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Veröffentlicht am 06.09.2018

„Was dunkel ist, muss ans Licht kommen“

Alligatoren
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S. 148

Branchville, South Carolina. In den 1920er Jahren hat der Baumwollkäfer die Ernte gefressen, die Bevölkerung ist von Armut bedroht.
Gertrude Pardee und ihre vier Töchter hungern, während ihr Mann ...

S. 148

Branchville, South Carolina. In den 1920er Jahren hat der Baumwollkäfer die Ernte gefressen, die Bevölkerung ist von Armut bedroht.
Gertrude Pardee und ihre vier Töchter hungern, während ihr Mann Alvin seinen Lohn versäuft. Sie scheut die Blicke anderer, denn „Jede von ihnen hat es selbst schon erlebt oder kennt eine Frau, die die Spuren einer Männerfaust trug.“ S. 146 Doch Gertrude, „diese schmächtige Frau mit dem Kampfgeist einer streunenden Katze“ S. 356, hat von ihrem Daddy gelernt, mit einer Flinte umzugehen. Davon wird sie im Laufe der Handlung Gebrauch machen.

Annie Coles ist Anfang 70 und seit ihrem 18. Lebensjahr mit Edwin verheiratet, Plantagenbesitzer. Wegen der Baumwollkäfer setzt er alle Karten auf den Tabakanbau. Sieben Kinde haben sie bekommen, doch mehr als die zwei, die tot geboren worden, setzt seiner Familie der Tod von Buck zu, als dieser erst zwölf war. Mit ihren Töchtern Molly und Sarah habe die Eltern keinen Kontakt mehr. Die Söhne sind immer noch Junggesellen „Meine Söhne sind Männer in den besten Jahren, denen die Welt offensteht, aber sie verhalten sich wie zwei gehandicapte alte Junggesellen. Wenn der eine blinzelt, ist der andere blind.“ S. 159 Mit Sohn Lonnie leitet Annie eine Näherei und gibt Frauen der Umgebung so ein Auskommen. Dort bewirbt sich auch Gertrude, während sie Unterkunft nimmt im Nachbarhaus von Retta.

Oretta „Retta“ Bootles ist Köchin der Coles und lebt im Viertel der Farbigen. Dass sie sich um das kleine weiße Mädchen Mary kümmert, die Tochter von Gertrude, bringt ihr nicht viele Sympathien ein. Sie steht Annie und Gertrude bei, sieht vieles, nicht nur, weil sie gelegentlich Vorahnungen hat. „Ich frag mich, ob du die Dinge, die du siehst, beim Namen nennen musst, um die Sünde darin auszutreiben. … Ich lege sie in die Kiste, schließe den schweren Deckel und befestige ein Vorhängeschloss daran, aber Miss Annies Wünsche zählen genauso wenig wie meine. Die Wahrheit ist ans Licht gekommen. Das Geheimnis ist tot.“ S. 231 Ihre Vorahnungen erzählen vom Tod.

Dieser Südstaaten-Roman von Deb Spera aus der Krise vor der großen Wirtschaftskrise erzählt von starken Frauenfiguren aus völlig unterschiedlichem Hintergrund. Die Perspektive wechselt zwischen den drei jeweils als Ich-Erzählerin, jeweils mit eigener Stimme. Bei Gertrude ist dann die Grammatik passend („größer wie“), kommt aber vermutlich nicht so klar heraus wie im Original. Die Stimmung ist düster, drohend, voller Vorahnung, wie vor dem Sturm, der dann tatsächlich kommt. Einzig Rettas Grundhaltung ist immer die von Tatkraft, Glaube, Hoffnung trotz eigenen erlittenen Leids. Alle Frauen haben diesen Fatalismus des „Männer können nicht aushalten, was Frauen erdulden müssen.“ S. 360 Bald müssen die drei Frauen nicht nur erdulden, sie müssen sich stellen.

Bis auf den für mich etwas holprigen Einstieg durch Gertrudes schlurige Grammatik, bis ich kapiert hatte, dass die ABSICHT war, konnte ich das Buch gut lesen. Ich persönlich würde es eher unter Unterhaltungsliteratur einordnen als unter anspruchsvoller Literatur, nichtsdestotrotz fühlte ich mich glaubhaft in die Situation versetzt.Insgesamt waren mir jedoch die „Bausteine“ des Plots zu typisch, zu plakativ, die drei Frauentypen (weiß und wohlhabend, „white scum“, Nachkommin von Sklaven in Anstellungen bei Plantagenbesitzern), das Geheimnis an sich.

