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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 29.04.2017

Seide – wie dieses Buch: elegant, leicht doch verwoben, exotisch, wertvoll und besonders

Seide
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1861 – Hervé Joncour, 32, lebt in Lavilledieu, Südfrankreich – er kauft und verkauft die Eier von Seidenraupen; die Region ist darauf ausgerichtet. „Jedes Jahr Anfang Januar machte er sich auf den Weg. ...

1861 – Hervé Joncour, 32, lebt in Lavilledieu, Südfrankreich – er kauft und verkauft die Eier von Seidenraupen; die Region ist darauf ausgerichtet. „Jedes Jahr Anfang Januar machte er sich auf den Weg. Er legte eintausendsechshundert Seemeilen auf dem Meer und achthundert Kilometer auf dem Land zurück. Er suchte die Eier aus, verhandelte über den Preis und kaufte sie. Dann machte er kehrt, legte achthundert Kilometer auf dem Land und eintausendsechshundert Seemeilen auf dem Meer zurück und kam für gewöhnlich am ersten Sonntag im April und für gewöhnlich gerade rechtzeitig zum Hochamt wieder in Lavilledieu an.“ S. 8
Das kinderlose Leben von Hervé Joncour und seiner Frau Hélène ist dank seines guten Einkommens angenehm, dabei ohne Extravaganzen: „Er war übrigens einer jener Menschen, die dem eigenen Leben gern beiwohnen, während sie jegliches Bestreben, es zu leben, für unangebracht halten.
Man wird bemerkt haben, dass diese Menschen ihr Schicksal betrachten, wie die meisten für gewöhnlich einen Regentag betrachteten.“ S. 11

Wer diesen Schreibstil Bariccos mag, kann hier völlig bedenkenlos zugreifen. Es ist dieser leichte Plauderton mit feiner Ironie, der den Roman auszeichnet. Das Gleichmaß im Leben von Hervé Joncour (der übrigens, meine ich, nicht einmal NICHT mit vollem Namen bezeichnet wird) findet seinen Wiederhall im Gleichmaß des Textes – die Strecke der Anreise wird umgekehrt wieder zur Rückreise. Die Kapitel sind kurz, je nur eine bis drei Seiten – und ich hätte ewig dem Ton von Baricco weiter lauschen mögen (das Buch wäre sicher ein geniales Hörbuch).

Baricco spielt hier mit der Sprache, besonders mit den Wiederholungen – und mit den feinen Nuancen dazu, den Änderungen, so dem Baikalsee, für den bei jeder Reise ein anderer Name genannt wird, den die Einheimischen ihm geben. Baricco spielt auch mit der Schriftform der Sprache:
„Ohne die leiseste Regung
schlug dieses Mädchen
plötzlich
die Augen auf.“ S. 33
Da trifft der „Coup de foudre“ Hervé Joncour, von der Erotik des Teetrinkens einmal ganz zu schweigen.

Ein kurzes Büchlein, eher eine Novelle, verschlungen von mir während eines Café-Besuchs. Leicht lesbar ist es geschrieben, dann mit einer von mir unerwarteten Wendung zum Ende – ohne dass daraus nun ein Drama wurde. Wieder habe ich es darauf gelesen – wieder, so wie auch „Mr Gwyn“, meinen Baricco-Erstling, als sich ein vermeintlicher Bruch ergab - das scheint er gerne so zu machen. Wie auch dort, so verändert hier die Wendung eigentlich alles – das kann man nicht verraten, ohne zu viel preiszugeben; aber zuerst gefiel mir das nicht, dann, im Nachgang, fügt sich für mich alles so, wie es anders gar nicht möglich gewesen wäre. Ich liebe „Seide“!

Veröffentlicht am 20.04.2017

Dürstend vor Verlangen

Die Hyäne
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Ich habe das Taschenbuch, broschiert, gelesen - kann das aber hier nicht auswählen. Ist auch schon ein paar Tage auf dem Markt...

“Der Wagen hatte ihn ein kleines Vermögen gekostet, doch es war der Schein, ...

Ich habe das Taschenbuch, broschiert, gelesen - kann das aber hier nicht auswählen. Ist auch schon ein paar Tage auf dem Markt...

