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Veröffentlicht am 27.11.2018

„Was ist so falsch daran, wenn einer rauswill aus’m Dreck?“

Der Platz an der Sonne
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S. 478 „Was ist so falsch daran, wenn einer rauswill aus’m Dreck?“

Nichts. Erst mal.

In Europa ging alles den Bach runter, in einer alternativen Entwicklung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (warum ...

S. 478 „Was ist so falsch daran, wenn einer rauswill aus’m Dreck?“

Nichts. Erst mal.

In Europa ging alles den Bach runter, in einer alternativen Entwicklung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (warum und wie, wird erklärt). Afrika ist reich (warum und wie, aus all den Überresten der Kolonialzeit, der Zersplitterung - wird nicht erklärt). Josua Brenner lebt in Berlin - er ist Ich -Erzähler und schreibt auf, wie sein Leben in Berlin verlief, bis er dort genug hatte.

Die Realität sieht unter anderem so aus: Wir kaufen in Europa vom Geflügel die zarten Teile, den Rest schaffen die Erzeuger gerne billig nach Afrika. Keine Chance für die heimischen Landwirte dort. Wir wollen Fisch - also wird mit riesigen Pötten vor Afrika gefischt und die heimischen Fischer müssen für immer weniger immer weiter raus. Wir schaffen da unseren Computerschrott hin, unsere Altautos (o.k., es gibt keine afrikanischen Autohersteller meines Wissens - aber wir diskutieren hier Schadstoffe und schaffen den Schrott weiter in die Welt??). Für Touristen wird in armen Ländern eine Parallelwelt geschaffen mit einheimischem Personal, aber nicht gerade betrieben von einheimischen Firmen. Dazu die Ausbeutung von Rohstoffen und seltsame "Entwicklungshilfe", die meist eher Subventionierung der jeweiligen Industrie der Länder ist, aus denen die Hilfe kommt.

Also sind "wir" nicht so ganz unbeteiligt daran, dass die Menschen z.B. in Afrika nicht gut leben können sprich: an den Flüchtlingsströmen.

Solche Hintergründe finde ich im Roman nicht - das halte ich aber für wichtig, es soll ja wohl eine Darstellung sein, die Afrika und Europa quasi vertauscht, uns den Spiegel vorhält.

„Was ist so falsch daran, wenn einer rauswill aus’m Dreck?“

Naja - im Buch haben nur die Schlepper etwas von dem Bestreben, aus dem Dreck heraus zu wollen. In der Realität immer auch die, aber sicher ebenso Organisationen, die Eingliederungs- und Sprachkurse anbieten, Privatleute, die teils Schrottwohnungen für Flüchtlinge herrichten, Obstplantagen im Süden mit Zuständen, die eher Sklaverei sind (ich rede NICHT von den freiwilligen Helfern). Keine Sprachkurse, keine Wohnungen sind auch keine Alternative. Aber so eine "Industrie" gab es schon mal, als man mit Verschrottungsprämien die Autoindustrie stützte (die haben das so in die Preise eingerechnet, dass man da ohne Verschrottung besser kein Auto kaufte) oder als man die Selbständigkeit förderte (Ich-AG, Gründungs-irgendwas - jede Menge Kurse rings um die Ämter, privat, aber quasi mit Job-Garantie). Ich finde die Ausbeutung gut dargestellt, aber längst noch nicht detailliert genug. Es gibt Leute, die haben ein Interesse daran, dass es Flüchtlinge gibt - das ist deren Geschäftsmodell!

Für mich ist das Asylrecht unanfechtbar - es wurde nach WWII so geschaffen, weil Juden, die aus Deutschland flohen, häufig nirgendwo angenommen wurden.

Im Buch geht es um Migration ohne Verfolgung - Torkel zeigt auf, wie mies die Ausnutzung unterwegs ist. Einverstanden - dagegen. Ich hatte vorher schon eine Reportage von der Behandlung von Flüchtlingen auf Obstplantagen im europäischen Süden gesehen - das ist Sklaverei, es gibt da nicht im Ansatz ausreichend Bekämpfung. Aber noch wichtiger wäre die Bekämpfung von Fluchtursachen. Was soll denn passieren, wenn primär die jungen Männer gehen? Wie sollen die am Ziel wirklich "ankommen"? Es gibt jetzt schon in Europa, im Osten, ganze Gegenden, da haben die Eltern im "Westen" Arbeit und die Kinder werden von Großeltern erzogen (in Afrika gab es das bislang "nur" bei AIDS-Waisen - wohin führt das noch "obendrauf"?). Mit wem verhandeln unsere Regierungen in Ländern mit Korruption, wegen "der Stabilität"? Wie sollte Entwicklungshilfe stattfinden? Brauche ich T-Shirts für 2,-? Deutschland vergreist, braucht Fachkräfte - also ein "Brain-Drain" in den Herkunftsländern und noch mehr Fluchtgründe? Gegen das elendige Absaufen im Mittelmeer freie Flüge - und dann ist das Geschäftsmodell der Schlepper vielleicht Erpressung, "ich beschieße eure Flüge oder ihr zahlt", ähnlich der Piraterie vor Afrikas Küsten?

