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Veröffentlicht am 11.01.2019

Zurück in die Kindheit

Lustiges Taschenbuch Halloween - eComic Sonderausgabe
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Was habe ich als Kind die Erwachsenen damit verblüfft, dass ich die Handlung kannte von „Der fliegende Holländer“, „Don Quixote“ und weiterer klassischer Literatur, Sagen oder Opern – tatsächlich in Form ...

Was habe ich als Kind die Erwachsenen damit verblüfft, dass ich die Handlung kannte von „Der fliegende Holländer“, „Don Quixote“ und weiterer klassischer Literatur, Sagen oder Opern – tatsächlich in Form von Enten und Mäusen erlesen, da die „Lustigen Taschenbücher“ gerne bekannte Stoffe umsetzten. Als mir zum Jahresende 2018 für mehrere Lesechallenges noch Genres fehlten (Comic) beziehungsweise das Thema „Halloween“, war das hier ein Glückstreffer und eine tolle Reise in die eigene Kindheit!

Es exisitieren mehrere Halloween-Ausgaben; diese hat 75 Seiten, trägt den Untertitel „Gruselgeschichten aus Entenhausen“ und wurde von mir am Tablet mit der App gelesen. Der Inhalt enthält drei einzelne Geschichten mit unterschiedlichen Protagonisten, die dritte ist die bei weitem längste.

„Die Maulwurfsfalle“ ab S. 5
…ist eine Geschichte um Micky, Goofy und Minnie. Goofy hat einen Plan, um Maulwürfe aus seinem Gemüsegarten zu vertreiben – doch leider werden nicht nur die vertrieben und es gibt Ärger. Das Fazit der Geschichte: nur eine geheime Geheimwaffe funktioniert. Ich liebe die Details am Rande, wie den (Mäuserich-)Mann, der „romantisch“ zu Fuß nach Hause gehen will (in Wahrheit, um Geld zu sparen…), wie den Hund, der sich unter der panischen Menge duckt mit den Pfoten über den Ohren oder wie die Maulwürfe in der „Schluss-Szene“.
Story: Rodolfo Cimino. Zeichnungen: Maria Luisa Uggetti

„Das Monster vom Parksee“ ab S. 12
… ist ein Abenteuer, dass Mickys Neffen Mack und Muck erleben, während ihr Onkel sie für zwei Nächte allein lassen will. Die Jungs sind Fans der Sendung „Stadtgeschichten aus Entenhausen“ von Radio Entenhausen. Als der Moderator mit dem schönen Namen „Manni Tonspur“ von einem in der Kanalisation herangewachsenen Krokodil berichtet, lassen sie sich von einem Freund zu einer nächtlichen Mutprobe verleiten.
Die Geschichte spielt mit bekannten Motiven: der Spielkamerad der Gattung „ich weiß was“, „ich habe es selbst gesehen“ und „ihr traut euch bestimmt nicht“ trifft hier auf eine Geschichte aus dem Bereich der „modernen Mythen“, das für eine Zoohandlung gedachte und in die Freiheit gelangte Krokodil. Wieder gibt es tolle Details, wie den Spezial-Effekte-Profi namens „Pat Tricks“, die seltsamen Mitbürger in der Nacht, wenn sich Goofy und Micky auf die Suche machen und die Suche nach den „kleinen Jungs mit großen Ohren“. Ich verstehe allerdings nicht, warum Kevin auf S. 23 erzählt, seine Eltern seien im Theater, während man sie im Hintergrund bei einer Party im Haus sieht. Und die seltsamen Mützen (Krönchen?) der Neffen fand ich auch früher schon befremdlich.
Story: Claudia Salvatori. Zeichnungen: Silvio Camboni.