“Der Wagen hatte ihn ein kleines Vermögen gekostet, doch es war der Schein, der zählte. Eine elegante Hülle für den Menschen, der wiederum nur eine Hülle für das Tier war.” S. 7 So wird für den Leser Darius vorgestellt, der Mann, der einer Frau nachzustellen scheint – und einer anderen mit K.O-Tropfen die Selbstbestimmung über ihren Körper nimmt. Die nächste Szene findet in einem Raum statt, der das Gefängnis für ein junges Mädchen ist: “Wer sind sie?” Ihre Stimme hatte gebebt, es musste sie Überwindung gekostet haben, diese Worte zu formulieren.
“Keine Angst.” Mit dieser Floskel, betont ruhig, leitete er seine ersten Kontakte stets ein.” S. 153

Ein junger Mann wurde Opfer eines Gewaltverbrechens – Stichverletzungen, Würgemale, er muss geflüchtet sein. Bei den Ermittlungen sind die Jugendlichen aus seiner Clique wenig hilfsbereit gegenüber der Polizei – doch dann stellt sich heraus, dass ein Mädchen verschwunden ist. Zwischen Hasselroth und dem Autobahnparkplatz an der nahen A45 erstrecken sich die Ermittlungen der Kriminalpolizei Frankfurt um Kommissarin Julia Durant. Es gibt erschreckende Parallelen zu einem lange zurückliegenden Mord – Buchstaben und Zahlen, die auf die Körper der Opfer geschrieben waren. Doch Durant ist nicht auf der Höhe – ihr Vater liegt nach einem Schlafanfall im künstlichen Koma in München im Krankenhaus. Und ihr Freund und Kollege Hellmer macht auch nicht den besten Eindruck – hat er wieder nach Alkohol gerochen? Was ist mit seiner Tochter los?

Neben den spannenden Ermittlungen um diesen Fall mit einigen durchaus ungewöhnlichen Wendungen hat Daniel Holbe viel menschliches um die Ermittler mit eingewoben – und sich nebenbei, aber nicht minder prägnant, auch noch der Themen Stalking und Mobbing angenommen. Überfrachtet wirkt das auf mich dennoch nicht. Die Beschreibungen sind eindeutig, aber nicht schwelgend in der Darstellung von Gewalt und speziell von Übergriffen – zum Thema dabei eventuell empfindlicher Leser, denn vorhanden sind sie. Mir hat es wieder gefallen, ich mag die Reihe.

Die Julia-Durant-Reihe um die Frankfurter Kriminalpolizei wurde von Andreas Franz begonnen mit “Jung, blond, tot” – dann starb der Autor im März 2011. Ab dem Roman “Todesmelodie” lässt Autor Daniel Holbe die Figuren weiterleben (“Todesmelodie” wurde von ihm fertiggestellt)– “Die Hyäne” ist der insgesamt 15. Band der Reihe, davon der 4. von Daniel Holbe. Sowohl die Ermittler der Kieler Reihe des Autors/der Autoren als auch der Offenbacher Reihe um Peter Brandt haben hier Kurzauftritte.

Veröffentlicht am 19.04.2017

„Es steht jeden Tag ein Dummer auf“

So, und jetzt kommst du
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„Es steht jeden Tag ein Dummer auf“ S. 29, ist eine der Lebensweisheiten, die der Ich-Erzähler in diesem Buch von seinem Vater lernt. Der Vater will seinen Lebensunterhalt darauf gründen, dass es diese ...

„Es steht jeden Tag ein Dummer auf“ S. 29, ist eine der Lebensweisheiten, die der Ich-Erzähler in diesem Buch von seinem Vater lernt. Der Vater will seinen Lebensunterhalt darauf gründen, dass es diese „Dummen“ gibt. Lange bevor ebay und Co. ein verbreitetes Geschäftsmodell wurde, gründet Vater Jürgen einen Versandhandel daheim. „Nicht, dass Jürgen das Baccalauréat oder später, wieder in Deutschland, das Abitur bestanden hätte. Dafür war er zu schlau.“ S. 16 Das Lager wird nie leer. Dann kommen die Briefe, die Männer mit den Aktentaschen – zuletzt der Umzug aus dem eigenen Haus in die Mietwohnung. Jetzt veranstaltet die Mutter Tupperpartys, der Vater arbeitet bei einem Gebrauchtwagenhandel. Das kann er, anderen Autos verkaufen, mit schönen Felgen, aber marodem Innenleben, der schöne Schein.

