.2019

Schall und Rauch

Ich müsste lügen
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Warum nur ist dieser Autor nicht bekannter???
So etwas intelligentes, unterhaltsames, doppelbödiges von einem Buch, so viele treffende Bemerkungen, so eine Vermischungen verschiedener Genres, das muss ...

Warum nur ist dieser Autor nicht bekannter???
So etwas intelligentes, unterhaltsames, doppelbödiges von einem Buch, so viele treffende Bemerkungen, so eine Vermischungen verschiedener Genres, das muss doch auffallen. Also von vorne.

Der 23jährige Manuel Schall wird von seiner Mutter vermisst gemeldet. Kommissarin Eva Rauch bearbeitet diesen Fall (Schall und Rauch also…Autor Popp muss sich ins Fäustchen gelacht haben). Der junge Mann hat für den bekannten Schriftsteller Herbert Will gearbeitet, als so eine Art … Assistent-Muse-Sujet. Ja, genau. Ich sehe in der Rolle des Will irgendwie einen noch etwas jüngeren Jack Nicholson, nach Shining, vor den Hexen von Eastwick – ein wenig diabolisch und (ja, und. Wem da nix einfällt, für den wirkt das Nicholson-Bild ohnehin nicht). Fortan vermischt sich in der Erzählung so einiges – da vermischen sich Genres (Polizeiberichte, Zeitungsausschnitte, Tagebücher,…), da liest die bibliophile Kommissarin sich auf der Suche nach Hinweisen durch Wills Werke, versinkt teils so in dieser Welt, dass für sie Wahrheit und Fiktion nicht mehr klar abgegrenzt erscheinen. Schreibt Will ihre Realität? Warum empfiehlt ihre Buchhändler-Freundin explizit keine Will-Bücher, zum Wohle ihrer Kunden?

Ich bin begeistert, wiederum, von Wolfgang Popp, den ich mit „Wüste Welt“ entdecken konnte (ähnlich empfehlenswert, ähnlich doppelbödig, wenn auch sehr subtil). Die beiden Bücher sind die beiden Endpunkte einer Art loser Trilogie – absolut ohne gleiche Personen und eher hinsichtlich des Wirklichkeitsansatzes zusammengehörig, wie ich ohne Kenntnis des Bandes zwei jetzt vermute. Sprachlich ist der Text, Popp immer, die reine Freude. Da wird die Kommissarin beschrieben durch „Während sie in Wills Roman weiterlas, rührte sie gedankenverloren in der Tasse. Nicht, dass Zucker in der Tasse gewesen wäre, sie hasste gesüßten Kaffee, aber das Rühren gehörte zum Frühstück, genauso wie der Espresso selbst, die Zigarette oder ein grüner Apfel. Manchmal fehlte der grüne Apfel aber auch.“ S. 23. An die Tür heften würde ich mir, als Haustier-Besitzerin und Christin völlig ungerührt, aber: „Tierfreunde und Gläubige tickten ja auch ähnlich. Beide redeten sie ins Blaue hinein. Die einen mit etwas, das sie nicht verstand, die anderen mit etwas, das es nicht gab.“ S. 67 Herrlich! Nicht meine Meinung, aber absolut köstlich!

Für wen ist das etwas? Das ist etwas ganz eigenes – ich dachte zwischendurch an „Mr Gwyn“, „Sophies Welt“ und an „Das Bildnis des Dorian Gray“, um so eine Richtung anzudeuten, wie gesagt, aber dabei ganz eigen. Und ganz genial. Leseempfehlung für den Österreicher.

Musik dazu und daraus:
https://www.youtube.com/watch?v=cC4SBm7gQys Morrissey You have killed me
Und: O fortuna, Carmina Burana (persönlicher Tipp: Alles davon!) Als Idee für die Untermalung zum Sex definitiv mal etwas anderes als "You can leave your hat on"

Veröffentlicht am 11.01.2019

Kann man durchaus lesen, nur ist das Original halt so verdammt gut...

