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Veröffentlicht am 15.09.2016

Baba Dunjas letzte Liebe

Baba Dunjas letzte Liebe
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Tschernowo ist ein kleines Dorf in der Nähe des Kernreaktors Tschernobyl. Hier lebt niemand freiwillig, sollte man denken. Weit gefehlt. Baba Dunja, eine einfache Frau, bedeutet die Heimat so viel, dass ...

Tschernowo ist ein kleines Dorf in der Nähe des Kernreaktors Tschernobyl. Hier lebt niemand freiwillig, sollte man denken. Weit gefehlt. Baba Dunja, eine einfache Frau, bedeutet die Heimat so viel, dass sie dort den Rest ihres Lebens verbringen will. Die Nähe zum Kernreaktor macht ihr nichts aus. Denn sie hat nichts mehr zu verlieren. Sie ist alt, über neunzig, und das Gute für sie am Alter ist, dass sie niemand mehr um Erlaubnis fragen muss. Zum Beispiel, ob sie in ihrem alten Haus wohnen kann und ob sie Spinnennetze hängen lassen darf. Baba Dunja hat alles gesehen und vor nichts mehr Angst. 'Der Tod kann kommen, aber bitte höflich." (Seite 12)

Für sie ist Tschernowo das Paradies, wenn auch ein verstrahltes. Besonders im Winter ist es stiller als still. "Wenn eine Schneedecke über allem liegt, sind sogar die Träume gedämpft, und nur die Dompfaffen springen durch das Gestrüpp und sorgen für Farbe in der weißen Landschaft." (Seite 32)

Hier läuft das Leben in ruhigen Bahnen ab. Für Baba Dunjas Nachbarin Marja, deren Hahn Konstantin gleich im Kochtopf landet. Sidorow, der noch mit hundert Jahren auf der Suche nach einer Frau ist. Lenotschka, die einen endlos langen Schal strickt und lächelt, wenn man sie anspricht, jedoch nicht antwortet. Das gebildete Ehepaar Gavrilov, das nicht auf Annehmlichkeiten verzichten muss. In Tschernowo verlangt niemand etwas von den Bewohnern. Es zählt das Heute, nicht das Morgen. Die Alten leben von der Selbstversorgung, das Gemüse wächst üppig in ihren Gärten. Nur nicht bei Petrow, der als letzter ein Häuschen im Dorf bezog und der seinen Krebs, von dem sein Körper komplett durchsetzt ist, nicht füttern will. Die Öfen werden mit Holz befeuert, Wasser spenden Brunnen, und an manchen Tagen gibt es auch Strom.

Baba Dunjas Kontakte zur Außenwelt bestehen aus gelegentlichen Busfahrten nach Malyschi. Dann erzählt ihr Boris, der Busfahrer, was er im Fernsehen gesehen hat. Viel über Politik. Die ist natürlich wichtig, doch Baba Dunja ist da pragmatisch, denn "es bleibt trotzdem immer an einem selbst hängen, die Kartoffeln zu düngen, wenn man irgendwann Püree essen will." (Seite 46)

Ab und an bekommt Baba Dunja Pakete von ihrer Tochter Irina. Diese ist Ärztin und lebt mit Enkelin Laura in Deutschland. Wenn Baba Dunja daran denkt, dass sie Laura (außer auf Fotos) noch nie gesehen hat, kommt Wehmut auf. Gut, dass gelegentlich Ehemann Jegor vorbeischaut, der aber nicht wirklich stört. Baba Dunja plaudert gern mit ihm. Seit er nämlich tot ist, ist er sehr höflich. Als er noch lebte, war das leider nicht so.

In die Idylle kommt Unruhe, als eines Tages ein Mann seine Tochter mitbringt. Recht schnell wird klar, dass das Kind als Spielball zwischen den getrennten Eltern steht. Das ist für Baba Dunja unhaltbar. Ein Kind hat in Tschernowo nichts zu suchen. Zwar ist Tschernowo ein schöner und guter Ort für seine Bewohner. Niemand wird fortgejagt. Nur wenn jemand noch jung und gesund ist, sollte er sich ein anderes Heim wählen. Schon gar nicht sollte ein kleines Kind aus Rache dem Tode geweiht werden.

