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Veröffentlicht am 26.10.2017

NOCH besser als erwartet

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Was schreibt man über ein Buch, das fast alle kennen, ob als Buch oder als Film?
Der Klappentext verrät fast schon zu viel: Da ist zu Beginn des Buches Lisbeth Salander, die als Ermittlerin freischaffend ...

Was schreibt man über ein Buch, das fast alle kennen, ob als Buch oder als Film?
Der Klappentext verrät fast schon zu viel: Da ist zu Beginn des Buches Lisbeth Salander, die als Ermittlerin freischaffend für Milton Securities arbeitet: sie findet heraus, ob jemand „Dreck am Stecken“ hat, der beispielsweise für einen wichtigen Job bei Wirtschaftsunternehmen in Frage kommt. Sie soll für einen solchen Wirtschafts-Kunden Mikael Blomkvist überprüfen, Journalist, Mitbegründer und –eigentümer der kritischen Zeitschrift Millenium. Zur Zeit hat er juristischen Ärger, weil er bei einem Beitrag einer falschen Information aufgesessen ist und dafür verklagt wurde vom Industriellen Wennerström. Und auch den soll Lisbeth für den gleichen Auftraggeber überprüfen, bis…

Ich hatte einen etwas seltsamen Einstieg in die Reihe: zuerst habe ich die Filme gesehen, aber nicht chronologisch, dazwischen irgendwann halb Band 3 gelesen, zuletzt eine Audioversion gehört mit einer der Fortführungen der Reihe, die von David Lagercrantz geschrieben wurde. Ich habe mich dann entschieden, ganz altmodisch von vorne anzufangen

Zu kritisieren habe ich bei Band 1 ausschließlich die ziemlich schwachsinnigen deutschen Titel, die bei mir immer zu Verwechselungen führen. Die englische Version ist nicht viel besser, immerhin hat „The Girl with the Dragoon Tattoo“ beim mir stärker eine Möglichkeit der Zuordnung zum richtigen Band, als alle Titel mit „Ver…“ beginnen zu lassen. Das Original für „Verblendung“ heißt Män som hatar kvinnor (deutsch laut Google „Männer, die Frauen hassen“) – das passt zu mehreren Aussagen im Buch und zu mehreren Handlungssträngen, es ist aber auch ein starkes Statement. Im Buch geht es um Handlungen, die letztlich nichts anderes bedeuten können, und Larsson wird hier deutlich: wenn ein gesetzlicher Betreuer seiner Betreuten neue „Spielregeln“ verkündigt, nämlich „Blowjob gegen Zugriff auf das selbst verdiente Geld“, wird das hier nicht als sexuelle Nötigung oder Übergriff bezeichnet, sondern als Vergewaltigung, als etwas, was die andere Person nicht wollte, ihr aber mit Gewalt oder durch ein Machtgefüge aufgezwungen wurde. Damit unterscheidet sich Larsson deutlich von sonst üblichen sprachlichen Regelungen. Ich unterlasse auch dieses Mal die sonst übliche Warnung für Sensible, obgleich es zwei eindeutige „live“-Szenen mit sexueller Gewalt gibt und mehrere historische Polizeiberichte, ich hatte mitnichten das Gefühl von Sensationshascherei oder gar Slasher-Ekel.

Dazu kommen die ziemlich außergewöhnlichen Protagonisten, besonders natürlich Lisbeth, die Frau mit noch bislang ungeklärter Vergangenheit, die sich definitiv nicht als Opfer sehen will, egal, was passiert. Da kommt es schon einmal mit Mikael zur Konfrontation über eine vergewaltigte Frau, darüber, ob man sich einfach entziehen darf, weil man es nicht mehr aushält (Mikael), oder, ob man gefälligst für die Verurteilung eines Täters zu sorgen habe, auch, um andere zu schützen (Lisbeth). Mikael definiert sich primär durch sein starkes berufliches Ethos und ein ansonsten lockeres Herangehen an das Leben, er ist so der Typ, um ein Bierchen mit ihm zu trinken (so ähnlich kam er auch an die falschen Informationen). Lisbeth hingegen ist, vorsichtig gesagt, schwierig. Sie entspricht vermutlich eher meinem „Anti-Bild“, sie trägt Tattoos, mag sich nicht einpassen, ist nicht kommunikativ, raucht Kette – und ich finde sie schlicht toll. Sie ist nämlich auch intelligent, keine „Tussi“ und ziemlich loyal.