Wirkliche Arbeit scheint im Konzept des Vaters nicht vorgesehen zu sein, schon die Wahrsagerin hatte ihm einst vorhergesagt: „Er würde reich sein. Er würde nicht reich werden mit einer Idee oder einem Geschäft, nein. Er würde es eines Tages einfach sein.“ S. 16 Wieder kommen Briefe, diesmal mit dem Landeswappen – wieder kommt ein Umzug, mitten in der Nacht, nach Frankreich, das große Geld ist plötzlich da, ein Haus wird gemietet und die Mutter geht einkaufen oder putzt. Es wird nicht die letzte plötzliche große Veränderung im Leben der Familie mit inzwischen drei Kindern sein.

Das Buch ist autobiographisch geschrieben von Arno Frank – der Ton ist unterhaltsam, oft direkt, wenngleich mir dabei mehrere Male kalte Schauer über den Rücken liefen. Es sind nicht die prekäre Lage, der gesellschaftliche Abstieg oder die Wolkenschlösser, die mich schockieren – es ist, wie der Vater das seiner Familie verkauft. Die Banken sind schuld – ja, sicherlich gibt es das. Der Vater verkauft etwas – sicher, doch bereits als Autoverkäufer erklärt er seinem Sohn, wie genau man andere zu betrügen hat. Viel später wird er die Tochter zum Handtaschendiebstahl anstiften. Und die Mutter? Wenn es eng wird, sitzt sie da und lutscht Daumen.

Arno Frank wurde im selben Jahr wie ich geboren, seine Kindheit streift die Ereignisse meiner eigenen Jugend: die Terroristenplakate in der Post, die Grünen, Kießling, Tschernobyl. Doch fast völlig fehlen die sonstigen Erlebnisse der Kindheit, wie sie zum Beispiel in Stephan Lohses „Ein fauler Gott“ Nostalgie hervorriefen – zu stark ist das Leben der Familie zwischen Überfluss und Flucht jenseits aller Normen. Meisterhaft, wie der Autor die Ausblendung der Realität in Bilder fasst. Der Ich-Erzähler klammert sich an seinen Diercke-Schulatlas auf der Flucht quer durch Europa, der kleine Bruder trägt immer Schwimmflügel, auch, als der Pool schon längst auf der Flucht zurück gelassen wurde. Auch die scheinbaren Verbesserungen können überfordern: „Zunächst lässt meine Schwester, die so viel Platz gar nicht gewohnt ist, sich in ihrem Wandschrank häuslich nieder.“ S. 93

Wohin das führt, ist klar; es geht mehr darum wie meisterhaft das dargestellt wird, wie lange die Realität ausgeblendet wird, auf Abstand gehalten werden kann, bis die Erkenntnis kommt: „Ich habe es satt, nur auf Sicht zu fahren, wenn es hinter jeder Ecke schlimmer wird. Ich habe die Anfänge satt, die ins Leere laufen S. 259 Leseempfehlung. Tolle Sprache, grandiose Bilder – und eine schlicht wahnsinnige Geschichte.

Veröffentlicht am 18.04.2017

Where no man has gone before

Exit West
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Ich habe das Buch im englischsprachigen Original gelesen, als Taschenbuch.

Image the country you live in changes – slowly, subtly. It does not change for the better, but it is where you have been born, ...

Ich habe das Buch im englischsprachigen Original gelesen, als Taschenbuch.

Image the country you live in changes – slowly, subtly. It does not change for the better, but it is where you have been born, where you have a job and a family.

Imagine all of a sudden, where you live, people show up who come from far away. They came fast, their journey was short, despite of the distance.

Imagine the changes in your country culminate and become a war. Imagine radicalization – you must not wear the clothes you like, have the look you prefer, hold hands in the streets. You do not feel safe anymore. Imagine hunger. Image the violent death of people you love, fear, threat.

Then an option to escape comes up – you just need to find one of those door swhich appear out of the blue. They are doors to somewhere else, to another country. It might be Mykonos, London, or Sidney. If you are in Mykonos, London, or Sidney, all of a sudden, people on flight will show up.

Image you join Saeed and Nadia who were both born in an unnamed country in an unnamed city and who fell in love with each other.