Und daher dauert es nicht lange, das liegt der Mann tot auf der Erde, und Baba Dunja nimmt alle Schuld auf sich...

Mit viel Verständnis und Geradlinigkeit lässt Alina Bronsky Baba Dunja erzählen. Die im Grunde kleine Geschichte entfaltet eine große Wirkung. Sie ist poetisch, lebendig, weise und ehrlich, manchmal verschmitzt, dann wieder traurig und anrührend.

Baba Dunja "strahlt" - im wahrsten Sinne des Wortes - eine Lebensfreude aus, die zu Herzen gehend ist. Mit Klugheit und Nachsicht schaut sie auf ihre Mitmenschen und ist der Mittelpunkt der eigenwilligen, schrulligen, sturen und manchmal auch exzentrischen Dorfbewohner, die trotzdem allesamt liebenswert in ihrer Gelassenheit, mit der sie ihr Dasein verbringen, erscheinen.

Man möchte sie in den Arm nehmen und fest drücken. Und auf jeden Fall ein langes Leben wünschen.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Marked. Ein teuflische Liebe

Marked - Eine teuflische Liebe
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Lucinda de Salle, genannt Lucky ist 28, hat keine Familie und bis auf eine Ausnahme auch keine Freunde. Auf Grund ihrer Fähigkeit, Geister zu sehen, gilt sie als sonderbar und fühlt sich von der Gemeinschaft ...

Lucinda de Salle, genannt Lucky ist 28, hat keine Familie und bis auf eine Ausnahme auch keine Freunde. Auf Grund ihrer Fähigkeit, Geister zu sehen, gilt sie als sonderbar und fühlt sich von der Gemeinschaft ausgeschlossen und von vielen schikaniert. Andererseits wird sie immer dann gerufen, wenn irgendwo unerklärliche Dinge geschehen, als deren Ursache Geister verdächtigt werden.

Nach allem ist es nicht verwunderlich, dass Luckys einzige Freundin Kayla ein Geist ist. Sie kennt Kayla schon ihr ganzes Leben und vertraut ihr. Doch Kayla hat ein Geheimnis, und es offenbart sich, dass sie nicht die ist, für die Lucky sie bislang gehalten hat.

Als in Luckys Schule nämlich wieder einmal Geister auftauchen, soll Lucky dafür sorgen, dass diese Ruhe geben. Die Geister wären ein kleines Problem im Gegensatz zu dem, was Lucky tatsächlich erwartet: Henri le Dent, seines Zeichens ein Dämon aus der Anderwelt, eine völlig andere Erscheinung, massiver, realer, gefährlicher, furchteinflößend' und mit einer Botschaft für Kayla.

Mit der Ruhe in Luckys Leben ist es nun vorbei. Und das nicht nur, weil im Anschluss daran weitere Personen aufkreuzen, die ihre Hilfe zu benötigen scheinen...

Letzten Endes gerät Lucky in das außergewöhnlichste Abenteuer ihres Lebens, in dem alles über den Haufen geworfen wird, woran sie bisher glaubte. Niemand ist der, der er vorgibt zu sein. Niemand.

Mit einmal wird Lucky hineingezogen in politischen Machtkämpfe der Unterwelt um den Königsthron. Sie sieht erschreckende und wunderbare Dinge, die sie sich niemals vorstellen konnte, und sie entdeckt auf ihrem Weg nicht nur ihre eigenen Fähigkeiten, auch wenn sie parallel dazu immer wieder versucht, wieder nach Hause in die Oberwelt zu gelangen.

