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Veröffentlicht am 23.09.2017

Unglaubwürdige Altmänner-Phantasie

Der Preis, den man zahlt
2

Das war wohl nichts. Ich hatte mich auf einen spannenden Roman über die Zeit des Spanischen Bürgerkrieges gefreut, Spannendes lese ich ohnehin gerne, historische Romane auch und der Spanische Bürgerkrieg ...

Das war wohl nichts. Ich hatte mich auf einen spannenden Roman über die Zeit des Spanischen Bürgerkrieges gefreut, Spannendes lese ich ohnehin gerne, historische Romane auch und der Spanische Bürgerkrieg ist bei mir mit vielen Lücken durchsetzt , Guernica, Wem die Stunde schlägt, Hemingway und andere Sympathisanten, lange Franco-Herrschaft, Nazis waren auch 'mal dort, das war’s fast.

Die Hauptperson ist Lorenzo Falcó (der Nachname ist auch der Titel des Originals; ich vermute eine Änderung wegen des im deutschsprachigen Raumes bekannten Sängers aus Österreich mit der Betonung auf der anderen Silbe). Falcó nun arbeitet für den Geheimdienstes SNIO, auf Seiten des Franco-Regimes, als „Müllabfuhr“. Er ist kein Überzeugungstäter, eher war es die Seite, die ihn zuerst gefragt hat. Sein Verhalten ähnelt dem Männerbild der ersten James Bond – Filme: gepflegt ins Casino, im Smoking geraucht und getrunken, eine Frau „klar gemacht“ für die schnelle Nummer und irgendwo für eine Tötung gesorgt. Nur: die Welt hat sich doch irgendwie ein wenig geändert. Ja, das Buch ist 1936 angesiedelt, aber warum deshalb der Protagonist die Züge einer Männerphantasie von 1954 tragen soll, ist mir schleierhaft.

Überhaupt, Männerphantasie: da geht er unaufgefordert einer Frau ins Schlafzimmer hinterher und küsst sie. Sie langt ihm eine. Er hält sie fest, sie wehrt sich. Natürlich nicht lange – denn Frauen meinen doch immer „Ja“, wenn sie „Nein“ sagen, oder? Und vor dem „richtigen Mann“ schmilzt doch jede, oder? Ich brauche jetzt wirklich keine „political correctness“, aber das ist doch einen Tick zu viel.

Und überhaupt, die innere Logik. Warum Falcó tut, was er tut, erschloss sich mir lange nicht. Überzeugung? Nein. Dann müsste es Geld sein. Wohl auch nicht. Adrenalinjunkie, suggeriert der Text, als er endlich Fahrt aufnimmt, gut nach der Mitte. Spannend wird es, spät, glaubwürdiger nicht. Da lässt Falcó Kameraden, Menschen, die er mag oder eher bemitleidet, über die Wupper gehen, schämt sich sogar dabei – und eine Person will er plötzlich retten, warum? Weil er sein Herz entdeckt? Der Wandel ist für mich nicht logisch. Dazu überziehen den Roman noch Details wie aus dem Schundroman, welche Feuerzeugmarke, welcher Schneider usw. Im Film müsste „finanziert durch Product Placement“ da stehen, hier wirkt es einfach völlig überzogen. Und gefangene Frauen wurden natürlich vorher vergewaltigt – ja, ich weiß, das geschah – aber irgendwie wirkt es, als wollte man auch nichts auslassen. Und die Katze springt nicht auf Blofelds Schoß, sondern auf den des Admirals, aber so klar sind hier ja Gut und Böse nicht unterschieden.

1 1/2 Sterne jetzt schlicht nur, weil die Grammatik o.k. ist (auch wenn niemand das spanische clandestino mit klandestin, sondern mit heimlich übersetzen sollte; im Deutschen sind das unterschiedliche Sprachniveaus) und das Buch hochwertig aufgemacht ist. Lesen muss man das nicht.

Veröffentlicht am 20.09.2017

Der Ton macht es

Stille
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„Nichts tun kann jeder, Meditation muss man lernen“ – dieser Spruch aus mir unbekannter Quelle kam in den Sinn, als ich die Präsentation und Leseprobe dieses Buches gesehen hatte. Nachdem ich es dann real ...