Verschwörung
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Investigativjournalist Mikael Blomkvist wird in aller Öffentlichkeit als ausgebrannt verhöhnt, gleichzeitig ist seine Zeitschrift Millennium in großen Schwierigkeiten: es fehlt der zündende Artikel, von ...


Investigativjournalist Mikael Blomkvist wird in aller Öffentlichkeit als ausgebrannt verhöhnt, gleichzeitig ist seine Zeitschrift Millennium in großen Schwierigkeiten: es fehlt der zündende Artikel, von Mikael kam lange nichts, die Abonnentenzahl sinkt, der zuerst kooperative Investor zieht die Daumenschrauben an. Da bringt ein Anrufer Mikael den Tipp, sich unbedingt mit dem Zahlengenie und Experten für Künstliche Intelligenz Frans Balder zu treffen: dieser habe Unglaubliches zu berichten. Frans Balder hat Angst und sein Haus in eine Festung zu wandeln versucht. Seinen Rechner jedoch wollte er genauer überprüfen lassen und ist so bei Lisbeth Salander gelandet. Bald führen die Ereignisse zu einem kleinen Jungen mit besonderen Begabungen, einem trinksüchtigen Schauspieler, einem Hacker-Angriff auf die NSA, einer verschlüsselten Datei und einer Geheimorganisation, die keine Skrupel kennt.

Dieser Band ist der erste „nach“ Stieg Larsson. Der Investigativjournalist hatte den Sensationserfolg seiner drei erst postum veröffentlichten Kriminalromane (Millenium-Trilogie) nicht mehr miterleben können, nachdem er 2004 plötzlich gestorben war. Geplant waren tatsächlich zehn Bände, einige als Exposé vorliegend, der vierte fast fertig. Der Verlag entschied sich zu einer Fortsetzung, ohne Zustimmung von Larssons Lebensgefährtin, jedoch mit der seiner gesetzlichen Erben, seines Vaters und Bruders. Der Band erschien ohne Verwendung des vorliegendes Entwurfs im Jahr 2015 als "Det som inte dödar oss" (= Was uns nicht umbringt; deutscher Titel: „Verschwörung“ – vergleiche https://de.wikipedia.org/wiki/Stieg_L...

Wie lässt sich das nun lesen beziehungsweise hören? Ich fand, gut. Ich hatte durch Zufälle beziehungsweise durch die völlig sinnbefreiten deutschen Titel alle Bände durcheinander gehört und gelesen (wie soll man aus den Titeln auf den Inhalt schließen?? Die Originaltitel ermöglichen das) und so den fünften Teil vor diesem vierten gehört und den fünften als richtig schlecht gefunden, die „Original-Trilogie“ jedoch als richtig gut. Das hier ist nun nach meiner Meinung recht anständig, verliert nur im Vergleich mit dem besseren Original.

Was ist anders? Es gibt weniger Plot-Twists (gab es eben gerade überhaupt einen?), der bei Larsson deutlich spürbare Feminismus fehlte (wurde aber nicht durch Macho-Tum ersetzt, immerhin), Lisbeth ist irgendwie zahmer, Erika Berger auch, Harriet nur mehr eine Randfigur. Es fehlt dringend der Hinweis auf Product Placement, noch mehr „Samsung Phon“ ging nicht (in Büchern hatte ich das noch nie so heftig). Dafür fehlten die teils etwas betulich wirkenden Beschreibungen der Informationstechnologie der Originale zugunsten etwas besser gewählter Beschreibungen. Ein Teil des Endes behält sich eine Wiederaufnahme vor, was hier auf mich lahm wirkte. Und hat eigentlich jemand verstanden, was die bösen Bösen denn nun wollten, also, was sie damit anzufangen gedachten (vielleicht ja, erinnernd an eine Gedankenspielerei zwischen Lisbeth und Mikael, selbst bald ersetzt werden)? Die Einbeziehung der USA und eines deutschen Reiseziels wirkten auf mich als Versuch von Extra-Streicheleinheiten für treue Leser.