Und die Handlung? Das ist so richtig clever. Neben Mikael Ausgangsproblem, der prekären Lage, in die ihn und das Magazin sein nicht haltbarer Artikel gebracht hat, bekommt er noch einen weiteren Auftrag sowie einen „offiziellen“, zur Tarnung. Er muss da also so einiges tun, gerät auch bald in arge Bedrängnis und benötigt dann Hilfe. Es geht also um mehr als einen Fall, und dazu kommen noch etliche menschliche Probleme sowie die Frage, was denn nun eigentlich mit Lisbeth los ist.

Geht das als Hörbuch? Ja, überraschend gut (auch wenn ich gegoogelt habe, ob man Vennerström oder Wenner-irgendwas schreibt und Bloomkv oder Blomqu…). Und ich hätte mir definitiv bei einem Buch eine Ahnenreihe der Familie Vanger gemacht, weil ich sowas dauernd tue – und dann feststelle, dass es auch so geht, sogar ohne Probleme. Dietmar Wunder macht das toll, in Band 5 war ich ja hin- und hergerissen, hier passt es für mich perfekt, gerade auch bei den Frauen.

Und die Filme? Ich war überrascht, wie nah an der Handlung die Filme geblieben sind, natürlich fehlen die Innenansichten der Personen (gerade bei Lisbeth, der mehr analysiert und wenig spricht, sehr wichtig). Ich ergänze dazu noch, eines der Videos habe ich hier. Die Vergewaltigungen sind in den Filmen definitiv härter.

Klare 5 Sterne, sehr gut als Hörbuch geeignet.
Ich habe nicht das hier bei lesejury gelistete Hörbuch gesprochen von Dietmar Bär gehört, sonders das von Dietmar Wunder.

Veröffentlicht am 22.10.2017

Wie Leon mit Bogart und Houston am Filmset war und nicht den Verstand verlor, aber sein Herz

Wer ist B. Traven?
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Darf ich eine Bestellung aufgeben? Da gibt es einen Journalisten namens Leon Borenstein, deutschstämmig, aber in Kalifornien aufgewachsen, der soll einem der größten Phantome der Literatur nachjagen: B. ...

Darf ich eine Bestellung aufgeben? Da gibt es einen Journalisten namens Leon Borenstein, deutschstämmig, aber in Kalifornien aufgewachsen, der soll einem der größten Phantome der Literatur nachjagen: B. Traven. Gerade wird eines seiner Bücher verfilmt von John Houston mit Humphrey Bogart, „Der Schatz der Sierra Madre“, und Leon soll zum Drehort nach Mexiko reisen, um die Identität hinter dem Pseudonym des Autors herauszufinden. Am Set soll ein Vertreter Travens sein, über den an ihn heranzukommen sein könnte.

Das ist schon Klasse gemacht, einen erfundenen Journalisten als Vehikel dafür zu nehmen, eine ansonsten zu großen Teilen mit „echten“ Personen und einem „echten“ Hintergrund reiche Handlung aufzuspannen – mir jedenfalls hat dieser Roman von vorne bis hinten richtig Vergnügen bereitet, auch, weil ich Fan klassischer Filme bin (was hierfür nicht schadet). Im Gegensatz zu vielen Büchern mit Bezügen zu anderen Werken muss man kein Traven- oder Film-Fan sein, beendet das Buch jedoch dennoch damit, die eigene Wunschliste um etliche Zeilen verlängert zu sein, so geschickt werden Einblicke geboten in den Film, diverse Werke Travens oder die Schachkunst Bogarts. Und irgendwie wollte ich auch wieder nach Österreich oder nach Mexiko, von Kalifornien ganz zu schweigen. Nur Sushi bräuchte ich im Moment nicht wegen des Cenotes…

Ich rechnete, ehrlich gesagt, mit einem hoffentlich guten Schmöker (der Leseprobe nach) im Umfeld der von mir geliebten Filmklassiker und bekam viel mehr: der Roman ist ziemlich komplex hinsichtlich des Personals und erfordert dabei durchaus einige Aufmerksamkeit: es spoilert nicht, wenn ich verrate, dass man sich die Personen einprägen sollte, es gibt etliche, denen man wieder begegnet – was sich im Laufe der Handlung als echtes Vergnügen erwies. En passant präsentiert Autor Torsten Seifert die Historie der Theorien zur Identität Travens, lässt den Leser herumreisen, verwickelt den Journalisten Leon in amouröse und politische Verstrickungen, zeichnet glaubhafte Bilder seiner Handlungsorte und der damaligen Zeit und unterhält damit grandios.