„Nichts tun kann jeder, Meditation muss man lernen“ – dieser Spruch aus mir unbekannter Quelle kam in den Sinn, als ich die Präsentation und Leseprobe dieses Buches gesehen hatte. Nachdem ich es dann real vor mir gelesen lag, wollte ich als Rezension dazu erst folgendes schreiben:





.“
Leider wäre damit nicht nur eine Eingabe in der Eingabmaske unmöglich, es wäre auch wenig hilfreich für jeden, der über dieses Buch nachdenkt. Also: braucht man dieses Buch?

Wichtig: es ist KEINE Anleitung für irgendetwas, auch keine Abhandlung über die Stille. Am ehesten entspricht das Büchlein dem, was ich so als „Nachttisch-Büchlein“ werte (kein Coffeetable-Buch, das sind die, die eher nur zum Anschauen sind, weniger zum Lesen). Am meisten liegt mir Text Nummer 7, mit der Erkenntnis „Häufig entscheide ich mich dafür, etwas zu tun, statt die Stille mit mir selbst auszufüllen.“ S. 43

Im Wesentlichen besteht der wirklich sehr sehr schön gestaltete Band aus 33 (!) kurzen Texten über die Stille, Texten, die man als eine Art Anschubser, zu Anregung, Meditation nutzen mag. Ich mag solche Bücher auf dem Nachttisch oder in einer ruhigen Ecke – zum Beruhigen des Geistes, Herunterkommen, Nachdenken. Das Buch ist angenehm unesoterisch, ohne dabei beliebig zu sein, es gibt sowohl Texte zum Wesen von Stille als auch über Erkenntnisse in und aus der Stille, aus persönlichen Erfahrungen des Autors geboren. Man mag manches als Allgemeinplatz aburteilen wie die imaginierte Betrachtung von Menschen aus dem All mit dem Fazit „Mir wurde klar, dass im Laufe der Zeit der einzige Unterschied darin bestand, dass die Eifrigsten ein etwas größeres Haus hatten, in dem sie die Nacht verbrachten.“ S. 32, dennoch sollte man dabei nicht aberkennen, dass die Leistung darin besteht, den Leser über Themen wie Werte, Relativierungen überhaupt innehalten, geschweige denn nachdenken zu lassen.

Also: ist das jetzt banal – oder nein? Nun, es gibt tatsächlich nichts spektakulär Neues im Buch. Aber die Abschnitte sind gut geschrieben, anregend, kurzweilig. Ich bin tatsächlich in der vorletzten Nacht zufällig aus einem Alptraum aufgewacht, den ich vielleicht 1-2 Mal im Jahr träume, eine alte Erinnerung ohne weiteren "Therapiebedarf"; ich kann dann stets schlecht wieder einschlafen und lese meist, meist sehr lange. Das offene Buch des Tages war „Stille“. Ich lag nach einem Abschnitt wieder und habe geschlafen (das wird den Alptraum nicht „heilen“, auch keinerlei Trauma, aber andererseits überanalysiert man ja auch im normalen Leben nicht, warum einen bestimmte Musik aufputscht, auch wenn es diese Untersuchungen durchaus gibt. Der Ton macht es, auch hier).

Man könnte jetzt dem Büchlein also natürlich vorwerfen, es nutze schlicht zu „nichts“– aber genau das IST ja der Nutzen…und das auf so hübsche Art und Weise. Ich bitte um ein Versinken in kurzer Stille über diesen wirklich hübschen und ganz eigenen Zirkelschluss.

Veröffentlicht am 16.09.2017

Kindliche Unschuld

Und es schmilzt
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Lize Spit schreibt gnadenlos gut, sie hat mich in eine Art Wachkoma geschrieben, völlig niedergemäht. Der Roman fordert, ist anspruchsvoll, literarisch sehr komplex, meisterhaft komponiert; dennoch ziehe ...