(und nein, eine Lösungsidee habe ich nicht - nur Baby-Schritte, wie ein Verbot des Verkaufs von Kleiderspenden und Altkleidern nach Afrika oder die Fischerei zu verhindern, die Kleinfischern die Lebensgrundlage entzieht und eine Aufstockung von Entwicklungshilfe, ECHTE Unterstützung statt Hilfe von oben herab)

Ich kann mich darüber hinaus insofern nicht mit Josua identifizieren, weil ich seinen Weggang nicht nachvollziehen kann (gefühlt hat der Autor so etwas geahnt und deshalb den Unfall mit Todesfolge eingebaut - interessant, dass der später unwichtig gewesen zu sein scheint). Josua wollte in Berlin mit den großen Hunden bellen - und musste dafür das Beinchen heben. Schutzgelderpressung kann einem Gaststättenbetreiber wohl leider auch heute begegnen, oder Anwohner klagen ihn zu. Der wäre ebenso im "realen" Deutschland verdammt naiv an die Sache herangegangen. Ich schaffe es nicht, mich in "seine Schuhe" zu stellen.

Also: "guter Ansatz" (netter Ansatz, so weit hinunter würde ich nicht gehen). Ich fand die Flüchtlingsthematik in "Exit West" von Mohsin Hamid besser angedacht, geschickter im Fabulieren von Möglichkeiten, Wirkungen, Gefahren, Ideen. Mir geht Torkler nicht weit genug zu den Ursachen (gut ist hier "Das Meer" von Fleischhauer, allerdings eher ökologisch, nur zum Teil zu den Menschen), er geht mir nicht weit genug zu den Begleitumständen, der Bekämpfung von Flucht zuungunsten einer gewissen Naivität, die rein auf Sympathie abzielt. Herrje, muss man wirklich begründen und aufbauen wie im Buch, dass/damit man Sympathie, Mitgefühl mit jemandem empfindet, der alles hinter sich lässt, sein Leben riskiert? Mit einer Lösungsidee hatte ich auch nicht gerechnet, aber mit irgendetwas, was mir noch neu war. Der vorgehaltene Spiegel ist mir zu stumpf.

Guter Ansatz, nicht ausreichend gut etwas daraus gemacht. 3 Sterne

Veröffentlicht am 27.11.2018

Der Fall des verschwundenen Buchhalters

Ein notwendiges Übel
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Ich habe die englischsprachige Original-Ausgabe gelesen, "A Necessary Evil".

The Case of the Missing Accountant (my title was picked as an hommage to the Queen of Crime)

Der Fall des verschwundenen ...

Ich habe die englischsprachige Original-Ausgabe gelesen, "A Necessary Evil".

The Case of the Missing Accountant (my title was picked as an hommage to the Queen of Crime)

Der Fall des verschwundenen Buchhalters (Titel als Hommage an die Queen of Crime). Deutscher Text unten.

June, 1920, Calcutta. If your day includes witnessing that somebody gets murdered, that is probably not one of your best days. This is even more true if you are a member of the Imperial Police Force (that means, be part of the British reign over India) and can neither prevent the evil act from happening nor arrest the assassin. After Captain Sam Wyndham and Sergeant Surendranath “Surrender-not” Banerjee have attended an official ceremony, Wyndham is surprised to learn that his Indian subordinate, good friend, and room mate is actually the friend to a prince, son of the Maharaja of Sambalpore. When Prince Adhir get assassinated with the two policemen just next to him, naturally they wish to solve the case. But right now, the British officials in India try to bring Sambalpore closer under their influence. They do not want to stir just anything while they to set up the “Chamber of Princes” as an Indian House of Lords to suppress talks about Home Rule (India ruled by Indians). So when Wyndham and Banerjee embark on a trip to Sambalpore, they go without backup, beyond their legislation, and, furthermore, into an alien world of political ploys, intrigue, political and commercial negotiations, and shifting allies.