Ich schwankte zwischen 3 und 4 Sternen und gebe 3 1/2

Veröffentlicht am 30.08.2018

Der Schatten der Vergangenheit

Teuflisches Spiel
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„Keiner bewegt sich.“ Das sollte wie ein Befehl klingen, kommt aber nur als Flüstern aus meinem Mund. „Nicht bewegen.“
In dem Moment flackert das Blaulicht von T.J.s Streifenwagen über die Wand neben der ...

„Keiner bewegt sich.“ Das sollte wie ein Befehl klingen, kommt aber nur als Flüstern aus meinem Mund. „Nicht bewegen.“
In dem Moment flackert das Blaulicht von T.J.s Streifenwagen über die Wand neben der kaputten Tür. Ein Laut kommt aus meinem Mund, ob Stöhnen oder sarkastisches Lachen, ist unklar. Denn obwohl niemand getötet wurde, kommt für uns alle doch jede Rettung zu spät. S. 328

Aber halt, vorher gab es Tote: Als Kate Burkholder zur Unfallstelle kommt, findet sie nur noch die Leichen von zwei Kindern, die durch den Aufprall aus dem Pferdebuggy geschleudert wurden. Als Kate deren Vater findet, erkennt sie in ihm den Mann von Mattie, ihrer besten Freundin aus Teenagerzeiten. Es wird nur einen Überlebenden geben. Die Familie gehört zu den Amischen, wie früher Kate selbst, bis sie den streng bibeltreuen Lebensstil bar jeglicher Annehmlichkeiten der modernen Welt verließ. Bald kommen Zweifel auf an einem Unfall mit Fahrerflucht – doch was sollte das Motiv sein? Und wer das Opfer?

Die Nähe zu Mattie macht den Fall für Kate nicht einfacher – doch immerhin verschafft sie sich damit Aufschub von ihrem eigenen Privatleben. Soll sie mit Quasi-Kollege John Tomasetti zusammenziehen oder nicht? Ihre Ängste rühren aus ihrer eigenen Erfahrung als Opfer, aber auch aus der Schuld, die sie auf sich geladen hat und die ausgerechnet jetzt ans Tageslicht zu kommen droht. Also etwas sehr viel und etwas sehr nah für die Polizeichefin von Painters Mills, Ohio.

Dieser Band ist der fünfte der Reihe und mein zweiter – man kann bedenklos einsteigen, auch wenn in diesem Buch deutlich mehr von alten Fällen gesprochen wird als im Vorgänger. Wie im Vorband liest man hauptsächlich aus der Ich-Perspektive von Kate – hier allerdings gelegentlich auch aus der von mehr-als-ein-Kollege-aber-was-dann John. Die Beziehung bekommt mir etwas zu viel Gewicht, das fand ich im Vorgänger besser. Dafür finde ich den Fall plausibler bei diesem Krimi – nein, Thriller mag ich da nicht sehen. Besonders ist wie gehabt Kates Innensicht, die fast philosophischen Gedanken zu den Auswirkungen des Jobs, die Darstellung der Polizeiarbeit, die Zweifel. Auch hier wieder Kommissar Zufall, mal sehen, ob das ein Motto ist. Und Kates Krankenversicherung kann sicher keine niedrigen Beiträge haben… Ach, und im Vorband gab es NOCH eine beste Freundin – aber eine andere?!

Ich würde die Bücher nach der Lektüre dieser deutschen Übersetzung von Band 5 und des Originals für Band 4 im Original empfehlen – über den gesamten Text ist das eher so ein Gefühl, aber so richtig stieß ich mich an S. 22 “…aber bewegen tut er sich nicht.“ – Tut???? Bitte, nein. Und ehrlich gesagt mag ich als Motiv auch einmal so altmodische Dinge wie Hass, Gier, Rache, Vertuschung – etwas „normaler“ als die durchgeknallte Version. Mag mir jemand sagen, ob das sich in der Reihe auch einmal ändert? Stark finde ich Kate und das Umfeld der Amischen, den Rest hier eher durchschnittlich.
Der Roman ist nicht sehr blutrünstig und es gibt keine sexuelle Gewalt, als Info für Sensible.
3 ½ Sterne – da ich den Vorgänger mit 4 Sternen bewertet hatte

Veröffentlicht am 21.07.2018

Braucht man das oder nicht?

