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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 31.10.2016

Gerne mehr vom Autor Maurer – aber der Kabarettist Maurer nervt mich hier

Schwindelfrei ist nur der Tod
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Kabarettist Maurer unterbricht Autor Maurer mit einer Art "Werbepausen" - und damit meinen Lesefluss - den Autor allein (oder einfach etwas weniger vom Kabarettisten) hätte ich toll gefunden. Das ist mein ...

Kabarettist Maurer unterbricht Autor Maurer mit einer Art "Werbepausen" - und damit meinen Lesefluss - den Autor allein (oder einfach etwas weniger vom Kabarettisten) hätte ich toll gefunden. Das ist mein erster Jörg Maurer – und damit auch das erste Buch mit seinem Kommissar Jennerwein (für den ist es Band 8), angelegt als sogenannter Alpenkrimi (wobei das nicht so relevant ist – ja, es wird teils Dialekt weniger geredet als vielmehr gegrantelt; und irgendwo muss so eine Handlung schließlich angesiedelt sein.)

Ich habe ein paar Anläufe (zu viel?) benötigt, in das Buch hineinzukommen, war im Anfang sehr enttäuscht: Humor ist ja immer so eine Geschmacksfrage. Damit spielt Autor Jörg Maurer reichlich – das geht, für mich, manchmal gut, so wie in seiner Anmerkung, die historisch belegte Bankräuber-Brotzeittüte würde noch heute bei Käfer verkauft (das Buch erzählt von einem Banküberfall in den 70er Jahren, bei dem die Polizei genau diese Brotzeit“packerl“ geholt habe). An anderen Stellen wirkt die Beschreibung eher prätentiös auf mich, so bei der Einschätzung eines Strafgefangenen mit der Figur einer Eiche „Jennerwein tippte bei der Eiche auf einen Sportmix aus Boxen, Rugby, Catchen, Gewichtheben, Mühlsteinwerfen und Wärmflaschenaufblasen.“ S. 38 oder S. 7 „Eine der Prachtalleen der Landeshauptstadt, die sonst so geschäftige Prinzregentenstraße, lag da wie eine zertretene Spaghettinudel“. Na ja. Das ist dann eher so, das ich mal wieder zum Lachen in den Keller gehen muss.

Autor Jörg Maurer ist Buchautor und Kabarettist – ein Interview zeigt mir, der IST so. http://oberlandguide.de/oberlandreport/items/foehnlage-in-garmisch-partenkirchen.html
Er schreibt an sich unterhaltsam und spannend, nimmt aber, ähnlich wie in den 80ern die „Kottan“ – Reihe im Fernsehen, das gewählte Genre nicht wirklich ernst – oder auch sich selbst zu sehr, Bildungsbürgertum-Wissen, wie die Hauptperson aus „Der Tod in Venedig“ zu nennen, wechselt mit frei erfundenen Fakten. Das muss man mögen – oder auch nicht. In jedem Falle führt das zu einer gewissen recht eigenen Struktur, mit einem Rahmen wie beim sogenannten „Privatfernsehen“: Krimihandlung wechselt mit „Werbepausen“, in denen wird die gesamte an Experten reiche (fiktive) Familie Stubenrauch aufgeboten.

Die Krimihandlung selbst springt zwischen verschiedenen Zeitebenen (ein Bankraub von 1971, mehrere Handlungsstränge in der Gegenwart) – den Part mochte ich. Kleinere Einschränkungen sind dabei, dass der Autor seine Kapitelanfänge teils etwas arg abgehoben losschickt „…der Himmel war blutig und roh, überall lagen Wolkenkadaver herum, aus denen die aurorarote Sauce tropfte.“ S 110, für den Rest „kriegt er sich dann meist ein“. Na ja, oder auch nicht, z.B. umarmt der Kriminalhauptkommissar Jennerwein an einer Stelle die Polizeipsychologin, und „Geigen erklangen aus der Ferne, eine süße Melodie umschmeichelte sie beide. Dann löste sie sich von ihm, und die Geigen verstummten.“ S. 95 Ähnlichkeiten zum Film wie auch im „Nachspann“ sind rein zufällig. Auch einige Handlungsstränge bleiben unaufgelöst, so das Schicksal der auf dem Fels Gestrandeten.