„Ein Fest im Finstern“ ab S. 19
…ist nicht nur die längste Geschichte, sondern auch die komplexeste. Ausgehend von einem häuslichen Zwist zwischen Onkel Donald und seinen Neffen Tick, Trick und Track, beinhaltet sie mehr Aspekte als ein Überraschungs-Ei und enthält noch dazu eine Moral zu Ökologie und Ökonomie – ich hatte ein wenig den Eindruck, der Schöpfer der Geschichte habe sich an eine Kindheit ohne Unterhaltungselektronik erinnert und vielleicht aus eigener leidvoller Erfahrung geschrieben. Nachdem die Neffen also ihren Onkel genervt haben erst mit langen Videospielen als auch mit lauter Musik (aus „Waggen“ = vermutlich „Wacken“?!), kommt es zu einer Wette: Donald will nicht nur Strom sparen, sondern auch beweisen, dass ein spannender Abend ohne Strom möglich ist. Seine Helfer sind Onkel Dagobert, in dessen Geldspeicher das Experiment steigt, als auch Daisy Duck, Gustav Gans, Daniel Düsentrieb, Oma Duck, (etwas unfreiwillig) die Panzerknacker sowie ein Neuling für mich, Dolly Duck. Herrlich sind die einzelnen Auftritte, so erzählt Donald so etwas wie Witze, Gustav würde gerne zaubern, Düsentrieb hat einen ganz besonderen Wecker, Daisy und Oma führen eine Parodie auf, Onkel Dagobert ist ein spezieller Profi für Schattenspiele (den Begriff „Schattentheater“ fand ich falsch gewählt) und Dolly will alle zum Gruseln bringen. Das Ergebnis der Wette dürfte Donald überraschen.
Details: in der Geschichte wird geladen zum Abend im Dunkeln, die Überschrift (im Finstern) wurde wohl von einem anderen Übersetzer bearbeitet. Toll sind die Schilder vorm Geldspeicher.
Story: Vito Stabile. Zeichnungen: Giampolo Soldati (zusammengefasst scheint dieses Büchlein fest in italienischer Hand zu sein)

Als Kind wollte ich zum Fähnlein Fieselschweif wie die drei Jungs, als Onkel aber doch lieber Micky. Und überhaupt Onkel – warum leben die alle bei ihren Onkeln? Was ist mit den Eltern passiert, Entenbraten und Mausefalle??? Ich habe mich köstlich amüsiert mit diesen Geschichten und werde sicher noch weiter in der Kindheit schwelgen bei nächster Gelegenheit. Allerdings finde ich es etwas ungünstig für dieses rein als ebook verfügbare Werk, gerade für ein von seinen Bildern lebendes, dass unvermittelt eine Seite (Seite 4) komplett leer ist, nicht einmal die Seitenzahl trägt – ich befürchtete schon eine Korruption der Datei beim Download. Aber egal, das Vergnügen war ungetrübt. 5 Sterne.

Veröffentlicht am 11.01.2019

Schall und Rauch

Ich müsste lügen
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Warum nur ist dieser Autor nicht bekannter???
So etwas intelligentes, unterhaltsames, doppelbödiges von einem Buch, so viele treffende Bemerkungen, so eine Vermischungen verschiedener Genres, das muss ...

Warum nur ist dieser Autor nicht bekannter???
So etwas intelligentes, unterhaltsames, doppelbödiges von einem Buch, so viele treffende Bemerkungen, so eine Vermischungen verschiedener Genres, das muss doch auffallen. Also von vorne.

Der 23jährige Manuel Schall wird von seiner Mutter vermisst gemeldet. Kommissarin Eva Rauch bearbeitet diesen Fall (Schall und Rauch also…Autor Popp muss sich ins Fäustchen gelacht haben). Der junge Mann hat für den bekannten Schriftsteller Herbert Will gearbeitet, als so eine Art … Assistent-Muse-Sujet. Ja, genau. Ich sehe in der Rolle des Will irgendwie einen noch etwas jüngeren Jack Nicholson, nach Shining, vor den Hexen von Eastwick – ein wenig diabolisch und (ja, und. Wem da nix einfällt, für den wirkt das Nicholson-Bild ohnehin nicht). Fortan vermischt sich in der Erzählung so einiges – da vermischen sich Genres (Polizeiberichte, Zeitungsausschnitte, Tagebücher,…), da liest die bibliophile Kommissarin sich auf der Suche nach Hinweisen durch Wills Werke, versinkt teils so in dieser Welt, dass für sie Wahrheit und Fiktion nicht mehr klar abgegrenzt erscheinen. Schreibt Will ihre Realität? Warum empfiehlt ihre Buchhändler-Freundin explizit keine Will-Bücher, zum Wohle ihrer Kunden?