The book is second in a series but could be read on its own, the references to the first case hardly exist (a few “old dislikes” are mentioned but then, so are Wyndham’s experiences in the “Great War”). The references to the general political background are way less then in the first book – this makes it an easier read, but slightly less profitable in turns of learning about Anglo-Indian history. You still get a lot of an understanding about the situation of the Maharajas, the Princes States, the mutual dislike towards mixed relationships, the atmosphere, the British government trying so desperately to keep their influence that they willingly will look the other way if needed. The allusions to Gandhi and the Congress Party make me hope for a next book to cover that topic.

First-person narrator Sam Wyndham takes you directly along. I felt his tone was a bit less Sam-Spade/Marlowe/Bogart-style than in the first book, but still the general tone is laconic at best, often cynical. “It’s a fact of nature that an Englishman abhors sharing his intimate thoughts. It’s why we accepted the Reformation so readily: we find it difficult to confess, even to a priest.” P 265 The mystery unwinds slowly, with lots of weather and nature and protocol and personal issues to keep in mind. I still liked the book, but found this weaker than the first: a bit too much craving, for Annie to care, for the weather and food to become more bearable, for “O”, for a clue, for an appointment with somebody. The case is somewhat the anti-thesis to a Hercule Poirot – crime: lots of speculations, lots of wild shots from Wyndham, lots of action in reaction to his guesses. The frustration is tangible. Probably very apt for the given (political and personal) situation.

It was still above the average, but had some lengths. The actual case felt less in focus than the display of the general situation – that part was fine with me but will probably suit the standard mystery reader less than the reader of history fiction. 4 stars.

Juni 1920, Kalkutta. Falls der Tag einen zum Zeugen eines Mordes macht, ist das wahrscheinlich nicht der beste Tag. Das stimmt um so mehr, wann man ein Mitglied der "Imperial Police Force" ist (somit Teil der Herrschaft der Briten über Indien) und die Tat weder verhindern konnte noch den Attentäter verhaften. Nachdem Captain Sam Wyndham und Sergeant Surendranath “Surrender-not” Banerjee einer offiziellen Zeremonie beigewohnt haben, erfährt der erstaunte Wyndham, dass sein Mitarbeiter, guter Freund und Mitbewohner der Freund eines echten Prinzen ist, und zwar vom Sohn des Maharadschas von Sambalpore. Als nun Prinz Adhir einem Attentat zum Opfer fällt, während die zwei Polizisten genau neben ihm sind, wollen diese naturgemäß den Fall aufklären. Aber gerade eben wollen die britischen Behörden Sambalpore stärker beeinflussen. Sie wollen ganz und gar nichts aufrühren, während sie ein "Oberhaus der Prinzen" einrichten als indischen Pendant zum Oberhaus in Großbritannien, um die indische Unabhängigkeit zu verhindern. So machen sich dann Wyndham und Banerjee auf nach Sambalpore ohne Rückendeckung, außerhalb ihres Hoheitsgebietes und in eine fremde Welt voller politischer Ränke, Intrigen, Verhandlungen um Politik und Handel und wechselnden Verbündeten.

Das Buch ist das zweite einer Serie, aber könnte einzeln gelesen werden, die Rückbezüge sind fast inexistent (einige "alte Abneigungen", aber ähnlich wird auch über Wyndhams Kriegserlebnisse erzählt). Die Bezüge zum generellen politischen Hintergrund gibt es weniger als in Band 1, was das Buch leichter zu lesen macht, aber auch weniger ertragreich im Sinne eines Lernens über die britisch-indische Geschichte. Man bekommt immer noch viel Verständnis über die Situation der Maharadschas, die "Prinzen-Staaten", die beidseitige Abneigung gegen gemischte Beziehungen, die Atmosphäre und wie die britische Regierung so verzweifelt am Machterhalt hängt, dass sie geflissentlich beide Augen zudrückt, wo nötig. Die Anspielungen auf Gandhi und die Kongress-Partei lassen mich auf ein weiteres Buch mit genau diesem Schwerpunkt hoffen.