Fazit: auch im Fernsehen sinkt zunehmend meine Toleranz für Werbeunterbrechungen – vor allem die häufigen sehr kurzen Spots in US-Manier nerven, wie hier auch im Buch (nur dass ich in Schriftform noch weniger „trainiert“ oder willens dafür bin). Ich will in ein Buch abtauchen, vor allem bei Krimis und Thrillern, nicht dauernd auf Distanz gehen (müssen). Auf der Bühne/als Lesung hingegen hätte ich ziemlich sicher Spaß. So bin ich leider eher genervt.

Veröffentlicht am 17.10.2016

Terminal – oder: der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert

Drehtür
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Eine Frau steht außen vor einer wenig frequentierten Drehtür des Flughafens in München und raucht. Die Frau ist Asta Arnold, ihr Gepäck ist verloren. Der Leser nimmt Teil an ihren Gedanken.

Davor gibt ...

Eine Frau steht außen vor einer wenig frequentierten Drehtür des Flughafens in München und raucht. Die Frau ist Asta Arnold, ihr Gepäck ist verloren. Der Leser nimmt Teil an ihren Gedanken.

Davor gibt es kurze Gedanken über den Weg dorthin – danach, ebenso kurz, über den Weg wieder hinein, Terminal. Ja, das ist gerade etwas, was eine Art Hommage sein soll daran, wie die Autorin ihre Hauptfigur durch Wortspiele driften lässt – im Sinne freier Assoziationen, zum Beispiel, Blitzgewitter Blitzartig artiger Blitz. Es passiert – nichts.

Asta sinniert über ihr Leben nach, erinnert sich an Stationen – sie ist ausgebildete Krankenschwester, 65 Jahre alt, tätig gewesen für internationale Hilfsorganisationen an den verschiedensten Orten der Welt. Auch darüber sinniert sie , sucht den Sinn „Helfen ist geil und macht geil: machtgeil.“ S. 37 Sonst sind viele, sehr viele Sätze lang, komplex, verlieren sich fast: „Einen wundervoll roten Schopf hatte sie, feine helle Porzellanhaut und flaschenglasgrüne Augen, was allerdings, ihre Mutter muss eine Ignorantin gewesen sein oder Carmen als Neugeborenes komplett kahl, nun gar nicht zu diesem feurigen Rufnamen passte – und mir neidischem Trampel Anlass zum Spott gab, wenigstens zu diesem.“ S. 17 Diese Sätze machen Astas Gedankenwelt (be)greifbar. Weiter im Sinne der freien Assoziation nimmt Asta Blickkontakt auf, erinnert sich anhand derer, die sie sieht, an Menschen aus ihrem Leben – oder sind es gar diese selbst? Projektionen? Ihre Gesundheit? Vergessen, wie so manches?

Blickkontakt, dabei bleibt es, etwas zu sagen fällt ihr immer schwerer. „Kaum verliebt, das war ich öfter gewesen.“ S. 138 Asta geht lieber weg. Auch das eine, das erste Mal, das das letzte ist, woran sie den Leser teilnehmen lässt.

Ich mag kaum wieder aus dieser Betrachtung hervortreten, die sich fast zwingend dem Stil des Buches unterordnetet, dennoch: Der Schreibstil ist wunderschön. Die Sprache grandios. Nichts zu viel. Selbst die kleinen Drehtürsymbole, verstreut über den Text, sind punktgenau gesetzt, leiten jeweils Übergänge ein; ich lade zum Nachspüren ein. Dennoch. Mir fehlt etwas mehr an Handlung, Handeln, nicht nur abgehandelt werden, Behandelnden zusehen.

Veröffentlicht am 16.10.2016

„Ein Idiot, der davon träumte, unbehelligt zu bleiben…“

Die Witwen
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Gefällig beginnt der Roman und gefällig ist auch das Leben der vier Frauen, Freundinnen seit der Einschulung, gefällig ist auch die Sprache der Autorin. Gefällig - so etwas wie nett.
Die „Witwen“, das ...