Ich bin begeistert, wiederum, von Wolfgang Popp, den ich mit „Wüste Welt“ entdecken konnte (ähnlich empfehlenswert, ähnlich doppelbödig, wenn auch sehr subtil). Die beiden Bücher sind die beiden Endpunkte einer Art loser Trilogie – absolut ohne gleiche Personen und eher hinsichtlich des Wirklichkeitsansatzes zusammengehörig, wie ich ohne Kenntnis des Bandes zwei jetzt vermute. Sprachlich ist der Text, Popp immer, die reine Freude. Da wird die Kommissarin beschrieben durch „Während sie in Wills Roman weiterlas, rührte sie gedankenverloren in der Tasse. Nicht, dass Zucker in der Tasse gewesen wäre, sie hasste gesüßten Kaffee, aber das Rühren gehörte zum Frühstück, genauso wie der Espresso selbst, die Zigarette oder ein grüner Apfel. Manchmal fehlte der grüne Apfel aber auch.“ S. 23. An die Tür heften würde ich mir, als Haustier-Besitzerin und Christin völlig ungerührt, aber: „Tierfreunde und Gläubige tickten ja auch ähnlich. Beide redeten sie ins Blaue hinein. Die einen mit etwas, das sie nicht verstand, die anderen mit etwas, das es nicht gab.“ S. 67 Herrlich! Nicht meine Meinung, aber absolut köstlich!

Für wen ist das etwas? Das ist etwas ganz eigenes – ich dachte zwischendurch an „Mr Gwyn“, „Sophies Welt“ und an „Das Bildnis des Dorian Gray“, um so eine Richtung anzudeuten, wie gesagt, aber dabei ganz eigen. Und ganz genial. Leseempfehlung für den Österreicher.

Musik dazu und daraus:
https://www.youtube.com/watch?v=cC4SBm7gQys Morrissey You have killed me
Und: O fortuna, Carmina Burana (persönlicher Tipp: Alles davon!) Als Idee für die Untermalung zum Sex definitiv mal etwas anderes als "You can leave your hat on"

Veröffentlicht am 08.12.2018

„Ich vermisste plötzlich alles, was nicht stattgefunden hatte.“

Ein Winter in Paris
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„Ich vermisste plötzlich alles, was nicht stattgefunden hatte.“ S. 128


"Ein Schrei.
Kurz.
Durchdringend.
Ein dumpfer Knall." S. 31
Schreiben mithilfe von Zeilenwechseln. Ein Selbstmord.

Es ist für Victor, ...

„Ich vermisste plötzlich alles, was nicht stattgefunden hatte.“ S. 128


"Ein Schrei.
Kurz.
Durchdringend.
Ein dumpfer Knall." S. 31
Schreiben mithilfe von Zeilenwechseln. Ein Selbstmord.

Es ist für Victor, den Ich-Erzähler, das zweite Jahr der Vorbereitungsklasse für den Zugang, den Concours, auf eine der französischen Elite-Universitäten, Paris. Victor kommt aus der Provinz, der erste Student aus seiner Familie. "Ich begriff schnell, dass mir die Zugangscodes fehlten: kulturell, sprachlich und die Kleiderordnung betreffend." S. 20

Victor wollte gerade Mathieu einladen, "Vielleicht wäre es ganz nett, meinen Vorschlag anzunehmen und in den nächsten Ferien mal zusammen auszugehen. Genau. Sicher ganz amüsant. Unterhaltsam und inspirierend. Kein Stöhnen und kein Zaudern. Ich musste diese Richtung einschlagen, um das zu werden, was ich nie war - beliebt." S. 38 Er selbst ist für die Kommilitonen unsichtbar – erst nach dem Selbstmord von Mathieu, mit dem er nur beim Rauchen einige Worte wechselte, wird er für die anderen sichtbar, interessant. Jean-Philippe Blondel nutzt Satzlängen, für das Überlegen, das Zaudern, das Sich-Selbst-Bekräftigen, er nutzt Zeilensprünge, er schreibt in sehr poetischen, eindringlichen Bildern.