Ich denke mal, das ist ein Buch, dass man dem Liebhaber anspruchsvollerer Bücher wie dem Freund der reinen Unterhaltungsliteratur gleichermaßen ans Herz legen könnte, so viel Freude macht dieser Trip, so ansteckend ist die Fabulierlust und so gut, aber unprätentiös ist die Sprache. Meine Bestellung gilt weiteren Büchern des Autors – er hat wohl ein ähnliches Konzept auf dem Plan. Mein für diesen Text verwendeter Titel zielt ab auf einen autobiographischen Roman von Katherine Hepburn über gemeinsame Dreharbeiten mit Bogart und Houston in Afrika (zu African Queen).

5 Sterne für diesen sehr unterhaltsamen Mix aus Abenteuergeschichte, Journalist-spielt-Detektiv-Roman, Literaturgeschichte, Filmgeschichte, Buch-im-Buch-Roman, Reiseroman und sogar Liebesgeschichte!

Veröffentlicht am 18.10.2017

Unsinkbar II

Niemals
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6 Sterne von 5 für dieses Buch, aber 10 Dinge, die ich an diesem Buch hasse
1. Ich habe es schon durch (selten habe ich eine Lektüre so hinauszuzögern versucht, um länger etwas davon zu haben)
2. Das ...

6 Sterne von 5 für dieses Buch, aber 10 Dinge, die ich an diesem Buch hasse
1. Ich habe es schon durch (selten habe ich eine Lektüre so hinauszuzögern versucht, um länger etwas davon zu haben)
2. Das Buch hat zu wenige Seiten, nur knapp unter 500 (ehrlich, es hätten doch auch knapp 1000 sein können?)
3. Es soll nur noch einen Folgeband geben
4. Der 3. Band hat noch keinen mir bekannten Erscheinungstermin
5. Andreas Pflüger versucht sich nicht einmal an irgendeinem Kitsch – keine neue Katze, keine andere Lösung für Luca, kein Kuschel-Kandidat für Aaron. Kein Angriffspunkt.
6. Mir fällt schon wieder nichts besseres ein, als ein kläglicher Versuch des Annäherns an Aarons 10-Punkte-Listen
7. Ich habe nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Schlafmangel, ja. Aber kein schlechtes Gewissen. Bis halb drei gelesen und dann um sechs Uhr raus geht schon. Also, wenn man muss.
8. Ich finde Cover-Besessenheit sinnlos. Ich liebe dieses Cover.
9. Ich mag diese Macho-Attitüden nicht. Ich liebe die Machos Aaron, Pavlik, Fricke, Lissek,…alle!
10. Ich darf und kann leider keine Methoden anwenden wie die Abteilung oder ihre Gegner, um alle zum Erwerb dieses fantastischen Buches zu nötigen…Wobei mir Holms Schenkung dabei helfen würde, echt.

Aaron ist zurück. Der bei einem fehlgeschlagenen Einsatz erblindeten Jenny Aaron wurde eine Rückkehr zur „Abteilung“ angeboten, der geheimen Sondereinsatztruppe unterhalb des Berliner Innensenators mit ähnlichen Aufgaben wie SEK und GSG 9, allerdings durchaus einmal etwas außerhalb der Regeln, sie sind die „Bad Bank der deutschen Polizei“ S. 13. Doch Aaron hat mehr als ein Problem: da sind ihre angeknackste Psyche und eine Art „Geschenk“, das ihr völlig unerwartet ihr größter Widersacher gemacht hat. Die Konsequenzen aus letzterem kann sie nicht einmal erahnen…

Ich liebe die Sprache, wie sie Andreas Pflüger einsetzt, meist knapp, oft dialogreich, präzise, dazu ein ganz spezieller Humor: S. 277 „Seit dem Telefonat mit Aaron und Pavlik stapelt Inan Demirci Gedanken wie Bauklötze. Und am Ende fällt der Turm jedes Mal zusammen.“
oder
„Jansen hat ihn beseitigen lassen“, sagt Aaron.
„Spekulation.“
„Wahrscheinlichkeitsrechnung.“
„Vielleicht war er bloß Zigaretten holen.“
„Ja, wo der Wannsee am tiefsten ist.“ S. 240
Lakonisch, ein wenig wie die Kommentare in den alten Marlowe-Filmen aus dem Off. Da besitzt Aarons früherer Chef Lissek ein Boot namens „Unsinkbar“, äh, nein, „Unsinkbar II“. Irgendwie wie Aaron selbst. Der Ton in der Truppe untereinander ist rau, man meidet den Vornamen, soll ja bei Beerdigungen leichter fallen. Hilft zwar nicht, trotzdem. Irgendwie „passt“ (Jenny) Aarons eher männlicher Nachname in diesen Trupp.