Gefällig beginnt der Roman und gefällig ist auch das Leben der vier Frauen, Freundinnen seit der Einschulung, gefällig ist auch die Sprache der Autorin. Gefällig - so etwas wie nett.
Die „Witwen“, das sind vier Frauen, Freundinnen seit der gemeinsamen Einschulung in Berlin, die jetzt in Steinbronn leben, zwischen zwei Moselarmen:
„In einem solchen buchstäblich von allen Seiten umfassten Ort einsam zu sein, ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit – und doch gelang es vier Frauen, nicht mehr jung, aber längst nicht alt. Nur ratlos. Und irgendwie übrig.“ S. 1 „Lasst uns etwas erleben!“ („Witwe“ Laura) S. 4 wird beschlossen, man sucht per Annonce einen Chauffeur, findet Bendix und fährt los, über Trier die Mosel entlang bis zur Moselquelle.

Aus dem Roadmovie wird kapitelweise Lebensbeichte, als das Leihfahrzeug beim Hartmannswillerkopf, der Gedenkstätte zum Ersten Weltkrieg, symbolträchtig den Dienst verweigert. Keine der Frauen ist wirklich Witwe. Der von seiner Freundin verlassene Bendix, eigentlich studierter Philosoph und Geschichtswissenschaftler, definiert es so: „Er [Bendix] hatte keinerlei Wissen über ihren zivilen Status und nannte sie auch keineswegs Witwen, weil er annahm, ihren wären die Männer weggestorben. Aber es schwang etwas bei ihnen mit, das ihm zu benennen schwerfiel, außer mit: verwitwet. Als hinge allen eine zarte Schleppe aus Trauer und Abgelebtem an. Aus seiner Sicht war er auch Witwer. … Witwenschaft als Abwesenheit von Zukunft, Witwenschaft als Zustand der Abhandenheit.“ S. 36 „Nicht Männer waren ihnen abhandengekommen, sondern die Zuversicht oder die Verwegenheit oder die Fantasie.“ S. 20

Jeder der fünf Protagonisten, ja, auch Bendix gehört irgendwann dazu, erzählt. Das geschieht milieugerecht gebildet, eloquent – man findet für sich kleine Sätze zum Herausschreiben wie „Witwe“ Pennys „Im Traum sind wir nicht die Summe unserer Jahre, sondern die Fülle unserer Erfahrung.“ S. 130; das geschieht versöhnlich (wobei mir der Schluss etwas zu viel rosarot andeutete); das geschieht vor allem voller Sprachmeisterschaft, wie dem Namen des Hundes, Zwiebel, er ist so vielschichtig“ S. 7; „In ‚Spanisch‘ steckte ‚panisch‘ “ S. 111 oder weiteren Wortspielen wie Pennys „Man kann Verwobenes auch wieder auftrennen, aufrebbeln, rebellieren.“ S. 42 Ich mag so etwas, aber es wird mir hier gelegentlich zu viel des Guten. Wer das ebook hat, möge z.B. nach „Erstreckung“ suchen im Text.

Ein Buch, das wohl eher Frauen gefallen wird, das auch eher nicht bei jüngeren Lesern Anklang finden wird – das mich aber, obwohl ich mich unbestimmt deutlich zu jung fühlte für die Witwen, mit seiner Thematik der Freundschaft und der Geheimnisse und Verletzungen, die wir mit uns herumtragen, dann doch ganz gut gefiel – besonders mit Blick auf die Milde, mit der man miteinander umgehen kann, sollte. Gefällig - so etwas wie nett, aber doch so meisterhaft in der Sprache.

Veröffentlicht am 14.10.2016

Wo Rauch ist, ist auch Feuer

Im Wald
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"Wo Rauch ist, ist auch Feuer“ dürfte einer der Standard-Sprüche sein zum Thema, ob sich denn hinter Gerüchten auch ein wahrer Kern verbergen könne. In Nele Neuhaus nunmehr achtem Roman (Vorkenntnisse ...