Die Jahre der Leichtigkeit
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Die 576 Seiten des ersten Bandes der fünfbändigen Cazelet-„Chronik“ habe ich locker heruntergelesen, doch obwohl ich in Band zwei mindestens hineinlesen werde, bleibt das Gefühl, irgendjemand habe nach ...

Die 576 Seiten des ersten Bandes der fünfbändigen Cazelet-„Chronik“ habe ich locker heruntergelesen, doch obwohl ich in Band zwei mindestens hineinlesen werde, bleibt das Gefühl, irgendjemand habe nach dem Erfolg der Serie „Downton Abbey“ nach einem, mit Verlaub, „Trittbrettfahrer“ gesucht. Unfair? Downton Abbey erschien ab 2000 im TV, hingegen das Original „The Light Years“ erschien bereits 1990. Der deutschen (Neu-) Ausgabe vom 20. Juli 2018 ging eine Ausgabe aus den Neunzigern voran unter dem Titel Sommerjahre mit ähnlich süßlichem Cover, Übersetzerin der Reihe damals Regina Winter. Ach, und verfilmt hat man die Cazelets auch, 2001. Ich vermute mal, das sehen wir hier bald. Bei der Ferrante-„Saga“ fehlt mir immer noch Band 4, weil ich mich frage, ob es wirklich ALLER (und so vieler) Bände bedarf – für’s Verlags-Portemonnaie sicher... Saga? Chronik? Uff.

Worum geht’s? Um die Familie Cazelet und ihr (sehr eng gezogenes) Umfeld, hier in den Jahren 1937-38. Keine Adeligen wie bei Downton, keine Unterschicht wie bei Ferrante mit Bildungs-Ehrgeiz – gut situierte Holzhändler, bloß keine weiteren Ambitionen. Unmengen von Personal, ohne jedoch den Fokus auf diese Parallelwelt wie bei Downton, nur kurze Streiflichter. Wie bei Ferrante, sollte man die Liste der Handelnden neben die Lektüre legen (es gibt einen Stammbaum zu Beginn), sonst blättert man dauernd – es sind zu viele, gleich von Anfang an, später kommen noch die Schwestern der Großmutter hinzu, die Schwester einer der Ehefrauen samt Mann und Kindern, die Geliebten zweier Protagonisten samt Familie…mir war es früh wurscht, wer wohin gehörte. Der Fokus schien mir auf den Frauen zu liegen, mit einem Beigeschmack: Sex ist wie alles Körperliche für „anständige“ (Ehe-)Frauen tabu, freudlos, uninteressant, ebenso außerhalb der Reichweite wie Selbständigkeit, Berufstätigkeit, eine eigene Entscheidung oder Meinung und der Ansatz der Erfüllung eigener Interesssen. Die zwei zu Bildung und eigenem Denken anders angelegten Charaktere, die Lehrerin Millicent und die ledige Cazelet-Schwester Rachel, sind dann gleich auch keusch angelegt, die eine fast mittellos und häßlich, die anderere rückenleidend und verdammt zur ewigen Selbst-Aufopferung, beide eher völlig unerfüllt liebend. In DER Häufung etwas zu viel. Selbst die eine glückliche Ehe krankt daran, dass jeder stets mit Bedacht tut, was der andere vermeintlich will, aber beide tatsächlich gar nicht mögen.

Einzig die Kinder empfand ich als komplexer gezeichnet, da kann zum Beispiel der Junge Teddy gleichzeitig dümmlicher Hedonist sein, Unterdrücker der Jüngeren und geduldiger Retter der Katze von Polly. Dem wohl geschuldet, lagen mir die Kinder näher, die Mädchen Louise, Polly, Clery speziell, Töchter je eines der Cazelet-Söhne. Da schwingt einiges an Andeutung in den Zeichnungen der Mädchenfiguren mit; Clery mit ihrem schriftstellerischen Talent und der bösen Stiefmutter (natürlich jung, dümmlich, ichzentriert), Polly mit all ihren Ängsten (um die Mutter, einen möglichen Krieg) und Louise, etwas verwirrend bezüglich der erfahrenen sexuellen Belästigung, von der später nicht wieder die Rede ist, mit Schauspieler-Ambitionen. Die weitere Andeutung liegt natürlich in der Zeit: während 1937 die Kriegserfahrung der Söhne dargestellt wird, steht 1938 im Zeichen dessen, von dem dem Leser die ganze Zeit bewusst ist, das es kommen wird, während die Romanfiguren noch auf Chamberlains Appeasement-Politik vertrauen.