Ich-Erzähler Sam Wyndham nimmt den Leser direkt mit. Ich empfand seinen Ton etwas weniger im Stil von Sam Spade/Marlowe/Bogart als im ersten Buch, aber immer noch ist er bestenfalls lakonisch, oft zynisch “It’s a fact of nature that an Englishman abhors sharing his intimate thoughts. It’s why we accepted the Reformation so readily: we find it difficult to confess, even to a priest.” P 265 Das Geheimnis entfaltet sich langsam, mit viel zu Wetter und Natur und Etikette und persönlichen Belangen, die mit beachtet werden müssen. Ich mochte das Buch dennoch, aber fand es schwächer als das erste: etwas zu viel Bedürftigkeit, dass Annie etwas empfindet, dass Wetter und Essen erträglicher werden, nach "O", nach einem Anhaltspunkt, nach einem Termin mit jemandem. Der Fall ist irgendwie die Anti-These zu einem Poirot-Fall: viele Spekulationen, viele wilde Behauptungen durch Wyndham, viel Aktion als Reaktion auf seine Vermutungen. Die Frustration wird vermittelt. Vermutlich sehr angemessen bei der gegebenen (politischen und persönlichen) Situation.

Immer noch überdurchschnittlich, aber mit einigen Längen. Der eigentliche Fall war weniger im Fokus als die Darstellung der generellen Situation - das war für mich in Ordnung, aber passt vermutlich weniger für den normalen Krimi-Leser als für den Leser historischer Romane. 4 Sterne

Veröffentlicht am 27.11.2018

To Clear the Innocent - die Unschuldigen entlasten

Tod in den Wolken
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Ich habe die englische Original-Facsimile-Ausgabe ("Nachbildung" der Erstausgabe) gelesen, "Death in the Clouds".

Original Version, 1935. Appeared first in the US earlier in the same year as “Death in ...

Ich habe die englische Original-Facsimile-Ausgabe ("Nachbildung" der Erstausgabe) gelesen, "Death in the Clouds".

Original Version, 1935. Appeared first in the US earlier in the same year as “Death in the Air”. German: "Tod in den Wolken", published 1937, translated by Otto Albrecht van Bebber. My edition is the facsimile one, thus hardcover. Novel number 10 with Poirot, that is, if you do not count short stories or the play novelisation in between; novel number 17 altogether.

Some persons attract crime more than others. When Hercule Poirot goes back to London via plane, it is not on business. That is, until one of the other passengers is found dead. What begins to merely look suspicious due to a tiny item underneath the dead woman’s seat will soon lead to a murder investigation including blowpipes and exotic poisons, but no real clue (yes, even Poirot...). The murderer must have been on the plane – which puts ten passengers (including Poirot) and two stewards to close scrutiny.

I liked the focus in this story: this time, Poirot is one of the suspects – more so to the general public, being a somewhat eccentric looking foreigner. And also do the other passengers experience changes after the crime: while the young hairdresser has more customers out of sheer curiosity, nobody wants to go to a dentist under suspicion (if at all, that is). So Poirot highlights that this investigation is less about finding the murderer, but about clearing the innocent (p 155).

This story starts off as a murder mystery in a confined space aka the plane, goes over to be a courtroom crime, goes over to a lot of footwork and then finalizes with the typical Poirot technique of gathering (almost) all suspects. That was a bit too much for one story to my taste, which apart from this I liked after the somewhat very businesslike start (with lots of who sits where, goes where and when, and what is in the luggage).

Trivia:
Apart from Poirot, Scotland Yard Chief Inspector Japp is one of the investigators.
A fun reference to crime fiction writers is made by Japp concerning one of the passengers with just that strange profession: “I don’t think it’s healthy for a man to be always brooding over crime and detective stories, reading up all sorts of cases. It puts ideas into his head.” P. 81, Chaper 7. The eccentricities of the writer in question really convey the fun Christie must have had writing them!

p. 82 puts the time of the action to the year 1935, the year of publication.
In newer novels, nobody would have been officially allowed to investigate in a case he is involved with.
I liked the service concept: one plane,

References to other Christies:
Chapter 7. p. 80 “I remember a case in which I was concerned – a case of poison, where that very point arose.” (that is the point of a psychological moment) – refers to Three Act Murder.
Chapter 21. p. 197 “In one case I investigated everyone was [lying] !” hints at “Murder on the Orient Express.

Zeitgeist:
P 139 „They disliked loud voices, noisy restaurants and negroes.”
Chapter 13: p. 138 references to somebody as Ikey Andrew who has a Jewish mother, p. 135 has “…whose real name was Andrew Leech and whose claims to foreign nationality consisted of having had a Jewish mother…”.