Victor ist ein Suchender auf ihm unbekannten Wegen, ohne viel eigene Initiative „Und außerdem bewege ich mich in einem Umfeld, das weder meine Eltern noch mein Bruder jemals kennenlernen werden … . Ich ebne mir meinen Weg.“
„Und mich hast du unterwegs aufgelesen und nimmst mich ein Stück mit?“
„Ich würde eher sagen, dass du am Steuer sitzt, oder?“ S. 76

Ich fand das Buch beim Lesen wunderbar, direkt danach und dann nochmals im Rückblick. Für mich ist das ein Text zum langsamen Lesen, zwischendurch hinlegen und hinterher darüber nachsinnen. Der Stil ist poetisch, aber leicht lesbar, den Grundton fand ich melancholisch, definitiv Winter, nicht Sommer, November, dann Februar, wie in der Handlung, melancholisch, aber nicht deprimierend. Victor ist erst unsichtbar, dann sichtbar als jemand anderes, Projektionsfläche. Dennoch bleibt er fähig, das Geschehene zu beurteilen, zum Beispiel im Gespräch mit Mathieus Vater, im für mich schönsten Satz aus dem Buch:
„Zeitweise zog er sich innerlich zurück, dann war Ebbe, und ich konnte am Strand der Sätze spazieren gehen, die wir ausgetauscht hatten, die Spuren im Sand betrachten, bevor sie weggespült wurden, den Geräuschen des Windes lauschen, das Gesagte noch einmal überdenken.“ S. 113

Ein wunderschönes Buch über die offenen Fragen des Lebens, gleichzeitig ein Buch über die Unterschiede zwischen Paris und dem Umland, soziale Zugehörigkeiten. Unter https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/ein-winter-in-paris/978-3-552-06377-8/ findet sich ein Interview zum Hintergrund, danke @parden.

5 Sterne.

Veröffentlicht am 08.12.2018

Lost

Stieg Larssons Erbe
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In Kürze: Sachbuch. Komplex, mit sehr vielen Personen und Zusammenhängen. Thema ist die journalistische Investigation zum Mord an Olof Palme. Der Journalist Jan Stocklossa recherchierte zu dem Thema und ...

In Kürze: Sachbuch. Komplex, mit sehr vielen Personen und Zusammenhängen. Thema ist die journalistische Investigation zum Mord an Olof Palme. Der Journalist Jan Stocklossa recherchierte zu dem Thema und nahm das Archiv Stieg Larssons als Ausgangspunkt (ja, der Autor der „Millenium-Reihe“ um Lisbet Salander und Mikael Blomkvist war „eigentlich“ Journalist). Wegen der Komplexität erfordert das Buch politisch-geschichtliche Vorkenntnisse – dann liest es sich jedoch sehr spannend, wenn auch gelegentlich etwas sperrig.

Am 28. Februar 1986 wurde Olof Palme, damals Regierungschef Schwedens, erschossen – wer nicht ausreichend politisch interessiert ist, um davon mindestens gehört zu haben, für den ist das das falsche Buch. Ich gehe sogar soweit, dass ich der Ansicht bin, dass man die politische Lage der Zeit mindestens grob skizzieren können sollte, um den Text in einen sinnvollen Zusammenhang stellen zu können: Apartheid, geteiltes Deutschland, Iran-Contra-Affäre, der vergangene Vietnamkrieg, Abrüstung, Kalter Krieg, Iran-Irak-Krieg, RAF, Ronald Reagan, Helmut Kohl, Margaret Thatcher. Ich war damals ein Teenager und habe das in den Nachrichten mitbekommen und zufällig vor nicht allzu langer Zeit eine Dokumentation im Fernsehen gesehen, die auf gewissen Ungereimtheiten hinwies (wer sich auf den aktuellen Stand bringen will – unten habe ich einige Links gesammelt).

Autor Jan Stocklossa hat eine Darstellung für das Buch gewählt, an die ich mich zunächst gewöhnen musste: das gibt es romanhafte Passagen, die die Handlung aus der Sicht von Stieg Larsson beschreiben – vermutlich den vielen Fans geschuldet; gleichzeitig empfand ich diese Teile als am einfachsten nachzuvollziehen. Dann gibt es die „Quellen“, Transkriptionen von Interviews oder heimlichen Mitschnitten, Briefe, Akten, Zeitungsausschnitte, Skizzen. Speziell die Briefe Larssons erzeugten bei mir eine etwas unheimlich wirkende Authentizität – leider hat man einen Schrifttypus gewählt, der die damalige Schreibmaschine darstellen sollte, aber einfach nur sehr schlecht lesbar ist (lieber Verlag: ich besitze noch alte Schulaufsätze von der Schreibmaschine geschrieben – das wäre in der Allgemeinheit nie nutzbar gewesen bei derart schlechter Qualität). Insgesamt kann man sich anhand der Quellen sehr gut in die Zeit zurückversetzen; die Notwendigkeit zum Briefweg, zu Durchschlägen im Vergleich zu heutigen Kopien oder Mail verdeutlichen die Unterschiede zum Heute zusätzlich.