Lize Spit schreibt gnadenlos gut, sie hat mich in eine Art Wachkoma geschrieben, völlig niedergemäht. Der Roman fordert, ist anspruchsvoll, literarisch sehr komplex, meisterhaft komponiert; dennoch ziehe ich einen Vergleich mit einem anderen Genre. Praktisch alle Krimis und Thriller, die ich je gelesen habe, sind wie Kindergarten gegen „Und es schmilzt“, und ich habe einige gelesen. Im Moment fühlt es sich so an, als könnte ich das nicht mehr (unschuldig) wie zuvor. Der Leser begleitet Eva und ihre beiden besten, einzigen, langjährigen Freunde, Pim und Laurens, aufeinander bezogen und aneinander gebunden durch die Herkunft aus dem kleinen Dorf, die einzigen im gleichen Alter. Dazu wirken aller Eltern und Geschwister, besonders Evas kleine Schwester Tesje.

Die Sprache ist zwar wie beschrieben komplex, dennoch lässt sich der Text einfach lesen, direkt; die Komplexität zeigt sich mehr darin, wie vielschichtig, vieldeutig viele Textstellen sind. So lässt Ich-Erzählerin Eva uns wissen: „Ich kann nur dafür sorgen, dass er nicht fällt. Ich kann nicht dafür sorgen, dass er nicht springt.“ S. 16 Diese Art der Hoffnungslosigkeit, der Erkenntnis, der Ernüchterung, die absolute Brutalität der Direktheit der Aussage, das zieht sich durch den ganzen Roman, immer mit den Sprüngen zwischen den jeweils für sich chronologisch voranschreitenden Zeitebenen im „Jetzt“ und in der Kindheit, die dafür sorgen, dass ich wissen wollte, was passiert, warum, wie können sie. Ich musste gelegentlich das Buch senken, nachsinnen, nach Luft schnappen, entsetzt fragen, ob das wirklich dahinter steckt, wollte aber gleichzeitig immer weiter, konnte das Buch nie wirklich hinlegen. Vieles kann man sehen, man ahnt es als Leser, sicher auch im Dorf. Doch man muss hinsehen wollen, selbst als Leser glaubte ich manches erst, wenn ich es zweimal las.

Gelegentlich gibt es andere um Eva herum, die zarte Ansätze machen, sich zu kümmern, doch: „Erzählen, was ich fühlte, was sie hören wollte, konnte ich nicht. Wenn die Dinge, die ich loswerden wollte, irgendwo anders hinkönnten, dann hätte ich sie ja nicht zu erleiden brauchen.“ S. 147 Da gibt es dieses Bedürfnis, dazu zu gehören, jemandem wichtig zu sein, wie bei allen von uns. Im Buch erwartet man früh schon die große Eskalation. Es wird gelinde gesagt sehr heftig, das ist kein Buch für Zartbesaitete, schont nichts und niemanden. Man beendet Seiten mit dem Gefühl, Gaffer bei einer Massenkarambolage gewesen zu sein, fühlt sich beschmutzt. Das muss nicht jeder mögen, das wird viele verstören, aber dennoch passt alles genau so.

Das Eis schmilzt und das Buch lässt niemanden kalt. Man muss das nicht mögen, man kann auch niemandem „viel Vergnügen“ bei der Lektüre wünschen, aber für die Bewertung, dass das meisterhaft ist, braucht es das auch nicht. Mit geschmolzenem Eis kann man nicht warm duschen.

Eiskalt 5 Sterne

Ich denke, als Hörbuch wäre das nichts für mich – sehr komplex die zeitlichen Sprünge, die Andeutungen, vor allem: zu heftig per Stimme direkt in den Kopf.

Veröffentlicht am 13.09.2017

Vom Paradies auf Erden oder im Himmel

Und Marx stand still in Darwins Garten
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Bitte vergiss/vergessen Sie den Klappentext, die Inhaltsangabe alles. Bitte stell dir/stellen Sie sich zwei ältere Herren vor, die da in England leben – der eine in Kent, der andere in London. Beide sind ...