Moment, Sondereinsatztruppe – blind? Das war schon einer der Kritikpunkte mehrerer Leser an „Endgültig“, dem Vorgänger, wobei es eher als „überzogen“ oder „Superwoman“ formuliert wurde. Ich bin schon zu ängstlich für’s Kinderkarussell, mag aber Dokumentationen über Ausbildungen entsprechender Trupps – die sind ALLE „Super(wo)man“, körperlich und vor allem psychisch. Ein Beispiel, man findet dort mehr: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/ausbilder-von-kampfschwimmern-das-bisschen-atmen-14986941.html
GSG 9 https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch?v=FMWJlTs10c4
Und Jenny war dort schon vor der Verletzung, musste jetzt „nur“ Anpassungen an ihre Erblindung vornehmen, Balance, kleine Tricks wie das Klicken https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch?v=TeFRkAYb1uk
dafür die gesteigerte generelle Wahrnehmung. Das ist exakt genau so wahrscheinlich wie die blinde Sabriye Tenberken, die Blindenschulen in Tibet aufgebaut hat, oder der fast blinde Saliya Kahawatte, der in der Gastronomie arbeitete, (fast) ohne dass jemand seine mangelnde Sicht bemerkte (es ist leider wahrscheinlicher, mit jeglicher Behinderung in Deutschland von Armut bedroht zu sein, ja, ich weiß, und man wird natürlich weder als Autist automatisch zu Rain Man noch als Blinder automatisch zum Superhelden).

Der Roman liest sich anspruchsvoller als für das Genre üblich, sprachlich, aber auch inhaltlich, mit Verweisen zu Kunst und Literatur, aber auch zu medizinischen oder psychologischen Themenpunkten (ich überlege seit gestern andauernd, wie ich die Rapport-Bildung trainieren könnte). Es ist definitiv KEIN Thriller für nebenbei, man muss bei den teils sehr dynamischen Dialogen und vielen Verweisen schon aufmerksam dabei bleiben. Mich begeistert das, ich empfehle aber „nebenbei“-Lesern die Leseprobe. Ebenso empfehle ich vorab die Lektüre von „Endgültig“ – es gibt kurze (nicht spoilernde) Zusammenfassungen in „Niemals“ zum Hintergrund, ich bin aber überzeugt, dass man ohnehin beide Bände lesen sollte. Ungeachtet dessen können beide Bücher einzeln gelesen werden, es geht hier nicht um die „Cliffhanger“-Masche, bei denen man die Lösung in Häppchen präsentiert bekommt.

Dann zieh‘ ich mir mal noch das Hörbuch. War auch schon bei „Endgültig“ genauso ein Genuss. Nachtrag, da meine Texte immer über Nacht liegen, bis ich sie einstelle: Ich bin immer noch sauer, dass das Buch durch ist. Ich habe im Laufe des Tages mehrere Abschnitte zum zweiten Male genossen. Ich bleibe bei 6 Sternen von 5.

Veröffentlicht am 24.09.2017

„Was die Gläser unscharf macht“

Der Fledermausmann
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„Was die Gläser unscharf macht“ bezieht sich auf S. 181

Harry Hole, 32, wird von Norwegen aus nach Australien geschickt, wo in Sidney eine junge Norwegerin ermordet und vergewaltigt wurde. Es ist kurz ...