Dazu kommen dann im Buch noch meist kurze Kapitel zum Fortschritt der Untersuchung des Mords - und diese fand ich teilweise problematisch. Da wird häufig eine Personen- und Faktenflut gelistet, das nächste Kapitel hat wieder einen anderen Fokus, dann geht es vielleicht vier Kapitel weiter mit einigen der Personen weiter. Darunter litt teils mein Durchblick, nach anfänglichem Zurückblättern konnte ich mich daran jedoch gewöhnen. Guter Stil ist es dennoch nach meiner Meinung nicht. Überhaupt, Stil: Gerade diese Kapitel kranken häufig an etwas, was in jedem Schulaufsatz angestrichen würde: Bezug, wo ist der Hauptsatz, Anschluss:
S. 297 „Sein Leben war 1986 erstarrt auf dieser Insel, frühere Taten verbüßt. Gestrandet in einem Land, das es offiziell nicht gab, in einem Haus, das langsam verfiel und zuwucherte.“ Warum wird hier ein Punkt statt eines Kommas gesetzt? Derlei Sätze gibt es viele.
Ähnlich mit der heißen Nadel gestrickt wirkt „er war Waffenexperte und verkaufte diese“, wen verkaufte er, die Waffenexperten? Wenn hier nicht das schwedische Lektorat geschlampt hat, war es das nach der deutschen Übersetzung.

Auf den eigentlichen Inhalt möchte ich bewusst nicht eingehen – es gibt kaum ein Buch, beim dem man ähnlich leicht viel zu viel verraten könnte. Was mir wichtig ist: ich neige nicht so sehr zu Verschwörungstheorien, ob das Bernsteinzimmer noch in irgendjemandes Haus aufgebaut ist oder Marilyn Monroe von der CIA ermordet wurde, würde mein Weltbild nicht durcheinander bringen, ist mir aber auch keine Lebenszeit wert. Stocklossa schafft es, den schmalen Grat zwischen Wahrheitssuche, Besessenheit und Verschwörung zu balancieren. Für Fans der Millenium-Bücher dürfte interessant sein, wie viele Parallelen in die journalistische Arbeit von Larsson es gab – ich werde wohl die Reihe nochmals im Licht dieses Buches lesen.

5 Sterne trotz der genannten Abzüge wegen Stil und Form – da ich schlicht nicht zu beurteilen vermag, ob diese Stocklossa anzulasten sind oder der Übersetzung. Schweden vor, das würde mich interessieren!

Zum Einstieg/Überblick:
https://de.wikipedia.org/wiki/Olof_Palme
3sat 43min-Doku https://www.youtube.com/watch?v=RE039RYTBE0

Zu den Themen im Buch:
u.a. Foto von Craig Williamson https://www.stern.de/panorama/mordfall-olof-palme--neues-buch-koennte-helfen--das-30-jahre-alte-raetsel-zu-loesen-8433034.html
Fotos von Larsson und seinem Archiv, Stocklossa, Alf Enerström, Jakob Thedelin https://www.stern.de/panorama/weltgeschehen/was-thrillerautor-stieg-larsson-ueber-den-mordfall-olof-palme-herausfand-8460786.html

Veröffentlicht am 28.11.2018

„Robert, geb. am 17. April 1947“

Atemschaukel
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„Robert, geb. am 17. April 1947“ S. 212

Intensiv.
“Alles, was ich habe, trage ich bei mir.
Oder: Alles Meinige trage ich bei mir.
Getragen habe ich alles, was ich hatte. Das Meinige war es nicht.“ S. ...