Bitte vergiss/vergessen Sie den Klappentext, die Inhaltsangabe alles. Bitte stell dir/stellen Sie sich zwei ältere Herren vor, die da in England leben – der eine in Kent, der andere in London. Beide sind sie sehr lang mit ihren Ehefrauen verheiratet und haben mit ihnen eine stattliche Anzahl Kinder bekommen – zehn der eine, sieben der andere. Beide haben sehr gelitten, als einige Kinder vor ihnen starben. Beide leben in Hausgemeinschaft mit treuen Angestellten, sind besessene Arbeiter in ihren jeweiligen Metiers, geradezu Arbeitstiere, ohne Rücksicht auf sich selbst. Beide involvieren die Familien in ihr Werk, die Frauen oder Kinder schreiben nieder, lesen Korrektur, arbeiten mit. Beide sterben 1882 respektive 1882. Beide kommen aus angesehenen, wohlsituierten Familien, leiden im Alter an einer angeschlagenen Gesundheit.

Hier kommt im Buch ein Doktor Beckett ins Spiel: Die beiden Herren sind Karl Marx und Charles Darwin, und mir war tatsächlich nicht bewusst gewesen, welche Ähnlichkeiten es doch gab (in Ordnung, der eine lebte meist prekär, der andere vom Familienvermögen der Wedgewoods, der eine im Vaterland, der andere im Exil, ...dennoch). In Darwins Arbeitszimmer steht ein Exemplar von „Das Kapital“ mit persönlicher Widmung, er schickte einen Dankesbrief an Karl Marx. Auch das ist Bestandteil des Romans. Der Buchdoktor stellt das Bindeglied zwischen beiden dar. Autorin Ilona Jerger lässt Darwin äußern „In der Tat ist die Vorstellung schmeichelhafter, direkt von Gottes Hand erschaffen worden zu sein, als einen irrwitzig langen und verschlungenen Weg von den Eizellern über die Rüben genommen zu haben…“ S. 91. Beckett hingegen bemerkt zum Begründer der Evolutionstheorie, der besorgt ist, als „Gottes-Mörder“ in die Geschichte einzugehen: „Wenn die Menschen nicht mehr auf das Traumland im Jenseits hoffen können, dann sind sie endlich bereit, für ein gutes Leben im Diesseits zu kämpfen. Die Leidensbereitschaft sinkt rapide, wenn es nach dem Tod keine Entlohnung gibt.“

Kurzweilig beschreibt der Roman die „alten Tage“ der beiden Persönlichkeiten, mit Rückblicken in die jüngere Geschichte (ich empfehle so in der Mitte des Romans mindestens ein Überfliegen der jeweiligen Wikipedia-Artikel – das ist im Buch wirklich gut gemacht und „inhaliert“ sich sehr leicht und locker). Breiten Raum nimmt die Diskussion zur Auswirkung auf Glaubensthemen ein, auch das, wie ich finde sehr elegant, mit dem ablehnenden, wetternden Marx, der gläubigen Frau von Darwin und Darwin selbst, „Die christliche Position hatte er verlassen, die atheistische wollte er nicht einnehmen.“ S. 186 Sein Vetter schlägt ihm zuletzt die Pascal’sche Wette vor: „Wenn du an Gott glaubst, und es stellt sich heraus, dass es einen gibt, hast du gewonnen und fährst gen Himmel. Wenn du hingegen nicht an Gott glaubst und es doch einen gibt, dann verlierst du die Wette und fährst zu Hölle. Und wenn du an Gott glaubst, und es stellt sich heraus, dass es keinen gibt, hast du zwar verloren, aber eigentlich nicht viel. Also wette, dass es ihn gibt! Das ist in jedem Fall die bessere Wahl. Denn du setzt mit wenig Einsatz auf einen satten Gewinn – die ewige Seligkeit.“ Cousin Francis zu Darwin, S. 216

Passend dazu aus der Grabrede, die Engels für den Freund und Weggefährten hielt: „Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der menschlichen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte….

Sehr geeignet, um unterhaltsam und irgendwie sehr komfortabel Einblick in Leben und Werk zweier Männer (und ihres Umfeldes) zu bekommen, die das moderne Weltbild maßgeblich geprägt haben. Ich hätte es mir zu meinem damals sterbenslangweiligen Abschnitt im Geschichtsbuch gewünscht. Dennoch…fehlt irgendetwas, auch wenn das altmodisch klingen mag, so der gewisse „Pfiff“. Solide 3,5 Sterne.