„Was die Gläser unscharf macht“ bezieht sich auf S. 181

Harry Hole, 32, wird von Norwegen aus nach Australien geschickt, wo in Sidney eine junge Norwegerin ermordet und vergewaltigt wurde. Es ist kurz vor der Olympiade 2000, man will keine schlechte Presse. Harry und Nesbø gehen mit einem lakonischen Ton durch das Buch, dazu gehört bereits bei der Einreise folgender Dialog:
„Ich hoffe, es sind keine norwegischen Blondinen ermordet worden?“
…“Well, just one“, antwortete Harry Hole. S. 10
Der zuständige Vorgesetzte bei der Polizei stellt gleich klar, was seine Meinung zu dem Kollegen ist, mit dem Harry vor Ort zusammen ermittelt: „Kensington ist ein guter Mann. Nicht viele Ureinwohner bringen es so weit wie hier.“ S. 16

Harry bemerkt nicht nur vor Ort eine attraktive rothaarige Schwedin (immerhin auch aus Skandinavien), auch wird bei den Ermittlungen klar, dass es überraschend viele ähnliche Fälle gegeben hat: nicht ähnlich genug, um sofort aufzufallen, doch in zu großer Anzahl, um als Zufall zu erscheinen. Wie philosophiert er so schön: „Jedesmal, wenn man die Geschichte eines Mordes untersucht, ist man selbst irgendwie betroffen oder verletzt. Außerdem finden sich da im verborgenen immer noch viel mehr menschliche Scheiße und traurige Schicksale und viel weniger ausgetüftelte Motive, als man nach all den Agatha-Christie-Romanen glauben mag. Anfangs habe ich mich selbst als eine Art Ritter der Gerechtigkeit angesehen, aber manchmal fühle ich mich jetzt eher wie ein Müllmann. Mörder sind jämmerliche Gestalten, und es ist nur selten wirklich schwierig, mindestens zehn gute Gründe dafür zu finden, warum sie so geworden sind, wie sie sind.“ S. 64

Er konnte es schon beim ersten Mal. Ich lese hier den Debüt-Harry Hole, nachdem ich vor einiger Zeit mit Band Nummer 11 zum ersten Mal mit der Reihe Bekanntschaft geschlossen hatte (englische Übersetzung, dadurch etwas früher). Man konnte Band 11 ohne Vorkenntnisse lesen, nur am Rande. Im Gegensatz zu Band 11 kommt dieser hier noch mit einem Ermitteln eher NACH der Tat aus, der Leser muss nicht irgendwelche Unappetitlichkeiten live erleben (o.k., Fundorte, also keine völlig Eignung für sensible Naturen). Dazu verblüffte mich der Autor bereits in Band 11 mit einer interessanten Romanstruktur: man hängt da gebannt am Text, arbeitet sich auf die Aufklärung hin und stellt dann fest, gerade erst bei der Hälfte des Buches zu sein. Auch hier kam dann noch einmal ein Hakenschlag, sozusagen ein „Fall im Fall“, ein Verbrechen mit Matroschka-Prinzip. Für die Lektüre wie das Kippen des Wagens während des Loopings in der Achterbahn.

Der Tonfall ist lakonisch, oft staubtrocken. „Das Kabel war aber so sauber wie ein…äh…“
Lebie machte eine Bewegung mit der Hand.
„Wie etwas, das normalerweise sehr sauber ist?“ eilte ihm Yong zur Hilfe. S. 299
Harry ist kein „beschädigter Ermittler“, eher jemand, der sich sehenden Auges selbst Schaden zufügt, ohne dass dafür eine Beschädigung in der Vergangenheit geschehen musste. Polizei-Kollegen, Verdächtige, Reisebegegnungen – alle sind sie zu mehr als Stereotypen charakterisiert, vielfach ineinander verschlugen. Harry hat eine ausgeprägte Beobachtungsgabe, nur mit der Interpretation hängt er gelegentlich hinterher. Der Leser kann mitraten, keine aus dem Hut gezogenen plötzlichen neuen Tatverdächtigen.

Der große Unterschied zum Band 11: Kensingtons Sätze bilden so eine Art Reiseführer mit politischen Hintergrund, man bekommt wirklich viel vermittelt, zur aktuellen Situation Australiens, zur Historie besonders speziell bezüglich der Aborigines. Das ist gut gemacht, aber degradiert leider einen Sympathieträger ein wenig zum Stichwortgeber und Märchenonkel (bezüglich der Mythen der ursprünglichen Bevölkerung Australiens). Das schient selbst dem Autor aufzufallen, er wechselt später die Stichwortgeber. Die Informationen sind interessant, erweitern aber irgendwie den spannenden Inhalt um eine Ebene, die es für mich nicht gebraucht hätte (sonst mag ich so etwas, hier ist es mir einen Tick zu viel, zu aufgepfropft). Auch das eine „Meeresungeheuer“ zum Ende war mir etwas zu melodramatisch, aber sei’s drum. Der Trip mit Joseph zuletzt war toll, ich habe mehr zu Harrys „Geistern“ erfahren und ihm gönne selbst ich die Dauer-Zeichnung, will aber wissen, was ihn jetzt zeichnet, und nein, ich mag Tattoos immer noch nicht.