Bei den Erwachsenen ist alles dabei, der glücklose Künstler, der Ehebrecher mit dem Selbstbild der völligen Selbstverständlichkeit, die etwas schrulligen Alten, die resolute Köchin, der grummelige Gärtner. Archetypen, irgendwie weniger amüsant als bei Agatha Christie mit der ihr eigenen Bissigkeit, die man meist nicht gleich bemerkt. Unterhaltsam für nebenbei – ich fand irgendwie das Leben der Autorin deutlich spannender. http://www.dailymail.co.uk/femail/article-2533918/I-semi-literate-truant-read-Harold-Robbins-dirty-bits-Lady-Chatterly-Only-wicked-stepmother-I-today-writes-MARTIN-AMIS.html
https://en.wikipedia.org/wiki/ElizabethJaneHoward
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/zum-tode-elizabeth-jane-howards-maenner-lagen-ihr-zu-fuessen-12736285.html
Ihr Vater war Holzhändler (sic!), ihre Mutter wie Villy früher Tänzerin. Ich lese mal in die Autobiographie hinein. Ihr Stiefsohn Martin Amis schätze sie als interessanteste Schriftstellerin neben Iris Murdoch, ich mag ihm nicht ganz folgen. 3 ½ Sterne.

Veröffentlicht am 11.04.2018

«Einen Fehler durch eine Lüge zu verdecken heißt, einen Flecken durch ein Loch zu ersetzen.» (Aristoteles)

Kranichland
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Meist guter Unterhaltungsroman. Text meistens top, Lektorat meistens Flop
wie das? Nun, die Geschichte an sich, der „Plot“ ist stimmig, die Figuren sind gut gezeichnet, es gibt Entwicklungen, sie sind ...

Meist guter Unterhaltungsroman. Text meistens top, Lektorat meistens Flop
wie das? Nun, die Geschichte an sich, der „Plot“ ist stimmig, die Figuren sind gut gezeichnet, es gibt Entwicklungen, sie sind nicht eindimensional. Es ist immer wieder einmal gefühlvoll (nicht zu oft, nicht zu viel), aber einige Male dann doch sehr emotional (naja – nicht so meins; nie). Vergleichbar vielleicht mit „Die Nachtigall“, Kristin Hannah.

Text: Ich habe das Hörbuch gehört, vorgetragen von Beate Rysopp, die ich als sehr angenehm empfand und die dafür sorgt, dass ich gut mitbekomme, welcher Person ich gerade folge. Allerdings gibt es zwischen jedem der 206 Abschnitte auf den 2 mp3-CD sehr deutliche Pausen – findet ein Wechsel zwischen den Zeitebenen statt (damals und heute alternieren im Handlungsfortschritt), sind die hilfreich zur Unterscheidung, jedoch nicht auch bei einer Fortsetzung der Handlung. Dadurch war es für mich zu Beginn schwierig, die Zeiten zuzuordnen und die Charaktere. Überhaupt, die Charaktere: es wäre nett, wenn bei fast allen Hörbüchern, die ich kenne, eine grobe „Personalliste“ beiläge; und ja, ich weiß, das kann auch spoilern (im Krimi würde ja z.B. der Mörder nicht fehlen). Hier würde reichen:
die Eltern: Johannes und Elisabeth Groen
Elisabeths Mutter Käthe
die Nachbarin Hertha
Elisabeths Freundin Eva
die Kinder: Charlotte, Marlene und Theresa, sowie Theresas Tochter Anna
Tom – Miterbe von Theresa
Anton
Wieland – Mitschüler und Freund von Marlene

Die Erzählung beginnt 1936 und endet in der Jetztzeit gegen 2012, umfasst die Zeit des Nationalsozialismus, die DDR und die Zeit nach der Wende, mit Handlungsorten hauptsächlich Berlin (Ost) und Rostock. Anhand der Familie Groen und ihres Umfeldes erzählt Autorin Baumheier über die deutsche Geschichte; sie macht plausibel, woraus gerade zu Beginn viele Hoffnung schöpften bei der Staatsgründung, den Chancen auch für nicht Privilegierte, dem Anspruch auf ein Leben in Gleichheit und ohne Krieg. Parallel dazu wird durch den Strang im Heute klar, dass es mindestens ein Geheimnis gibt in der Familie.