Dabei unterscheidet sich die Unterwelt in gewisser Weise nicht von Luckys Welt und übt eine gewisse Faszination aus. Während in der einen Welt die Menschen nach Reichtum und Macht gieren, existieren in der anderen ebenso oberflächliche Dämonen. Aber auch welche anderen Kalibers, gefährlicher und bedrohlicher. Darum braucht Lucky eine 'Schutztruppe', um in der Unterwelt bestehen zu können. Neben Mr. Kerfuffle und Mr. Shenanigans findet sich Lucky zwischen zwei weiteren außerordentlich unterschiedlichen Dämonen wieder: dem charismatischen Todbringer Jinx und dem Wächter Jamie. Komplettiert wird die Mannschaft von Pyrites, dem Drachen, der seine Größe den Umständen anpassen kann...

Die interessante Geschichte, die ein fantastisches, gleichwohl kluges Konstrukt der Unterwelt entwirft, in der es genauso wie bei den menschlichen Kämpfen um Macht und Einfluss geht, weist einen frischen und anschaulichen Schreibstil auf. Sie nimmt langsam Fahrt auf, steigert sich und variiert im Verlauf der Handlung im Tempo. Lucky erzählt selbst, weswegen der Leser stets nah dran an ihren Eindrücken und Gefühlen ist. So gibt es neben unterhaltsamen, amüsanten auch dramatische Szenen sowie durchaus ein paar dämonisch schauerliche Momente.

Sue Tingey hat zum großen Teil bemerkenswerte und überzeugende Charaktere geschaffen.

Da ist zunächst Lucky, sympathisch, gutherzig, wenn auch etwas verrückt. Sie ist es gewohnt, dass sie einst als komisches Kind und durchgeknallter Teenager galt und ihr nun als Frau immer noch das Siegel 'seltsam' anhaftet. Hierbei bewahrt sie sich ihren wunderbar trockenen Humor ("Männer waren wie Busse in meinem Leben: monatelang kam keiner, dann drei auf einmal...' Seite 66) und vermittelt den Eindruck, mit ihrem Leben zufrieden zu sein. Trotz aller Seltsamkeit kommt sie gut damit zurecht. Deshalb gefällt es ihr gar nicht, dass alles bizarr und durcheinander gewirbelt wird und sie in Gefahr gerät. Und es zeigt sich, dass ihre Freundin Kayla daran nicht ganz unschuldig ist. Obwohl die Zuneigung zwischen ihnen ein festes Band knüpft, steht ihre Freundschaft unerwarteterweise auf den Prüfstand, und mit Lucky gerät der Leser das eine oder andere Mal in Zwiespalt.

Denn wenngleich sie bislang stets vom Gegenteil ausging, sieht es jetzt so aus, als ob sie tatsächlich Schutz bedarf. Allerdings können sich ihre Leibwächter wahrlich sehen lassen. Besonders Jinx und Jamie fallen auf, stellen sie doch zwei Seiten einer Münze dar, gegensätzlich und trotzdem eins: Jinx sieht aus wie der Teufel, mit Hörnern und ein Schwanz erweckt er das Bild des Bösen, Jamie dagegen trägt Flügel, und der Gedanke an einen Engel liegt nicht fern. Beide gehören zu den mächtigsten Dämonen ihrer Welt und besitzen das Recht, sich in das Leben anderer einzumischen.

Auf den ersten Blick bietet sich natürlich Jamie eher für eine Romanze mit Lucky an. Jedoch ist Jinx sehr direkt, was sein Interesse an Lucky betrifft. Außerdem haben beide Dämonen der jungen Frau ihr Zeichen aufgedrückt, sie "markiert". Die Dreiecksbeziehung bleibt in 'Eine teuflische Liebe' erfreulicherweise dezent und wird nicht in den Vordergrund gerückt, verspricht so auch in den Folgebänden der Triologie kurzweilig zu werden.

Insgesamt bietet sich eine atmosphärische Geschichte mit hohem Unterhaltungswert, die einen das weitere Geschehen mit Vergnügen erwarten lässt.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Anna Catrina. Tochter von Ilanz

Anna Catrina - Tochter von Ilanz
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Im Jahre 1677 ist im Schweizer Kanton Graubünden Anna Catrina schon in jungen Jahren vom Schicksal gebeutelt. Einen Vater hat sie nicht, und die Stelle der im Kindbett verstorbenen Mutter nimmt zunächst ...