5 Sterne wie auch bei Band 11, ich will jetzt auch die Lücken dazwischen füllen

Veröffentlicht am 20.09.2017

Der Ton macht es

Stille
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„Nichts tun kann jeder, Meditation muss man lernen“ – dieser Spruch aus mir unbekannter Quelle kam in den Sinn, als ich die Präsentation und Leseprobe dieses Buches gesehen hatte. Nachdem ich es dann real ...

„Nichts tun kann jeder, Meditation muss man lernen“ – dieser Spruch aus mir unbekannter Quelle kam in den Sinn, als ich die Präsentation und Leseprobe dieses Buches gesehen hatte. Nachdem ich es dann real vor mir gelesen lag, wollte ich als Rezension dazu erst folgendes schreiben:





.“
Leider wäre damit nicht nur eine Eingabe in der Eingabmaske unmöglich, es wäre auch wenig hilfreich für jeden, der über dieses Buch nachdenkt. Also: braucht man dieses Buch?

Wichtig: es ist KEINE Anleitung für irgendetwas, auch keine Abhandlung über die Stille. Am ehesten entspricht das Büchlein dem, was ich so als „Nachttisch-Büchlein“ werte (kein Coffeetable-Buch, das sind die, die eher nur zum Anschauen sind, weniger zum Lesen). Am meisten liegt mir Text Nummer 7, mit der Erkenntnis „Häufig entscheide ich mich dafür, etwas zu tun, statt die Stille mit mir selbst auszufüllen.“ S. 43

Im Wesentlichen besteht der wirklich sehr sehr schön gestaltete Band aus 33 (!) kurzen Texten über die Stille, Texten, die man als eine Art Anschubser, zu Anregung, Meditation nutzen mag. Ich mag solche Bücher auf dem Nachttisch oder in einer ruhigen Ecke – zum Beruhigen des Geistes, Herunterkommen, Nachdenken. Das Buch ist angenehm unesoterisch, ohne dabei beliebig zu sein, es gibt sowohl Texte zum Wesen von Stille als auch über Erkenntnisse in und aus der Stille, aus persönlichen Erfahrungen des Autors geboren. Man mag manches als Allgemeinplatz aburteilen wie die imaginierte Betrachtung von Menschen aus dem All mit dem Fazit „Mir wurde klar, dass im Laufe der Zeit der einzige Unterschied darin bestand, dass die Eifrigsten ein etwas größeres Haus hatten, in dem sie die Nacht verbrachten.“ S. 32, dennoch sollte man dabei nicht aberkennen, dass die Leistung darin besteht, den Leser über Themen wie Werte, Relativierungen überhaupt innehalten, geschweige denn nachdenken zu lassen.

Also: ist das jetzt banal – oder nein? Nun, es gibt tatsächlich nichts spektakulär Neues im Buch. Aber die Abschnitte sind gut geschrieben, anregend, kurzweilig. Ich bin tatsächlich in der vorletzten Nacht zufällig aus einem Alptraum aufgewacht, den ich vielleicht 1-2 Mal im Jahr träume, eine alte Erinnerung ohne weiteren "Therapiebedarf"; ich kann dann stets schlecht wieder einschlafen und lese meist, meist sehr lange. Das offene Buch des Tages war „Stille“. Ich lag nach einem Abschnitt wieder und habe geschlafen (das wird den Alptraum nicht „heilen“, auch keinerlei Trauma, aber andererseits überanalysiert man ja auch im normalen Leben nicht, warum einen bestimmte Musik aufputscht, auch wenn es diese Untersuchungen durchaus gibt. Der Ton macht es, auch hier).

Man könnte jetzt dem Büchlein also natürlich vorwerfen, es nutze schlicht zu „nichts“– aber genau das IST ja der Nutzen…und das auf so hübsche Art und Weise. Ich bitte um ein Versinken in kurzer Stille über diesen wirklich hübschen und ganz eigenen Zirkelschluss.