Tochter Theresa, geschieden und Mutter einer studierenden Tochter, erhält ein Testament, das alles durcheinanderwirbelt. Sie und ein Tom, von dem sie nie vorher gehört hat, haben von Tochter Marlene geerbt. Dabei war doch Marlene schon länger tot – und wer ist Tom? Auch die inzwischen demente Elisabeth trägt eher zu weiterer Verwirrung bei: „Anton hat sie gerettet“. Anton? Charlotte, Anna und Theresa machen sich auf die Suche.

Die Familie Groen ist „linientreu“, Vater Johannes arbeitet im Ministerium für Staatssicherheit, bis auf die Anfänge lebt die Familie in Berlin. Marlene ist das Kind, das aus der Reihe tanzt. Damit zeigt sich eine kleine Schwäche des Buches, denn über das „normale“ Leben in der DDR, wie es der entsprechende Teil meiner Familie erlebt hat, erfährt man wenig. Von Johannes‘ Seite gab es weniger Versorgungsprobleme als für „Normalos“, die Übereinstimmung mit der Ausrichtung war gegeben, die meist verhassten „Russen“ (eigentlich ja Sowjets) waren in der Person von Kolja väterliche Freunde. Und die aufmüpfige Marlene ging weiter als die meisten – es wurde ja eher über die Versorgungslage gemeckert, die kleine Flucht statt der großen „echten“ in Erwägung gezogen. Mir fehlt, ehrlich gesagt, phasenweise etwas mehr DDR in dem Buch, und ich selbst bin „Wessi“. Mir fehlt der Fahnenappell, die Schulessen, Horte, Partnerbetriebe der Schulen, Demo zum 1. Mai, Feiern im Arbeitskollektiv, Wehrlager, Ferienstätten der Betriebe – irgendetwas davon; alles, was gleichzeitig „im Westen“ nicht von Bedeutung war (es gibt nur Panzer malen, Thälmann-Pioniere, Micky-Maus-Verbot). Versorgungsnot wird thematisiert nur über Elisabeths Freundin Eva, das ist angesichts der anderen Situation der Familie nachvollziehbar, aber genau wie die Situation auf dem Wohnungsmarkt wiederum eher typisch für die meisten. Einzig Charlotte durchläuft merkbar zumindest einige der Stationen des üblichen Lebens. Dafür wird aufgezählt, was man aß (ohne das Ost-Jägerschnitzel zu erklären, das Theresa mit ihrem Patienten isst). Das alles ist jedoch nur ein persönliches Befinden, es tut der weitgehenden Nachvollziehbarkeit des Buches keinen Abbruch.

Ich lese keine Liebesromane, mag keine Rührseligkeit, und weitestgehend kommt der Text bei mir „durch“. Das Ende ist mir etwas zu dick aufgetragen, kleinere Stellen zwischendurch (vor allem bezüglich Wieland – dem begegnet man ZWEI MAL zufällig??). Sehr eindringlich und gut dargestellt fand ich hingegen die Szenen im Gefängnis, die Demenz-Anfänge, die psychischen Probleme, die Änderungen bei Johannes. Bis auf die Hochzeit hatte ich alle „Personenstandsentwicklungen“ dank des (grummel) Klappentextes geahnt bei Anna, Theresa, Tom, fand das Buch aber dennoch spannend, da ich das „Warum“ erfahren wollte. Ein „Leitmotiv“ im Roman störte mich sehr: ALLE Probleme hätten geringer sein können, wenn man miteinander geredet hätte – und vor allem, wenn man nachgefragt hätte. Was immer schief lief, es wurde angenommen, alle anderen hätten die jeweilige Person verraten, zuletzt so Theresa. Das lief auch wirklich permanent wiederholt immer gleich ab: Handlung, teils mit besten Absichten. Es wird etwas vertuscht. Schlechtes Gewissen bei denen, die es vertuschen. Weitermachen. Wenn es herauskommt, Ablehnung aller durch den, dem man etwas nicht erzählt hatte. Keiner fragt irgendwie nach, geht offensiv damit um. Das ist nicht logisch, Menschen sind verschiedenen: es müsste schlicht verschiedene Reaktionen geben.