Given one issue (contains spoiler) I have with the way the murder was committed (which I even think was superfluous to the storyline) plus the plotline style I commented on earlier: 4 stars.

Veröffentlicht am 27.11.2018

Es gibt wenige Bücher, die so "anders" sind, wie dieses

Die Vegetarierin
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Warnung vorab für Sensible: Schilderung von sexueller und körperlicher Gewalt, Psychiatrie, Suizid, Selbstverletzung, Sex (für nicht-Sensible zu diesen Themen: für mich passte das alles genau so)

5 Sterne. ...

Warnung vorab für Sensible: Schilderung von sexueller und körperlicher Gewalt, Psychiatrie, Suizid, Selbstverletzung, Sex (für nicht-Sensible zu diesen Themen: für mich passte das alles genau so)

5 Sterne. Klar. Aber wofür – was war das gerade eben??? Das Buch hat drei Teile, jeweils aus der Perspektive eines anderen Ich-Erzählers, jeweils geht es um die Frau, die hier titelgebend ist. Ich habe gebraucht für dieses dünne Büchlein, das 2016 in deutscher Sprache erschienen ist. Schließlich habe ich die drei Teile an je einem Tag gelesen, konnte so besser nachsinnen, nachspüren.

Ja, klar, sie, Yong-Ho, isst kein Fleisch, das allerdings plötzlich. Und damit fängt es an, wobei man das bezweifeln darf nach dem, was man im dritten Abschnitt über ihre Kindheit erfährt. Und worum geht es denn nun? Vielleicht um das, was passiert, wenn man die Erwartungen nicht mehr erfüllt, vielleicht um Patriarchat, um familiären Druck, gesellschaftliche Erwartungen, Gewalt in der Ehe, die Freiheiten derer, die anders sind, um Sprachlosigkeit zwischen Generationen, Ehepartnern, Menschen generell. Es geht um Abweichungen und wie wir als Mitmenschen diesen begegnen.

Mal ernsthaft – es geht nicht um Vegetarismus, aber der wäre auch hier in Deutschland ein gutes Beispiel, ein guter „Aufhänger“. Ich bin Fleischesser, habe mich aber einst aus einer Art Wette („das kann man nicht, das schmeckt nicht, das hält keiner durch“) für über ein halbes Jahr vegan ernährt, inklusive mehrgängigem Familien-Weihnachtsmahl, an dessen Ende man mich fragte, wann denn nun „mein (seltsames?) veganes“ Essen käme…(der Trick war wohl, nach Suppe und Salat mit Gemüsesülze und einem „ganz falschen“ Hasen einfach einen Nachtisch mit ausreichend Cognac in der Soße zu servieren). Fast jeder kennt das, etwas, für das man sich quasi immer in Gesellschaft erklären muss, warum man etwas bestimmtes (nicht) isst, an etwas (nicht) glaubt, wählt, etwas (nicht) tut, anzieht, jemanden liebt … Und immer, wie hier, sind die anderen die „Norm“, gibt es die Nötigung zur Rechtfertigung. Der Stoff ist also nicht nur „koreanisch“. Auch das Familienbild ist ebensowenig nicht nur koreanisch: ich habe einige der anderen Texte von Lesern hier gelesen, da wird durchaus auch Yong-Ho die Schuld an der Eskalation zugeschoben. Also: Schuld an der sexuellen Gewalt? Schuld daran, nur als Objekt gesehen zu werden, Schuld an der Missachtung, der Kälte, daran, dass niemand wirklich mit ihr spricht?

Wichtig: jeder liest hier SEIN Buch, hat SEINE Interpretation der Geschichte, das ist selten so wahr wie bei diesem Buch.

Autorin Han Kang wechselt in der Geschichte geschickt zwischen der Realität, wie sie je einer ihrer Protagonisten sieht, mit den Träumen, die erlebt werden. Sie bietet damit zwar die Möglichkeit einer außerhalb des Realistischen stehenden Deutung, liefert aber eben diese selbst definitiv nicht. In der Psychiatrie finden sich dann auch alle wieder, deren Realitäten sich verschieben: Süchtige auf Entzug, Patienten mit Alzheimer, Menschen mit Wahnvorstellungen. Ihre Schwester ist ganz klar, sagt man Yong-Hos Schwester, logisch, deshalb lässt man sie ja nicht gehen. Diese Frau will erst nur Pflanzliches essen und um sich haben, dann wie eine Blume sein, dann wohl ein Baum. Nur Wurzeln schlagen und wachsen, das lässt man sie nicht.