"Wo Rauch ist, ist auch Feuer“ dürfte einer der Standard-Sprüche sein zum Thema, ob sich denn hinter Gerüchten auch ein wahrer Kern verbergen könne. In Nele Neuhaus nunmehr achtem Roman (Vorkenntnisse sind nicht nötig) um ihre Kriminalpolizisten Oliver von Bodenstein und Pia Sander, vormals Kirchhoff, beginnt es mit dem Feuer. Gleich zu Beginn brennt ein Wohnwagen ab im Taunus, in den Überresten wird eine Leiche gefunden.

Aber schon bald lesen wir besonders vom sprichwörtlichen Rauch - es geht nicht nur darum, was sich hinter so einem dörflichen Geflecht verbirgt mit seinen alten Freundschaften, Abhängigkeiten, Gerüchten, sondern vor allem auch darum, inwieweit diese Verflechtungen Ursache dafür sein können, dass Menschen zu Schaden kommen. Bodenstein stammt aus dem Dorf, aus dem auch die Eigentümerin des Wohnwagens kommt, er ist dort aufgewachsen und seine Eltern leben noch dort. Wie sich bald herausstellt: Es war nicht die letzte Leiche – und auch nicht die erste. Und Bodensteins Bezug zu den Fällen geht weit darüber hinaus, „nur“ im Ort aufgewachsen zu sein…

Dabei hat der Ermittler doch gerade eben genug eigene Probleme: seine aktuelle Beziehung ist am Schwächeln, er fühlt sich aufgerieben zwischen längst vergangenem beruflichen Enthusiasmus und der Ernüchterung durch die Realität, seine Exfrau überlässt ihm die gemeinsame jüngste Tochter im Vorschul-Alter, ohne sich an Absprachen zu halten. So wird nicht nur sein deshalb geplantes Sabbatical zum Problem für seine Kollegin Pia Sander, sie muss auch damit klarkommen, inwieweit Oliver Bodenstein nicht nur ihr Noch-Chef ist, sondern auch noch in der Lage, persönlich objektiv zu bleiben.

Was hat der alte Pfarrer gesehen? Was geschah wirklich in der Vergangenheit von Rosie? Und was geschah mit Artur, dem verschwundenen Kindheitsfreund von Oliver von Bodenstein?

Die Stärke dieses Krimis liegt in der glaubwürdigen Schilderung des dörflichen Milieus, mitsamt dem Misstrauen gegenüber Zugezogenen, dem lebenslangen, teils generationsübergreifenden Beziehungsgeflecht zwischen Familie, Freundschaft, Liebe, Abhängigkeit und Neid. Das jedoch hatte die Autorin bereits mit „Schneewittchen muss sterben“ geliefert - auch dort schon handwerklich gut, jedoch bot sich dem Leser die Zuflucht, sagen zu können, dass das bei ihm im Ort ganz anders sei. Weit gefehlt, wie hier klar wird: Im aktuellen Roman erweitert Neuhaus das ganze noch um Rückblenden in die Kindheit, darum, wie es sich anfühlt, durch die Konfrontation mit den Ängsten und Freuden der frühesten Jugend wieder in das damalige Ich zurück katapultiert zu werden, wieder Teil jenes Geflechts zu sein, ob freiwillig oder nicht. Nicht nur hier ist der Roman düster, spielt mit Elementen des Psychothrillers (Stichwort: Klaustrophobie) – die gesamte Handlung ist unterlegt mit einer gewissen Melancholie. Was sonst gefiel? Man kann jeden Band der Reihe ohne die anderen lesen; ungeachtet dessen entwickeln sich die Charaktere wohltuend fort, sind Menschen mit Ecken und Kanten. In diesem Band hat man sich (endlich) entschlossen, ein Personenregister und eine Karte mitzuliefern – Frau Neuhaus neigt zu einer gewissen Personalfülle. Das wäre dann auch das einzige Manko – es sind doch wieder reichlich viele Personen… aber da ich das Buch praktisch über Nacht auslesen MUSSTE, dafür nur einen knappen halben Stern Abzug, die spannende Handlung macht es wett…4,5 Sterne aufgerundet.