Schlecht hingegen einiges, was ein Lektorat hätte glattziehen müssen (selbst Geschriebenes ist IMMER schwieriger zu korrigieren, das schmälert die Leistung der Autorin nicht):
Wiederholungen.
 Da bekommt z.B. erst der Vater taube Hände beim Anblick von Marlene, später die Mutter. Das ist kein gängiges Bild für überwältigte Emotionen, aber selbst gängigeres Herzrasen oder ähnliches sollten nicht beide GLEICH bekommen.
 der Text, den Johannes verfasst hat, wird zweimal hintereinander vorgelesen – in kurzem Abstand, wozu?
Logiklücken
 Johannes und Anton schreiben einander. Die DDR hat großen Aufwand ins „Mitlesen“ gesteckt, gerade bei Briefen von/nach der Bundesrepublik UND Kolja hatte ein Augenmerk auf Johannes. Und die Briefe gingen durch? Warum kein Bote stattdessen, man muss hier nicht den gesamten Inhalt ändern.
 Anton unterschreibt an Johannes mit Doktortitel – wie logisch ist das in privaten Briefen, wenn man nicht dem anderen irgendetwas damit sagen will? Ins Hotel in Dresden checkt er ein ohne Titel
 Anton gibt seiner Enkelin Schlafmittel, die sie einen Tag außer Gefecht setzen, also fast Narkose. Er ist Arzt, aber nicht ihr Arzt – es könnte zu Unverträglichkeiten kommen bis hin zum Tod. Das tut niemand, von der rechtlichen Komponente ganz abgesehen
 (etwas verschleiert formuliert, da sonst Spoiler) Das wirkliche Alter des Babys soll vertuscht werden gegenüber Charlotte, damit sie keinen Verdacht schöpft – aber später hat das erwachsene Kind Geburtstag und Alter genau so, wie es korrekt ist. Wie logisch ist das?
 die späte Hochzeit – eigentlich entdeckt man so etwas bei der Beerdigung, Totenschein, Stammbuch, Behörden? Von vorangehender Pflege einmal ganz abgesehen, da melden sich Behörden ebenfalls
 der Lungenkrebs am Ende. Chemos/Bestrahlungen hatten in meinem Umfeld immer so eine Dauer von ½ Jahr oder einem Jahr – Ausnahme: man hat das von Anfang an gestreckt, weil ohnehin keine Hoffnung auf Heilung bestand, nur auf Verzögerung, oder es kam zu Unverträglichkeiten. Von einem Rückfall spricht man, wenn es nach der Behandlung erst einmal Stillstand oder Heilung gab. Hier gibt es die Diagnose und 4 Monate später einen Rückfall? Verschlimmerung wäre hier passender. Und: Lungenkrebspatienten ersticken meistens (wenn nicht etwas anderes vorher versagt). Und hier sitzt der Patient aufrecht am Kaffeetisch kurz vor Ende?

Das ist das Debüt von Anja Baumheier, ich möchte fast keinen der Kritikpunkte ihr anlasten, bis auf die Wiederholungen im Verhaltensschema und die Zufälle bei Wieland: bei so etwas hat ein Lektor etwas zu merken. Der Stil ist mitreißend und der Vortrag von Frau Rysopp hat dafür gesorgt, dass ich die Mängel fast nicht bemerkt hätte, wäre es nicht so gehäuft gewesen.

Geschichte an sich 4 ½ Sterne.
Gestaltung des Audiobuchs, Audiobuch generell, Lesung: 4 Sterne (Lesung dabei besser)

Die vielen Fehler, die Wiederholungen, ein paar Klischees… 2 ½ Sterne.
Also gesamt 3 ½ Sterne.
Ich mache jetzt „Welpenschutz“ für ein sonst tolles Debüt, weil ich nur 3 Sterne echt schade fände, das hat die Autorin nicht verdient.

Veröffentlicht am 01.04.2018

„M. Poirot, auf die eine oder andere Weise muß ich meinen Gatten loswerden!“

Dreizehn bei Tisch
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O: Lord Edgeware Dies 1933. Meine Version ist von 1986 bei Goldmann, übersetzt von Dr. Otto Albrecht van Bebber, schon für die deutsche Erstausgabe von 1934. von 2015 gibt es eine Neuübersetzung von Giovanni ...