Im Jahre 1677 ist im Schweizer Kanton Graubünden Anna Catrina schon in jungen Jahren vom Schicksal gebeutelt. Einen Vater hat sie nicht, und die Stelle der im Kindbett verstorbenen Mutter nimmt zunächst ihre Tante Elscha ein. Doch diese wird, nachdem sie die Tortouren einer Hexenbefragung überstanden hat, all ihrer Besitztümer beraubt und verbannt und muss die zehnjährige Anna Catrina allein zurücklassen. Nach sieben Jahren der Schufterei bei einem Bauern, der Anna Catrina nachstellt, findet sie ein Obdach und Arbeit bei ihrem Onkel, dem das Wirtshaus "Zum Löwen" in Ilanz gehört. Hier hilft sie in der Gaststube aus und muss sich der Zudringlichkeit der männlichen Gäste erwehren. Einer treibt es besonders heftig, und eines Nachts vergewaltigt er Anna Catrina. Ohne Beweise besteht keine Chance für die junge Frau, dass der Übertäter zur Rechenschaft gezogen wird. Vielmehr muss sie achtgeben, nicht selbst der Hurerei bezichtigt zu werden.

Als Anna Catrina die Möglichkeit erhält, bei einer sehr angesehenen Ilanzer Familie als Magd zu arbeiten, kann sie für eine Weile ihr Los verbessern. Sie findet in Barbla eine gute Freundin, verliebt sich in den Stuckateur Hans und bekommt einen Hinweis auf die Existenz ihres Vaters. Allerdings muss sie auch Ungerechtigkeiten ertragen...

Manchmal beschreitet eine Stadt eigenwillige Wege, um ihren Bekanntheitsgrad zu erhöhen. Sie erfindet beispielsweise eine fiktive Figur und lässt unter anderem eine Autorin dieser ein Gesicht und einen Hintergrund geben, in den historische Persönlichkeiten eingewoben werden. Die Stadt ist Ilanz im schweizerischen Graubünden, und Sabine Altermatt erzählt die Geschichte von Anna Catrina.

Die Autorin hat dafür einen fast karg zu nennenden, kaum Ansprüche an den Leser stellenden Schreibstil gewählt und versucht, diesen der Zeit und der Herkunft ihrer Protagonisten anzupassen. Dabei verwendet sie das eine oder andere Mal das in Graubünden gesprochene Rätoromanisch (Sursilvan).

Leider gelingt es ihr mit ihrer Erzählart nicht, den Leser dauerhaft für das Geschehen zu interessieren und ihn einzubinden. Ein Manko ist hierbei die auffallende Verwendung kurzer Sätze. Diese erscheinen oft als sehr schlicht, langweilig und folglich überflüssig.

"Anna sitzt auf der Bank vor ihrer Hütte. Glockengeläut. Der Trauerzug kommt nur schleppend vorwärts. Verschwindet hinter der Porta Bual. Zuvorderst geht der Pfarrer. Dann folgen die Männer mit dem Holzsarg. Er ist nicht sehr groß, der Sarg. Alle sind schwarz angezogen." (Seite 68)

"Von Haldenstein bis Ems durfte sie mit einem Fuhrwerk mitfahren. Sie hatte Glück. Ein alter Bauer. Auf der Fahrt war sie wieder etwas zu Kräften gekommen. Er hatte ihr ein Stück Brot mit auf den Weg gegeben. Das war bereits gegessen. Ein weiteres Fuhrwerk kam ihr entgegen. Sie trat zur Seite. Etwas vom Weg entfernt erblickte sie zwei Frauen. Eine war dabei, etwas zusammenzuräumen. Die andere stand da und blickte zum Knecht, der die Pferde vor den Wagen spannte. Sie blieb stehen und betrachtete die friedliche Szenerie." (Seite 188)

Wenn sie hingegen ihre Heldin sagen lässt: "Ich bin Eure Magd... Aber ich bin auch ein freier Mensch. Mein Privatleben geht nur mich etwas an." (Seite 186) oder diese an anderer Stelle "mitdiskutieren" will, wirkt das Ganze im Gegenzug sehr modern und unpassend.