Ich empfehle übrigens die älteren Ausgaben dieses (Hör-) Buchs - die 2018er Ausgabe zur Kinoversion enthält so ein typisches "Achtung, es gibt jetzt einen Film" - Cover. Ich gehöre zu denen, die Bücher einer Serie gerne erkennbar zur Serie gehörig vor sich haben, das Kino-Cover finde ich schlicht lächerlich (in "The Crown hingegen darf mir die Schauspielerin gerne begegnen). Aber das ist sicher Geschmackssache.


Wie gesagt, im Vergleich – ohne den hätte ich hier „sehr anständig“ geschrieben. So hoffe ich eigentlich auf irgendwann eine Einigung der Erben/des Verlags/der Lebensgefährtin zu den Entwürfen….

Fazit: kann man lesen, kann man durchaus lesen/hören. Den nächsten Teil muss man eher nicht lesen…

Grandios ist wie gehabt, wie Dietmar Bär das liest. Er verleiht jeder Person ihre eigene Stimme, ich könnte ihm immer weiter zuhören. 6 Sterne hierfür.

4 Sterne insgesamt.

Veröffentlicht am 20.12.2018

Das Dreckschwein

Der Mann am Grund
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Tschechien im Hochsommer. Zwei junge Männer finden beim nächtlichen Bad ein Auto am Grund des Sees, darin einen toten Mann. Osvald Zapletal ist Polizist gewesen – da sollte der ermittelnde Kriminalrat ...

Tschechien im Hochsommer. Zwei junge Männer finden beim nächtlichen Bad ein Auto am Grund des Sees, darin einen toten Mann. Osvald Zapletal ist Polizist gewesen – da sollte der ermittelnde Kriminalrat Marián Holina hauptsächlich Kriminelle als Täter vermuten. Doch Zapletal hatte „besondere Methoden“, Leiche, Wohnung und Auto ergeben überraschende Hinweise und somit haben Holina und Neuling Diviŝ Mrŝtík bald mehr Verdächtige und Verdachtsmomente, als ihnen lieb ist.

Dieser klassische Whodunnit ist in Prag und Umgebung angesiedelt, mit dem entsprechenden Lokalkolorit gerade bezüglich des Essens (ich habe selten so viel Appetit auf Knödel in allen Geschmacksrichtungen gehabt wie durch die Begleitung des permanent Hörnchen-bewertenden Holina). Dabei wird auch auf die Nuancen eingegangen, Holina ist gebürtiger Slowake mit einigen ungarischen Vorfahren, der nun einmal in Tschechien arbeitet – somit erfährt der Leser gängige Vorurteile (was mir im Gegensatz zu politisch korrekt überarbeiteten ähnlichen Werken dann vielleicht als „unschön“, aber doch realistisch erscheint). Da werden dann tschechische Wörter und ganze ungarische Sätze unübersetzt eingeworfen – ich hätte mir Fußnoten gewünscht, aber es gibt ja Google.

Mit den Namen tat ich mich überraschend wenig schwer, eher mit der für mich völlig ungewohnten Setzung von Akzenten – und wie spricht man das aus, was für einen Deutschen als gewisser Mangel an Vokalen erscheint?? Die Handlung folgt den Ermittlern bei der Fußarbeit, bei der Zusammenarbeit mit diversen Kollegen (Spurensuche, Obduktion,…), bei der Fall-Diskussion und, für Holina, in Ansätze des Privatlebens. Zwischendurch wechselt die Perspektive zum Umfeld des Toten, wodurch der Leser permanent einen Wissensvorsprung hat. Das lässt sich gut und oft humorig lesen, ist aber vielleicht das einzige Manko des Buches: ich hatte das Gefühl, zu viel zu wissen. Und wer Krimis regelmäßig liest, hat natürlich eine Vorstellung, was Tagebuchauszüge aus Täterperspektive zu bedeuten haben oder vorgesetzte Kapitel aus der Vergangenheit. Hier sind sie vielleicht ein Wink mit etwas zu vielen Zaunpfählen.