O: Lord Edgeware Dies 1933. Meine Version ist von 1986 bei Goldmann, übersetzt von Dr. Otto Albrecht van Bebber, schon für die deutsche Erstausgabe von 1934. von 2015 gibt es eine Neuübersetzung von Giovanni und Ditte Bandini für den Hamburger Atlantik-Verlag. Im Buch erscheint Poirot zum siebten Male, Hastings zum fünften, Inspektor Japp zum vierten Male.

Bei einem Theaterbesuch erleben Poirot und sein treuer Hastings Parodien der Schauspielerin Carlotta Adams. Im Verlaufe des folgenden geselligen Beisammenseins verkündet eine andere bekannte Schauspielerin, Jane Wilkinson: „M. Poirot, auf die eine oder andere Weise muß ich meinen Gatten loswerden!“ S. 12 Ihr Gatte ist Lord Edgeware. Und Lord Edgeware wird tatsächlich ermordet. Fortan gilt es einen Wust an Zusammenhängen, Verwechslungen, zufälligen Kommentaren und Hintergründen zu durchwaten, um den wahren Täter aufzuspüren.

Ich habe das Buch zum letzten Male vor sehr langer Zeit gelesen und konnte mich kaum erinnern. Jetzt ist mir gerade fast schwindelig aufgrund der rasanten Lösung und Lösungssuche. Wenn ich mich nicht irgendwo habe geschickt von Agatha Christie einwickeln lassen, passt die Lösung – mir passt jedoch nicht die angeblich zwingende Logik einiger von Hercule Poirot geäußerter Zusammenhänge (ich sage nur Goldzahn und weltweite Gebräuche – der sollte sich einige Regionen Osteuropas ansehen). Dazu waren einige Zufälle zwingend erforderlich für den Erfolg des Mordplans: Das Döschen durfte nicht entdeckt worden sein bis nach dem zweiten Mord und das Gift durfte nicht auf dem Weg vom Hotel nach Hause wirken, sondern erst dort (keine Sorge: das versteht erst, wer das GANZE Buch gelesen hat). Direkt: es ist ein wenig konstruiert in der Herleitung, dazu einige Zufälle von parallelen Handlungen.


Trivia
„Ein guter Titel übrigens: Lord Edgeware stirbt. Würde sich fabelhaft auf einem Bücherstand machen.“ S. 88 So äußert es hier einer der Protagonisten – was für einen Schalk im Nacken die Autorin hatte! So lautet ja dann auch der Originaltitel – der in Deutschland verwendete Titel geht zurück auf eine Gesellschaft, die im Buch beschrieben wird.

Laut Wikipedia heißt Martin Bryan im Original Bryan Martin. Sinn? Keiner. Geschickt wurde hingegen die fehlende Ecke umgesetzt – das würde hier jedoch spoilern. Wer interessiert ist, lese NACH dem Buch bitte hier https://de.wikipedia.org/wiki/Dreizeh...

Poirot liegt lange falsch, doch das hindert ihn nicht an Bemerkungen wie: „Sie, Hastings, kommen diesem hundertprozentig normalen Menschen jedenfalls so nahe wie möglich. Sie haben glänzende Momente, in denen Sie sich über den Durchschnitt erheben, und wiederum solche, in denen Sie – ich hoffe, Sie verzeihen mir! – in merkwürdige Tiefen der Stumpfheit und Blödheit hinabsteigen; doch alles in allem sind sie erstaunlich normal.“ S. 96 sowie „Im übrigen könnten sie genausoviel wissen wie ich, wenn sie den Verstand, den Ihnen der liebe Gott mitgegeben hat, gebrauchen würden. Manchmal freilich, mein guter Hastings, bin ich versucht zu glauben, daß er Sie aus Versehen bei der Verteilung überging…“S. 112 Also, ich persönlich würde ja auf solche Freunde verzichten – an Hastings Stelle.

Hastings ist verheiratet und lebt mit seiner Frau auf der gemeinsamen Ranch in Südamerika – aber ist immer wieder ziemlich lange bei Poirot in London, anscheinend nicht unbedingt aus geschäftlichen Gründen. Ich fände das nicht so toll, wäre ich Mrs. Hastings.

Es gibt einige Referenzen zu anderen Werken:
Es wird des Elisabeth-Canning-Falls erinnert in Kapitel 7, S. 50. Wikipedia vermutet einen Hinweis auf „Murder on the Links“ von 1923, deutsch „Mord auf dem Golfplatz“; wobei die Maße des Hinweises nicht stimmen – hier 4 Fuß, dort nur 2 Fuß Länge.
Ein Verweis folgt auf einen Fall mit Lady Yardly S. 121
Da untersucht Poirot das Verschwinden der Stiefel eines Diplomaten – ein Kokainschmuggel S. 153 – laut Wikipedia identisch mit einem Fall von Tommy und Tuppence in „Partners in Crime“ von 1929, deutsch „Die Büchse der Pandora“. Die Haarfarbe der Täterin stimmt nicht überein.