Cleverly, author Mohsin Hamid links Saeed’s and Nadia‘s refugee reality with some wormhole-like fairytale-possibility of escape to another reality, same planet, same time, just somewhere else. Less dangerous. Quite often, with the same problems. Cleverly? Well, wormhole or lengthy flight – the door is a brilliant symbol for the cultural clash many refugees will certainly encounter, same as those in the countries they flee to. Without partronizing or lectoring, Hamid opts for the clever means of a very open, almost fable-wise text, which tells little but alludes to everything. The language is very clear, though, when it comes to conjure up images for the protagonists‘ feelings, like that of loss: „.. but that is the way of things, for when we migrate, we murder from our lives those we leave behind.“ p. 94
The couple react differently to the challenge: „..the further they moved from the city of their birth, through space and through time, the more he [Saeed] sought to strengthen his connection to it, tying ropes to the air of an era that for her [Nadia] was unambiguously gone.“ p 187 The people they meet in the places they go to, too, react differently to the stream of immigration. Different means of coping will be considered.

I liked the story a lot, put it down often to ponder the possibilities hinted at: For example, the image of the doors allows the author to offer the option to take the path in the other direction – for escapists, for family visits, for curiosity – paths, that real life flight does not make attractive. Thus, it is not an easy read, especially with the style of lenghty sentences, in between breathlessness and stream of consiousness-style, but one which I found rewarding. Highly recommended for lovers of more demanding reads!

Veröffentlicht am 16.04.2017

Von der Sehnsucht nach gestörten Kriminellen

Am Ende der Schmerz
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„An jedem Tag, den sie in ihrem Büro an der Uni verbrachte, sehnte sie sich nach ihrem alten Schreibtisch in der Polizeistation.“ S. 9 Die aus Deutschland stammende Andrea Thornton unterrichtet jetzt an ...

„An jedem Tag, den sie in ihrem Büro an der Uni verbrachte, sehnte sie sich nach ihrem alten Schreibtisch in der Polizeistation.“ S. 9 Die aus Deutschland stammende Andrea Thornton unterrichtet jetzt an der Uni – sie bildet Nachfolger für den Job als Profilerin aus – der Job, den sie selbst einst so erfolgreich ausgefüllt hatte und der sie ausgefüllt hatte. Sie hält noch den Kontakt zu ihren alten Kollegen. Da kommt – ausgerechnet – Andreas Mann Greg, den ihr früherer Beruf sonst immer in Angst und Schrecken versetzt hatte, und bittet sie, die Unschuld seines gerade verhafteten Cousins Matthias zu beweisen. Der steht in Bielefeld unter dem Verdacht, Frau und Kinder getötet zu haben. Greg kann sich diese Tat nicht vorstellen für seinen sanftmütigen Cousin – doch der erinnert sich nicht an den Tatabend.

Aus ihrer Wahlheimat England in ihre alte Heimat gereist, realisiert Andrea: „Dieser Job fehlte ihr wie ein amputiertes Körperteil, aber sie hatte Angst, ihn wieder zu machen.“ S. 37 Nach einem traumatischen Erlebnis vor über einem Jahr hatte ihr die professionelle Distanz gefehlt. Und das soll jetzt funktionieren? Doch Fachwissen, Erfahrung und Intuition kann man nicht so einfach ablegen, wie man eine Kündigung ausspricht. Andrea beginnt, den Tathergang zu analysieren. Warum hatte Matthias Geheimnisse vor seiner Frau? Und hatte seine Frau einen Liebhaber? Worauf deutet die Reihenfolge der Morde hin? Wo ist das schwarze Notizbuch mit den bunten Blumen?

Was bei diesem Buch besonders ist, ist die Perspektive: vordergründig könnte man von einer ruhigen Ermittlung sprechen. Das ganz eigene ist die komplexe Sicht: Autorin Dania Dicken erläutert, warum Andrea zu diesem Beruf kam, wo die Herausforderung liegt, sich mit den Abgründen der Gesellschaft zu beschäftigen, und wie diese Beschäftigung durchführbar ist, ohne dabei persönlich hineingezogen zu werden – oder, wie in speziellen Fällen, dann halt doch. Das passiert schrittweise und wirkt dadurch stark und glaubhaft. So kommt Andrea bald zu Erkenntnissen – doch diese nützen leider nichts ohne Beweise. Sollte hier ein Täter davonkommen? Und da wird es dann erst richtig spannend…

Es ist geradezu traurig, ich kann nicht mehr werben, ohne zu viel zu verraten! Toll geschrieben, schlüssig hinsichtlich der Personenzeichnung, der Handlungsmotivation und der gesamten Abläufe. Dazu ein sehr unüblicher Ablauf! Es passt einfach! Absolute Leseempfehlung für Fans von harten Psychothrillern – was gleichzeitig meine übliche Warnung ist.