Veröffentlicht am 04.10.2016

„Am Boden des Zylinders ist nichts“

Nach einer wahren Geschichte
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„Nach einer wahren Geschichte“ hieß bei mir während der Lektüre (bis vor dem letzten Kapitel) „Delphine de Vigan“ – ein Freud'scher Fehler für das Buch aus Sicht einer Ich-Erzählerin, die sehr auf die ...

„Nach einer wahren Geschichte“ hieß bei mir während der Lektüre (bis vor dem letzten Kapitel) „Delphine de Vigan“ – ein Freud'scher Fehler für das Buch aus Sicht einer Ich-Erzählerin, die sehr auf die Autorin selbst anspielt. Sie berichtet von der großen Erschöpfung und Überforderung infolge der Veröffentlichung ihres vorangegangenen Romans (der wiederum eindeutig auf Vigans „Das Lächeln meiner Mutter“ anspielt), hervorgerufen insbesondere durch ihr Gefühl, von den Reaktionen der Öffentlichkeit darauf überrollt worden zu sein, davon, wie stark sich völlig Fremde identifizieren mit den geschilderten psychischen Problemen, allen Details nachspürten, sie auf ihren Realitätsgehalt nachprüften; sie fühlt sich wohl vereinnahmt.

Das Buch wirkte sehr „französisch“ auf mich, Lesern der Leserunde ging es ähnlich – ich kann das nicht wirklich genauer spezifizieren: Ist es die Tatsache, dass das Leben in Paris, mit den Gassen, den Bars quasi eine eigene Figur in der Handlung ist? Oder ist es dieser Stil wie auch in manchen französischen Filmen, bei denen man irgendwo einsteigt, sich nicht so ganz sicher ist, was genau die Handlung ist – aber es ist irgendwie sehr elegant und vor allem sehr eloquent – und genauso „irgendwo“ ist das Werk auch wieder vorbei. Ja, da ist durchaus ein süffisanter Unterton von mir enthalten und ja, auch ich bin wohl eher von US-Filmen oder der Überschaubarkeit der Handlungsfolge deutscher Filme geprägt. In den meisten Phasen (vom letzten Kapitel abgesehen) wirkte die „wahre Geschichte“ sehr selbstbezogen auf mich – das sollte vielleicht nicht überraschen bei einem (eventuell?) autobiographischen Werk, aber es macht für mich durchaus einen Unterschied aus, ob jemand wie Meyerhoff „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ über längere Zeiträume und verschiedene Personen schreibt – oder wie hier oft gefühlt auf der Stelle verharrt (ja, bis auf das letzte Kapitel). "Aber jedes Schreiben über sich selbst ist ein Roman. Der Bericht ist Illusion. Kein Buch dürfte diese Bezeichnung tragen." S. 76. Selbst Jan-Philipp Reemtsma schreibt in dem Bericht über seine eigene Entführung „Im Keller“ nach meinem Empfinden weniger über sich. Das Buch liest sich leicht, angenehm – aber ich brauchte mehrere Anläufe ob des „Kreisens um sich selbst“. Phasenweise wurde mir dabei langweilig, auch wenn viele Sätze im Buch „hübsch“ zu lesen sind: „Wenn du nicht die kleine Verrücktheit an jemandem erkennst, kannst du ihn nicht lieben. Wenn du seinen Funken Wahnsinn nicht erkennst, verpasst du den Menschen. Der Funke Wahnsinn in ihm ist die Quelle seines Charmes.“ S. 128

Abwechslung brachten Gedanken zu Parallelen in Buch und Film: Ist „L.“ nur imaginär wie bei „A beautiful Mind“ oder „Fight Club“ – ist sie eine Gestörte, die das Leben von Delphine übernehmen will wie in „Jung, weiblich, ledig sucht…“? Ich musste beim Lesen recht früh an einen Val McDermid Thriller namens „The Vanishing Point“ (deutsch: „Der Verrat“ – KEIN Tony Hill/Carol Jordan – Fall, sondern eigenständig) denken – es erschien mir im Anfang so, als sei „L.“ praktisch die Stephanie im Thriller, eine Ghostwriterin, die aber immer mehr ins Leben einer „Klientin“ gezogen wird, praktisch der umgekehrte Ansatz. Damit hat die Autorin wohl erreicht, was sie wollte, da sie mich in das Verzerrspiel hineingezogen hat, ob L. existiert, das alter ego ist, eine vielleicht gefährliche Fremde, die gespaltene Persönlichkeit – ob L. = elle, also „sie“ zu lesen ist. Ja, alle Gedanken kamen. Im Anfang. Im zähen Mittelteil interessierte es mich nicht mehr, ich wollte das Buch nur hinter mich bringen.