„Robert, geb. am 17. April 1947“ S. 212

Intensiv.
“Alles, was ich habe, trage ich bei mir.
Oder: Alles Meinige trage ich bei mir.
Getragen habe ich alles, was ich hatte. Das Meinige war es nicht.“ S. 7
Das ist keine sprachliche Spinnerei – der 17jährige aus der deutschstämmigen Minderheit der Siebenbürger Sachsen in Rumänien hat die Ankündigung bekommen, von den Russen ins Lager abgeholt zu werden. Es ist Januar 1945, Herrmannstadt. Nachbarn und Familie hlefen aus, mit der warmen Hose, dem Mantel.

Naiv.
„Ich wollte weg aus dem Fingerhut der kleinen Stadt“ S. 7
Unberührt von den diffusen Ängsten der anderen, wünscht sich der Ich-Erzähler das Entkommen aus der Enge. Er will weg von den konkreten Ängsten des bisherigen Lebens „Ich trage stilles Gepäck. Ich habe mich so tief und so lang ins Schweigen gepackt, ich kann mich in Worten nie auspacken. Ich packe mich nur anders ein, wenn ich rede.“ S. 9

Das Buch wurde geschrieben, nachdem sich Herta Müller, selbst in Rumänien geborene Deutsche, zu vielen Gesprächen getroffen hatte mit Oskar Pastior, angelehnt an dessen Lagerjahre. https://de.wikipedia.org/wiki/Oskar_Pastior
Auch die Mutter der Autorin war in einem Lager gewesen. 2009 - das Erscheinungsjahr dieses Buches und das Jahr, in dem Müller den Nobelpreis für Literatur erhielt.

Hunger. Heimweh. Wiederholung.
„Ich esse seit meiner Heimkehr aus dem Lager, seit sechzig Jahren, gegen das Vergessen.“ S. 25
Krankhungrig, giftschön, Hungerecho
Beim Apell sucht er im Himmel nach einem „Haken“, für seine Knochen, nachdem das Fleisch vom Körper verschwunden ist.
„Oft gab es keine Wolke, nur einerlei Blau wie offenes Wasser.
Oft gab es nur eine geschlossene Wolkendecke, einerlei Grau.
Oft liefen die Wolken, und kein Haken hielt still.
Oft brannte der Regen in den Augen und klebte mir die Kleider an die Haut.
Oft zerbiss mir der Frost die Eingeweide.“ S. 27

Die Mittel der Autorin wirken wie dumpfe Trommelschläge, die dem Leser die Eindrücke unter die Kopfhaut schieben. Es gibt viele eigene Wortschöpfungen, erfunden, um in Worte zu fassen, wofür der „normal lebende“ keinen Begriff hat. Die Wiederholungen für die ewigen Wiederholungen des Lagerlebens, der ewige Hunger mit allem und mit allen. Es geht nicht um irgendwelche Folter im Lager, es gibt sogar anrührende Fälle von Menschlichkeit. Da gibt die alte Frau aus der Region Suppe, ein Taschentuch – der eigene Sohn wurde vom Nachbarn denuziert, sitzt in einem anderen Lager. Der Ich-Erzähler gibt das Taschentuch nie weg, es wird ihm zum Pfand, wie der Satz, den die Großmutter gesagt hatte „ICH WEISS DU KOMMST WIEDER.“ S. 14

Fortlaufend finden Rückblenden und Vorausblicke des lange namenlosen Ich-Erzählers statt, ich weiß, er wird nach fünf Jahren nach Hause kommen, ich erfahre, was vorher war. Die fünf Jahre werden chronologisch erzählt, die Einschübe ins Vorher und Nachher weisen auf, was bleibt, was nie gehen wird, wie wenig sich etwas ändert.

Ich kam im Anfang nicht voran im Buch, weil es wirklich SEHR intensiv wirkte; ich musste Pausen einlegen.
Der Schreibstil war für mich genau SO richtig – einige empfinden ihn als maniriert. Ich empfehle das Antesten mit einer Leseprobe.
Von den dieses Jahr gelesenen Büchern beeindruckt mich dieses von 2009 bislang am meisten. Einzig um die Seite 200 herum wurde es mir ein wenig zu viel mit den Wiederholungen der Beschreibungen des Schaufelns, Zement, Kohle, Schlacke, die verschiedenen Arten – ja, das war sicher endlos, monoton, aber irgendwann auch für die Lektüre. Das ändert aber nichts am Allgemeineindruck.

Harter Tobak. Ein grandioses Buch.