Seide – wie dieses Buch: elegant, leicht doch verwoben, exotisch, wertvoll und besonders
Seide1861 – Hervé Joncour, 32, lebt in Lavilledieu, Südfrankreich – er kauft und verkauft die Eier von Seidenraupen; die Region ist darauf ausgerichtet. „Jedes Jahr Anfang Januar machte er sich auf den Weg. ...
1861 – Hervé Joncour, 32, lebt in Lavilledieu, Südfrankreich – er kauft und verkauft die Eier von Seidenraupen; die Region ist darauf ausgerichtet. „Jedes Jahr Anfang Januar machte er sich auf den Weg. Er legte eintausendsechshundert Seemeilen auf dem Meer und achthundert Kilometer auf dem Land zurück. Er suchte die Eier aus, verhandelte über den Preis und kaufte sie. Dann machte er kehrt, legte achthundert Kilometer auf dem Land und eintausendsechshundert Seemeilen auf dem Meer zurück und kam für gewöhnlich am ersten Sonntag im April und für gewöhnlich gerade rechtzeitig zum Hochamt wieder in Lavilledieu an.“ S. 8
Das kinderlose Leben von Hervé Joncour und seiner Frau Hélène ist dank seines guten Einkommens angenehm, dabei ohne Extravaganzen: „Er war übrigens einer jener Menschen, die dem eigenen Leben gern beiwohnen, während sie jegliches Bestreben, es zu leben, für unangebracht halten.
Man wird bemerkt haben, dass diese Menschen ihr Schicksal betrachten, wie die meisten für gewöhnlich einen Regentag betrachteten.“ S. 11
Wer diesen Schreibstil Bariccos mag, kann hier völlig bedenkenlos zugreifen. Es ist dieser leichte Plauderton mit feiner Ironie, der den Roman auszeichnet. Das Gleichmaß im Leben von Hervé Joncour (der übrigens, meine ich, nicht einmal NICHT mit vollem Namen bezeichnet wird) findet seinen Wiederhall im Gleichmaß des Textes – die Strecke der Anreise wird umgekehrt wieder zur Rückreise. Die Kapitel sind kurz, je nur eine bis drei Seiten – und ich hätte ewig dem Ton von Baricco weiter lauschen mögen (das Buch wäre sicher ein geniales Hörbuch).
Baricco spielt hier mit der Sprache, besonders mit den Wiederholungen – und mit den feinen Nuancen dazu, den Änderungen, so dem Baikalsee, für den bei jeder Reise ein anderer Name genannt wird, den die Einheimischen ihm geben. Baricco spielt auch mit der Schriftform der Sprache:
„Ohne die leiseste Regung
schlug dieses Mädchen
plötzlich
die Augen auf.“ S. 33
Da trifft der „Coup de foudre“ Hervé Joncour, von der Erotik des Teetrinkens einmal ganz zu schweigen.
Ein kurzes Büchlein, eher eine Novelle, verschlungen von mir während eines Café-Besuchs. Leicht lesbar ist es geschrieben, dann mit einer von mir unerwarteten Wendung zum Ende – ohne dass daraus nun ein Drama wurde. Wieder habe ich es darauf gelesen – wieder, so wie auch „Mr Gwyn“, meinen Baricco-Erstling, als sich ein vermeintlicher Bruch ergab - das scheint er gerne so zu machen. Wie auch dort, so verändert hier die Wendung eigentlich alles – das kann man nicht verraten, ohne zu viel preiszugeben; aber zuerst gefiel mir das nicht, dann, im Nachgang, fügt sich für mich alles so, wie es anders gar nicht möglich gewesen wäre. Ich liebe „Seide“!