Zeitgeist
Schwer verwirrt las ich dieses hier als zweites: „Sie war ein ausgeglichenes junges Mädchen mit einer angenehm weichen Stimme. …Ein vornehmer Charme umgab sie. Ihr fehlte vollkommen jedwede mißtönende, unangenehme oder kreischende Note. Wie ein menschgewordener sanfter Gleichklang erschien sie mir mit ihrem dunklen Haar, den ziemlich farblosen blauen Augen, dem blassen Gesicht und dem beweglichen, empfindsamen Mund. Ein Gesicht, das einem gefiel… S. 17, die schwärmerische Beschreibung von Carlotta Adams durch Hastings. Ich nenne das positiv.
Und zuvor hatte die Autorin ihren beiden Protagonisten folgendes in den Mund gelegt. Poirot: „Aber was Ihre Frage betrifft, so glaube ich, daß Miss Adams Erfolg beschieden sein wird. Sie ist schlau und noch etwas mehr. Zweifellos haben Sie bemerkt, daß sie Jüdin ist?“
Bisher hatte ich es zwar nicht bemerkt, aber nun, da mein Freund es erwähnte, sah auch ich die schwachen Spuren semitischer Vorfahren.
„Und da wir von Gefahren sprechen, so könnte für sie die Liebe zum Geld gefährlich werden. Liebe zum Geld lenkt solche einen Menschen oft vom klugen und vorsichtigen Pfad ab.“ S. 9f
Nun, es gibt in der Literatur über sie durchaus auch den Hinweis auf (mindestens) die Möglichkeit antisemitischer Strömungen. MEINE Lieblingsautorin? Ja, es gibt einen Passus wie den zweiten erwähnten (der zuerst im Buch auftaucht). Es gibt aber auch die Beschreibung der jungen Frau aus der Sicht von Hastings, die sehr positiv ist. Einfach nur Zeitgeist, eine damals übliche Bemerkung, wie das auch im Buch oft kolportierte Misstrauen gegenüber allem „Unenglischen“, Ausländern, sehr gepflegten Männern, Linken? Ich lasse das an dieser Stelle im Raum stehen - halte da aber ein deutlicheres Augenmerk darauf.

Der Begleiter von Carlotta - verwechselt Hastings: „Wenn wir eine Horde Chinesen wären, würden wir uns gegenseitig überhaupt nicht mehr erkennen.“ S. 18 und weiter, der gleiche „Jedenfalls bin ich kein verflixter Nigger!“ S. 19

Da gibt es einen Butler, schön wie ein griechischer Gott und mit weicher weiblicher Stimme – Hastings misstraut ihm. Später wird über den Butler berichtet „Scheint in ein paar der anrüchigsten Nachtclubs verkehrt zu haben – nicht etwa die landläufigen Lokale dieser Art. Nein, etwas viel Widerlicheres und Schmutzigeres, und deshalb von einer gewissen Menschengattung sehr gesucht.“ S. 108 Ich frage mich, ob das 1933 die Umschreibung für ein Bordell oder eine Schwulenbar sein sollte (nein, ich erkenne hier keine Homophobie bei Christie, eindeutig nur bei der Polizei und bei Hastings – und der lebt immerhin immer wieder mit Poirot zusammen, auch darüber ist irgendwo etwas geschrieben worden…)

Ausdrücke, die mich belustigten waren S. 53 „Heutigentags“ und „schwergehalten“ in S. 114 „Es hat schwergehalten“, sagte er, „aber etwas sind wir doch vorwärtsgekommen.“ sowie S. 120 altfränkisch – das hatte ich lange nicht mehr gehört. Dazu scheint mit einer „Droschke“ ein Taxi gemeint zu sein (man klopft an die Scheibe und der Droschkenkutscher hält das Taxi an S. 126).


Also: deutliche Schwächen, einige (mindestens sprachliche) Griffe deutlich daneben - ich verstand auch zunehmend nicht, was Hastings an Poirots Seite hielt.
Unterhaltsam. 3 ½ Sterne