Darüber hinaus erprobt der Kriminalrat gerade, sich verliebt zu haben und die Anwendung der Astrologie als Teil der Tat-, Täter- und Opferpsycholgie. Ich kann mit Astrologie eher wenig anfangen, finde aber ihre Passung auf Charaktereigenschaften der verschiedenen Sternzeichen mindestens unterhaltsam, häufig verblüffend (also wirklich die eher groben Astrologie-Zusammenfassungen). Das hier eingesetzte Wissen ist wohl recht in die Tiefe gehend – ich hatte so ein wenig das Gefühl wie bei „Star Trek“, die Delizium-Kristalle in der xy-Matrix sind dingens-giziert: ich verstand nix. Das muss man mögen oder es zügig überlesen, ich bin da etwas gespalten. Der Schreibstil und die Personenzeichung gefielen mir – ansonsten hat mich das Ende unerwartet überrascht hinsichtlich der Tatausführung, während mir der Täter schon etwas früh im Sinn war. Bei den speziellen Methoden bin ich eher unglücklich darüber, dass hier ein System entdeckt wird, wie es ähnlich Männer vom Kaliber Harvey Weinsteins praktizierten – sexuelle Straftaten inklusive. Jeder Ermittler sieht hier nach der x-ten Aufdeckung jedoch nicht zuerst potentielle Opfer in den Frauen aus dem Umfeld, sondern vermutet durchgängig Liebesbeziehungen. Das Männer- und Frauenbild mag ich dann so nicht wirklich – oder soll mir das auch einen Einblick in das moderne Tschechien vermitteln?

Ich würde einen zweiten Band gerne lesen wollen, dabei aber schlicht einen Hauch mehr erwarten. Ansonsten war es schön, mal einen Krimi abseits der üblichen Verdächtigen zu lesen, der den Fokus auf eines der anderen europäischen Länder lenkt.
Verdiente 4 Sterne.



Die Musik zum Buch:

Jazz von Jaroslav Ježek https://www.youtube.com/watch?v=GQn2HHt59sU&start_radio=1&list=RDEMcu3e-Xp2wXj0e83hhAKNpw

Veröffentlicht am 08.12.2018

„Ich vermisste plötzlich alles, was nicht stattgefunden hatte.“

Ein Winter in Paris
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„Ich vermisste plötzlich alles, was nicht stattgefunden hatte.“ S. 128


"Ein Schrei.
Kurz.
Durchdringend.
Ein dumpfer Knall." S. 31
Schreiben mithilfe von Zeilenwechseln. Ein Selbstmord.

Es ist für Victor, ...

„Ich vermisste plötzlich alles, was nicht stattgefunden hatte.“ S. 128


"Ein Schrei.
Kurz.
Durchdringend.
Ein dumpfer Knall." S. 31
Schreiben mithilfe von Zeilenwechseln. Ein Selbstmord.

Es ist für Victor, den Ich-Erzähler, das zweite Jahr der Vorbereitungsklasse für den Zugang, den Concours, auf eine der französischen Elite-Universitäten, Paris. Victor kommt aus der Provinz, der erste Student aus seiner Familie. "Ich begriff schnell, dass mir die Zugangscodes fehlten: kulturell, sprachlich und die Kleiderordnung betreffend." S. 20

Victor wollte gerade Mathieu einladen, "Vielleicht wäre es ganz nett, meinen Vorschlag anzunehmen und in den nächsten Ferien mal zusammen auszugehen. Genau. Sicher ganz amüsant. Unterhaltsam und inspirierend. Kein Stöhnen und kein Zaudern. Ich musste diese Richtung einschlagen, um das zu werden, was ich nie war - beliebt." S. 38 Er selbst ist für die Kommilitonen unsichtbar – erst nach dem Selbstmord von Mathieu, mit dem er nur beim Rauchen einige Worte wechselte, wird er für die anderen sichtbar, interessant. Jean-Philippe Blondel nutzt Satzlängen, für das Überlegen, das Zaudern, das Sich-Selbst-Bekräftigen, er nutzt Zeilensprünge, er schreibt in sehr poetischen, eindringlichen Bildern.