Die Geschichte selbst offenbart nichts Neues. Die Autorin greift unter anderen Themen wie den Aberglauben in der Bevölkerung bei unerklärlichen Ereignissen und Todesfällen und die damit verbundene Hexenverfolgung auf, das Los der Frauen und die Unterschiede zwischen Arm und Reich und mischt diese mit dem Schicksal eines Mädchens, um dessen Herkunft sich ein Geheimnis rankt. Leider ist die Lösung von Beginn an vorhersehbar. Denn die Schar der Protagonisten bleibt überschaubar. Für diejenigen, die ungeachtet dessen den Überblick verlieren, hält der Roman ein Verzeichnis bereit, das außerdem Auskunft über historisch verbürgte Personen gibt.

Im Mittelpunkt steht natürlich Anna Catrina, eine schöne, lebensfrohe Frau mit dunklen Augen und kastanienbraunem Haar. Die Siebzehnjährige strahlt eine Ruhe aus, die ungewöhnlich für Jungfern ihres Alters ist und strebt danach, die ihr auferlegten Zwänge ablegen zu können. Dabei ist schon bemerkenswert, gleichzeitig aber auf Grund ihrer Herkunft unglaubwürdig, dass sie sich eigene Gedanken zu ihrem Dasein macht und sich Fragen stellt: Warum haben die Männer das Sagen und können sich einfach Frauen nehmen, wann und wie sie wollen? Sind Männer etwas Besseres als Frauen, obwohl beides Gottes Geschöpfe sind?

Anna Catrina bekommt das Gefühl der Ohnmacht, dass Frauen den Männern ausgeliefert sind, am eigenen Leib zu spüren. Doch wenngleich sie viel Ungemach ertragen muss, verliert sie nicht den Mut, verzeiht und meistert alles mit Bravur. Fast scheint sie von makellosem Charakter zu sein. Anna Catrina ist dem Leser sympathisch, viel Nähe kann er trotzdem nicht zu ihr aufbauen.

Insgesamt sind die Empfindungen in diesem Roman eher als schwierig einzuschätzen. Obschon es durchaus bewegende Momente gibt, gestaltet sich der Grundton der Schilderung vordergründig kühl und distanziert. Das ist bedauerlich, weil es den Leser hindert, mitzuleiden oder Freude zu erleben.

Sabine Altermatt überzeugt mit "Anna Catrina. Tochter von Ilanz" letzten Endes nicht. Das Cover ist ausgesprochen einladend, und zudem führen ein Glossar und die Liste romanischer Ausdrücke dazu, sich hinsichtlich diesbezüglicher unbekannter Ausdrücke und Formulierungen im Geschehen zurecht zu finden. Ein Stadtplan von Ilanz von 1677 ist eine weitere hilfreiche Ergänzung, erinnert in seiner Aufmachung jedoch an Pläne der heutigen Zeit.

Eines bewirkt der Roman allerdings: Die Begegnung mit Hortensia von Salis (1659 - 1715), einer Ärztin und Forscherin, Schriftstellerin und Publizistin, die als eine der ersten Feministinnen der Schweiz bezeichnet werden kann. Hier etwas ausführlicher "einzutauchen" - auch in Bezug auf die zitierten Schriften der "Camilla" - und eine Verbindung zur Denkweise von Anna Catrina zu ziehen, hätte einen reizvollen Aspekt in die Handlung gebracht.

So bleibt es leider ein Buch, das nur geringen bis keinen Nachhall beim Leser erzeugt.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Die Tochter des Medicus

Die Tochter des Medicus
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Im Jahr 2013 erbt Gideon von seinem verstorbenen jüdischen Großvater, zu dem er seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte, weil er entgegen der Familientradition nicht Arzt, sondern Buchhalter und Controller ...