Veröffentlicht am 27.11.2018

Von Rosen und Krawatten

Tödliche Sonate
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Commissario Dionisio di Bernardo will gerade joggen, als er nach Parioli gerufen wird, das schicke Viertel Roms. Die Leiche der Konzertagentin Cornelia Giordano wurde von ihrer Sekretärin Marina Adamová ...

Commissario Dionisio di Bernardo will gerade joggen, als er nach Parioli gerufen wird, das schicke Viertel Roms. Die Leiche der Konzertagentin Cornelia Giordano wurde von ihrer Sekretärin Marina Adamová gefunden, als diese mit dem üblichen Mittagssnack zu ihrer Chefin zurückkehren wollte. Doch wer kann die harte Geschäftsfrau so gehasst haben, dass er sie so zugerichtet hat? Da gibt es etliche Musiker, deren Karrieren Cornelia Giordano scheinbar willkürlich zerstört hatte – und da gibt es ihre Familie, für die doch vermutlich ein Erbe herausspringen dürfte. Während sich der Commissario und seine Kollegen, Ispettore Roberto del Pino, Gerichtsmediziner Dottor Fabio Ricci und Polizeipsychologin Giorgia Magnati, durchwühlen durch schwierige Familienverhältnisse, Erbschaften, Mäzenatentum, Günstlingswirtschaft und fragwürdige „Gefallen“, passiert ein Überfall auf eine der Personen im Dunstkreis der Ermittlungen. Doch kann sich das Opfer wirklich an nichts erinnern? Und wie hängt der anonyme Brief damit zusammen?

Ich war zunehmend begeistert von diesem Krimi und seiner speziellen Darstellungsform. Autorin Natasha Korsakova ist selbst Geigerin – das merkt man sehr positiv in ihrem Erstling. Da sind zum einen die Einschübe mit von ihr gespielter und komponierter Geigenmusik, stets an die jeweilige Stimmung angepasst, die in ihrer Gesamtheit aber auch das Klangpotential des Streichinstruments vermitteln, ohne zu lang zu werden (das hier MUSS man geradezu hören, nicht lesen). Dann gibt es den Wechsel vom Rom des Jahres 2017 in die Vergangenheit; angesetzt wird hier am 12. August 1716 in der Werkstatt von keinem geringeren als Antonio Stradivari. Der Leser kann diesem Pfad aus der Vergangenheit schrittweise über die Jahrzehnte folgen. Außerdem gibt es Sprünge zu einem Ich-Erzähler, der über seinen oder ihren Mord an der Konzertagentin berichtet, weitere Pläne offenbart (schön schaurig, dass ausgerechnet hier die erste Person gewählt wird).

Dazu erfährt man ein wenig aus dem Leben des Commissario (zugezogen, geschieden, ein 17jähriger Sohn, Alberto, der bei der Ex, Monica, lebt), folgt den Ermittlungen durch Rom und in die Tiefen des Musikbusiness und die Kunst der Violinisten, bekommt Hunger bei den diversen Mahlzeiten (del Pino zeichnet für wahre Fressorgien verantwortlich). Man erfährt von di Bernardos Beziehungsfrust, lernt die weiteren Personen langsam mit ihm zusammen kennen – bis er beginnt, das Geflecht zu durchschauen. Währenddessen ist der Täter jedoch auch ihm näher gekommen – die mächtige Managerin war für ihn nur der Auftakt zu der namengebenden „tödlichen Sonate“. Und zu allem beherrscht die Debüt-Autorin auch einen angenehmen Humor mit einer oft trockenen Note.

Das hat mir sehr gut gefallen, ich habe nebenbei noch etwas gelernt über Geigen(spiel) und Stradivari und könnte mir das sehr gut in Serie vorstellen (schließlich will ich noch wissen, wer Camilla für den Commissario war – Schwester? Kollegin? Geliebte?). Ich fand das Hörbuch sehr gut gelesen, auch wenn ich keine drei Sprecher gebraucht hätte (ich bemerkte die Unterschiede nicht unbedingt bei jedem Wechsel, hätte nur zwei Sprecher vermutet...).

Leichte Abzüge, weil ich die Auflösung dann reichlich komplex fand. Dazu wünsche ich mir wie bei fast jedem Hörbuch eine Namensliste - ich habe meine aus der Leseprobe für das gedruckte Buch zusammengesucht.

4, 5 Sterne