Victor ist ein Suchender auf ihm unbekannten Wegen, ohne viel eigene Initiative „Und außerdem bewege ich mich in einem Umfeld, das weder meine Eltern noch mein Bruder jemals kennenlernen werden … . Ich ebne mir meinen Weg.“
„Und mich hast du unterwegs aufgelesen und nimmst mich ein Stück mit?“
„Ich würde eher sagen, dass du am Steuer sitzt, oder?“ S. 76

Ich fand das Buch beim Lesen wunderbar, direkt danach und dann nochmals im Rückblick. Für mich ist das ein Text zum langsamen Lesen, zwischendurch hinlegen und hinterher darüber nachsinnen. Der Stil ist poetisch, aber leicht lesbar, den Grundton fand ich melancholisch, definitiv Winter, nicht Sommer, November, dann Februar, wie in der Handlung, melancholisch, aber nicht deprimierend. Victor ist erst unsichtbar, dann sichtbar als jemand anderes, Projektionsfläche. Dennoch bleibt er fähig, das Geschehene zu beurteilen, zum Beispiel im Gespräch mit Mathieus Vater, im für mich schönsten Satz aus dem Buch:
„Zeitweise zog er sich innerlich zurück, dann war Ebbe, und ich konnte am Strand der Sätze spazieren gehen, die wir ausgetauscht hatten, die Spuren im Sand betrachten, bevor sie weggespült wurden, den Geräuschen des Windes lauschen, das Gesagte noch einmal überdenken.“ S. 113

Ein wunderschönes Buch über die offenen Fragen des Lebens, gleichzeitig ein Buch über die Unterschiede zwischen Paris und dem Umland, soziale Zugehörigkeiten. Unter https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/ein-winter-in-paris/978-3-552-06377-8/ findet sich ein Interview zum Hintergrund, danke @parden.

5 Sterne.

Veröffentlicht am 08.12.2018

Lost

Stieg Larssons Erbe
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In Kürze: Sachbuch. Komplex, mit sehr vielen Personen und Zusammenhängen. Thema ist die journalistische Investigation zum Mord an Olof Palme. Der Journalist Jan Stocklossa recherchierte zu dem Thema und ...

In Kürze: Sachbuch. Komplex, mit sehr vielen Personen und Zusammenhängen. Thema ist die journalistische Investigation zum Mord an Olof Palme. Der Journalist Jan Stocklossa recherchierte zu dem Thema und nahm das Archiv Stieg Larssons als Ausgangspunkt (ja, der Autor der „Millenium-Reihe“ um Lisbet Salander und Mikael Blomkvist war „eigentlich“ Journalist). Wegen der Komplexität erfordert das Buch politisch-geschichtliche Vorkenntnisse – dann liest es sich jedoch sehr spannend, wenn auch gelegentlich etwas sperrig.

Am 28. Februar 1986 wurde Olof Palme, damals Regierungschef Schwedens, erschossen – wer nicht ausreichend politisch interessiert ist, um davon mindestens gehört zu haben, für den ist das das falsche Buch. Ich gehe sogar soweit, dass ich der Ansicht bin, dass man die politische Lage der Zeit mindestens grob skizzieren können sollte, um den Text in einen sinnvollen Zusammenhang stellen zu können: Apartheid, geteiltes Deutschland, Iran-Contra-Affäre, der vergangene Vietnamkrieg, Abrüstung, Kalter Krieg, Iran-Irak-Krieg, RAF, Ronald Reagan, Helmut Kohl, Margaret Thatcher. Ich war damals ein Teenager und habe das in den Nachrichten mitbekommen und zufällig vor nicht allzu langer Zeit eine Dokumentation im Fernsehen gesehen, die auf gewissen Ungereimtheiten hinwies (wer sich auf den aktuellen Stand bringen will – unten habe ich einige Links gesammelt).