Im Jahr 2013 erbt Gideon von seinem verstorbenen jüdischen Großvater, zu dem er seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte, weil er entgegen der Familientradition nicht Arzt, sondern Buchhalter und Controller geworden und seinen eigenen Weg gegangen ist, neben dessen Haus in Regensburg einen alten Holzkoffer. Den Koffer wider das Vergessen. Mit dem Inhalt dokumentiert Gideons Familie seit Jahrhunderten ihr Leben, ihr Wirken und ihre Traditionen und findet darin Trost und Halt. Nun ist es an Gideon, den Koffer sicher aufzubewahren, ihn mit Achtung zu behandeln und irgendwann selbst Zeugnis über sich abzugeben, indem er etwas, das ihm viel bedeutet, für seine eigenen Nachfahren in den Koffer legt.

Unter den Erinnerungsstücken entdeckt Gideon ein Tagebuch, das er nicht lesen kann, weil er kein Hebräisch beherrscht. Mit Hilfe der Studentin Paula gelingt es ihm jedoch, die Geschichte seiner Vorfahrin Alisah zu ergründen. Das Schicksal der jungen Frau lässt ihn auch sein eigenen Leben überdenken...

1519 werden die Juden in Regensburg gezwungen, innerhalb weniger Tage die Stadt zu verlassen, ihr gesamtes Wohnviertel und ihre Synagoge zerstört. Im Zuge dieses Pogroms wird der jüdische Arzt Daniel Friedmann ermordet. Infolgedessen erleidet seine Tochter Alisah, die ihrem Vater bei der Behandlung seiner Patienten sonst hilfreich zur Seite steht, ein Trauma und verliert ihre Stimme. Als einzige Überlebende der Familie findet sie Zuflucht in Frankfurt und versucht, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Allerdings ist ihr der Beruf des Mediziners eigentlich verwehrt, weil es Frauen verboten ist, zu studieren. Nur wenn Alisah ein doctor medicinae in Heilkunde unterweisen würde, wäre es ihr gestattet, als Chirurgin oder Hebamme zu arbeiten. Und so verfolgt Alisah zielstrebig ihren Traum...

Die Geschichte der "Tochter des Medicus" auf zwei Zeitebenen, die gelungen miteinander verknüpft werden, weist eine detaillierte und fundierte Recherche auf. Die Autoren Iris Klockmann und Peter Hoeft, die unter dem Pseudonym Gerit Bertram schreiben, haben nicht nur den historischen Hintergrund ausführlich dargestellt, sondern machen den Leser auch in umfassender Weise mit dem jüdischen Glauben und Leben und der Kultur vertraut. Das ist interessant und wissenserweiternd. Im Übrigen tragen ein ausführliches Glossar und Nachwort ebenfalls hierzu bei.

Der Erzählton zeigt sich in der Regel unaufgeregt, ruhig und entschleunigt, doch sehr einfühlsam. Dies vermittelt ein angenehmes Lesegefühl, das das nahe Erleben des Geschehens möglich macht.

Die Protagonisten fügen sich gut in das Geschehen ein, sind mit erkennbarem Engagement charakterisiert worden und durchlaufen im Verlauf der Handlung eine nachvollziehbare Entwicklung.

Die in der Vergangenheit im Mittelpunkt stehende Alisah zeichnet sich durch Herzenswärme aus, sie ist geistvoll und klug. Nach dem Tod und dem Verlust der Stimme verlässt sie den ihr vorbestimmten Lebensweg, da sie begierig ist, zu lernen und zu helfen. Ein Leben daheim, wie es die vorgeschriebenen Gesetze seit jeher verlangen, ist ihr nicht genug. Sie möchte stattdessen auf den Spuren jüdischer Ärztinnen wie Rebekka in Salerno, Floreta und Ceti, die sogar im Dienst spanischer Königinnen standen, folgen. Sie eignet sich medizinische Fähigkeiten an und beeindruckt durch ihre Art und Weise, Menschen kenntnisreich und beherzt zu behandeln.