Veröffentlicht am 11.09.2017

Etwas werden

Die Geschichte der getrennten Wege
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Das Buch beginnt 2010 – Ich-Erzählerin Elena „Lenù“ hat ihre beste Freundin „Lila“ Raffaella zum letzten Mal vor 5 Jahren gesehen. Sie schreibt, sie schreibt ihr Leben auf, Lilas Leben, die ihr einst das ...

Das Buch beginnt 2010 – Ich-Erzählerin Elena „Lenù“ hat ihre beste Freundin „Lila“ Raffaella zum letzten Mal vor 5 Jahren gesehen. Sie schreibt, sie schreibt ihr Leben auf, Lilas Leben, die ihr einst das Versprechen abgerungen hatte, nie über sie zu schreiben, sonst käme sie. Lenù will Lila holen, sie aus dem Verschwinden holen. Mit ihrer Geschichte wechselt der Leser ins Italien kurz vor 1969 und in die Folgejahre, es ist die Zeit der beiden Frauen als „Twens“ bis in ihre Dreißiger. Lenù wird Pietro heiraten, wir begleiten die jungen Frauen durch Nachwuchs, Partnerschaft, berufliche Entwicklung, signifikante Änderungen, das Aneinander-Reiben.

Für sich allein gelesen, hätte ich mit diesem dritten Band der „Ferrante-Saga“ keinerlei Probleme gehabt dazu, ob es denn wirklich vier Bände braucht; ich bin durch die Seiten geflogen, empfand Spannung und Überraschung (ja, deutlich mehr als vorher, gerade Band 1 war mir teils etwas zäh). Besonders die vielen unerwarteten Wendungen veranlassten mich dazu, den Einstiegstext zur Handlung oben so kurz gehalten zu haben, ich möchte das Vergnügen keinem anderen Leser nehmen. Nur so viel: Die Beziehung die Frauen verändert sich, die berühmte Stärke Lilas erfährt ihre Grenzen, Lenù scheint vordergründig für kurze Zeit als die Stärkere, es kommt zu unerwarteten Wendungen, Kompromissen. Die Lektüre gestaltete sich wie ein Puzzlespiel, bei dem einzelne Steinchen ihren Platz fanden: Erkenntnisse zu Alfonso, Geständnisse über Michele Solara, die Relation Lilas zu Enzo, zu Michele, neue (alte) Lieben, Umzüge.

Für eine Leserunde fände ich das Buch sehr geeignet, mir springen so viele Gedanken im Kopf herum mit Erkenntnissen, die hier sehr schlecht preiszugeben sind, in dem Kontext aber Freude und Vertiefung bieten würden: Was bedeutet „sie ist tot“, wer griff die Wurstfabrik an, warum hat die Mutter von Lenù anscheinend andere Wertmaßstäbe für deren jüngere Schwester, weshalb erscheint die frühere Gymnasiallehrerin so verändert. Anderes wird vertieft, so die Frage, inwiefern man dem eigenen Milieu durch Bildung wirklich entkommt kann, oder neu in die Runde geworfen, wie diverse Ernüchterungen zu Männern. Bei den Freundinnen hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dem Geheimnis des Aufeinander-Bezogen-Seins näher zu kommen, Lenùs Mutmaßungen weisen den Weg „Ich wollte etwas werden, auch wenn ich nie gewusst hatte, was. Und ich war etwas geworden, so viel stand fest, aber ohne eine konkrete Vorstellung, ohne eine wahre Leidenschaft, ohne einen zielgerichteten Ehrgeiz.“ S. 445

Ich hatte Band 1 als Zeit- und Sittengemälde Neapels der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet, Band 2 bringt viel zur Rolle der Frau und zum Unterschied zwischen den gesellschaftlichen Schichten. Band 3 nun bringt die gesellschaftliche Lage mit ein, die blutigen Kämpfe zwischen Rechten und Linken, während die Rolle der Frau vertieft betrachtet wird (wobei da von einiger Ernüchterung auszugehen sein dürfte). Gespannt bin ich jetzt auf Band 4 und die Themen, die da noch kommen können, gerade weil Band 3 ja wortwörtlich in der Luft endet. Volle 5 Sterne von 5 für Lesevergnügen, Geschichtsstunde, Zeitgeist, Gedankenanregungen.