Autor Jan Stocklossa hat eine Darstellung für das Buch gewählt, an die ich mich zunächst gewöhnen musste: das gibt es romanhafte Passagen, die die Handlung aus der Sicht von Stieg Larsson beschreiben – vermutlich den vielen Fans geschuldet; gleichzeitig empfand ich diese Teile als am einfachsten nachzuvollziehen. Dann gibt es die „Quellen“, Transkriptionen von Interviews oder heimlichen Mitschnitten, Briefe, Akten, Zeitungsausschnitte, Skizzen. Speziell die Briefe Larssons erzeugten bei mir eine etwas unheimlich wirkende Authentizität – leider hat man einen Schrifttypus gewählt, der die damalige Schreibmaschine darstellen sollte, aber einfach nur sehr schlecht lesbar ist (lieber Verlag: ich besitze noch alte Schulaufsätze von der Schreibmaschine geschrieben – das wäre in der Allgemeinheit nie nutzbar gewesen bei derart schlechter Qualität). Insgesamt kann man sich anhand der Quellen sehr gut in die Zeit zurückversetzen; die Notwendigkeit zum Briefweg, zu Durchschlägen im Vergleich zu heutigen Kopien oder Mail verdeutlichen die Unterschiede zum Heute zusätzlich.

Dazu kommen dann im Buch noch meist kurze Kapitel zum Fortschritt der Untersuchung des Mords - und diese fand ich teilweise problematisch. Da wird häufig eine Personen- und Faktenflut gelistet, das nächste Kapitel hat wieder einen anderen Fokus, dann geht es vielleicht vier Kapitel weiter mit einigen der Personen weiter. Darunter litt teils mein Durchblick, nach anfänglichem Zurückblättern konnte ich mich daran jedoch gewöhnen. Guter Stil ist es dennoch nach meiner Meinung nicht. Überhaupt, Stil: Gerade diese Kapitel kranken häufig an etwas, was in jedem Schulaufsatz angestrichen würde: Bezug, wo ist der Hauptsatz, Anschluss:
S. 297 „Sein Leben war 1986 erstarrt auf dieser Insel, frühere Taten verbüßt. Gestrandet in einem Land, das es offiziell nicht gab, in einem Haus, das langsam verfiel und zuwucherte.“ Warum wird hier ein Punkt statt eines Kommas gesetzt? Derlei Sätze gibt es viele.
Ähnlich mit der heißen Nadel gestrickt wirkt „er war Waffenexperte und verkaufte diese“, wen verkaufte er, die Waffenexperten? Wenn hier nicht das schwedische Lektorat geschlampt hat, war es das nach der deutschen Übersetzung.

Auf den eigentlichen Inhalt möchte ich bewusst nicht eingehen – es gibt kaum ein Buch, beim dem man ähnlich leicht viel zu viel verraten könnte. Was mir wichtig ist: ich neige nicht so sehr zu Verschwörungstheorien, ob das Bernsteinzimmer noch in irgendjemandes Haus aufgebaut ist oder Marilyn Monroe von der CIA ermordet wurde, würde mein Weltbild nicht durcheinander bringen, ist mir aber auch keine Lebenszeit wert. Stocklossa schafft es, den schmalen Grat zwischen Wahrheitssuche, Besessenheit und Verschwörung zu balancieren. Für Fans der Millenium-Bücher dürfte interessant sein, wie viele Parallelen in die journalistische Arbeit von Larsson es gab – ich werde wohl die Reihe nochmals im Licht dieses Buches lesen.

5 Sterne trotz der genannten Abzüge wegen Stil und Form – da ich schlicht nicht zu beurteilen vermag, ob diese Stocklossa anzulasten sind oder der Übersetzung. Schweden vor, das würde mich interessieren!

Zum Einstieg/Überblick:
https://de.wikipedia.org/wiki/Olof_Palme
3sat 43min-Doku https://www.youtube.com/watch?v=RE039RYTBE0

Zu den Themen im Buch:
u.a. Foto von Craig Williamson https://www.stern.de/panorama/mordfall-olof-palme--neues-buch-koennte-helfen--das-30-jahre-alte-raetsel-zu-loesen-8433034.html
Fotos von Larsson und seinem Archiv, Stocklossa, Alf Enerström, Jakob Thedelin https://www.stern.de/panorama/weltgeschehen/was-thrillerautor-stieg-larsson-ueber-den-mordfall-olof-palme-herausfand-8460786.html