Interviews mit der Autorin deuten folgendes an: de Vigan war verstört davon, wie sehr Leser bei dem Buch über ihre Mutter die Authentizität jedes Satzes überprüften. „Nach einer wahren Geschichte“ sei die Antwort darauf, ein Spiel um Wahr und Falsch, Fiktion und Realität, Roman und Autobiographie. Aha. Ehrlich gesagt - das ist wie bei Menschen, die jedes Detail ihres Lebens ins Internet stellen und dann über Reaktionen erstaunt zu sein. Das ist nett als intellektuelles Gedankenspiel, hübsch anzusehen und mir zu viel, zu selbstbezogen. Ich lese Thriller, ohne mich zu fragen, wie der Autor auf so kranke Gedanken kommt – immerhin lese ich so kranke Gedanken ja selbst. Wenn bei einem Autor immer gerettete Tiere vorkommen, glaube ich, dass ihn das interessiert – oder aufregt, aber das ist mehr eine Randnotiz. Ich würde den Autor Scheibe gerne fragen, warum jemand bei „Kollisionen“ Asche isst – weil ich das nicht zuordnen kann; ob er das selbst tut, will ich nicht wissen. Ich würde bestimmte Schauspieler um ein Autogramm bitten, aber kein Selfie machen (ich fotografiere nicht einmal im Urlaub, ich erlebe ihn lieber) – ob sie verheiratet sind, Alkoholiker…interessiert mich nicht. Elena Ferrante ist gerade „enttarnt“ worden – und? Entschuldigung, aber: in China fällt gerade ein Sack Reis um. Einmal ehrlich: Autoren, Komponisten, Schauspieler etc. leben von – Publikum. Von meinem Bäcker will ich dagegen wissen, ob er sich generell die Hände wäscht, vernünftige Ausgangsprodukte nutzt, etc. Wo ist da der Unterschied? Der Bäcker lernt sein Handwerk während der Ausbildung von seinem Meister, der Schule, dem, was die Großmutter buk, unterwegs von anderen – der Schriftsteller begegnet Menschen, wird Bücher gelesen haben,…

Dann kam – das letzte Kapitel. Ohne das hätte ich das Buch zwar intelligent gefunden, aber zu meta, zu ich-bezogen, zu selbstmitleidig, zu sehr verloren im Diskurs über Fiktion und Wahrheit. Um in den Vergleichen mit der Filmwelt zu bleiben: das letzte Kapitel, und das erst auf den letzten Seiten, bietet so etwas wie den Moment in „Men in Black“, wenn der Blick von den Protagonisten zurückgeht und man sieht, wie die Erde zu einer Murmel im Spiel von Aliens wird. https://www.youtube.com/watch?v=OKnpPCQyUec
Ja, das war dort cool, das ist es irgendwie auch hier und ich fing an, mir wieder eine Gedankenkette zu machen wie „eine Person, die sich sich selbst ausdenkt. Eine zweite, eventuell ausgedacht von der ersten, bewusst oder unbewusst, die sich wiederum selbst erfindet aus Figuren, die sich jemand anders ausgedacht hat – und die erste Person schreibt dann über – Zusammenbruch meiner Tastatur. Nö.

Folgebuch, das die Autorin gerne hätte: „Sie“ von Stephen King (Schriftsteller wird von Frau gefangen gehalten und zum Schreiben gezwungen…). Dummerweise bekam ich während des mehrfachen Anlaufs auf die zwei ersten Kapitel dieses Buches so etwas wie eine Leseblockade, wollte den Teil „Depression“ nur schnellstmöglich hinter mir lassen…