Gideon in der Gegenwart ist temperamentvoller Italiener, nicht besonders fromm, weshalb er gut wie nie die Synagoge besucht. Anfangs schenkt Gideon seinen jüdischen Wurzeln wenig Beachtung. Einst hatte er sich gegen die Familientradition für einen anderen Beruf entschieden. Im Laufe der Zeit ist er aber auch mit diesem nicht glücklich, ihm fehlt das Gefühl von Erfüllung und das sichere Wahrnehmen, die richtige Position gefunden zu haben. Zudem hat er viele Jahre an einem Ort gelebt, der nie zu einem Zuhause wurde. Während er Alisahs Geschichte erfährt, verändert er sich, verliert seine Lässigkeit, verspürt zunächst Trauer und legt eine Verletzlichkeit an den Tag, die den Leser für ihn einnimmt und freut, an seinem Wachsen und seiner Selbstfindung teilzuhaben.

Alles erzählt "Die Tochter des Medicus" von Gerit Bertram vom Schicksal der Menschen an Wendepunkten ihres Lebens und eröffnet dem Leser dadurch nicht nur die Möglichkeit, sich mit jüdischem Glauben und der Kultur vertraut zu machen, sondern bietet ebenso einen Blick auf die medizinischen Gegebenheiten im Mittelalter.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Die Bernsteinbraut

Die Bernsteinbraut
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Im Sommer 1310 wartet Antonia sehnsüchtig auf die Rückkehr ihres Vaters, eines erfolgreichen Stralsunder Kaufmanns. Die junge Frau führt nach dem Tod der Mutter den Haushalt, der Verlust verbindet beide, ...

Im Sommer 1310 wartet Antonia sehnsüchtig auf die Rückkehr ihres Vaters, eines erfolgreichen Stralsunder Kaufmanns. Die junge Frau führt nach dem Tod der Mutter den Haushalt, der Verlust verbindet beide, so dass seitens des Vaters kein eiliges Interesse besteht, Antonia zu verheiraten. Etwas getrübter ist das Verhältnis zum älteren Bruder Severin, weil dieser sich dem Deutschorden angeschlossen hat.

Doch das Schicksal hat einen anderen Plan für Antonia vorgesehen. Ihr Vater verunglückt tödlich, und Severin und Antonia reisen auf die Insel Rügen, um ihn zu begraben. Hier lernt Antonia den Bernsteinfischer Jaramir kennen, der tatsächlich zur Rügenschen Fürstenfamilie gehört. Die beiden entdecken Gefühle füreinander, werden hingegen getrennt, weil Severin schnellstens die Last der Verantwortung für seine Schwester abgeben will. Es kommt ihm gelegen, als er auf Rügen Conrad von Drachenfels begegnet. Antonia trifft das Los ihrer Zeit, sie kann zwischen dem Leben im Kloster oder als Ehefrau wählen, aber sie muss sich ihrem Bruder fügen, der sie Conrad als Ehefrau anträgt. Und so befindet Antonia sich unmittelbar darauf auf dem Weg zur Burg Drachenfels, wo sie nicht nur in Konfrontation mit ihrer zukünftigen Schwägerin Metza gerät, sondern zudem feststellen muss, was für ein Scheusal ihr mit Conrad aufgezwungen wurde. Denn dieser ist äußerst gewaltsam im Umgang mit seinen Untergebenen und auf seinen eigenen Vorteil bedacht, betreibt einen Bernsteinschmuggel und "hält" sich zu allem Übel Sklaven für die Arbeit in seinem Steinbruch. Einer dieser Unglücklichen ist Jaramir, der zusammen mit seinem Freund Dragan von der Insel Rügen entführt wurde. Und Antonia setzt alles daran, dem geliebten Mann zu helfen...

Gabriele Breuer erzählt mit leichter Hand eine unterhaltsame Geschichte, die an den Leser keine großen Ansprüche stellt. Dabei bindet sie das fiktive Geschehen überwiegend gut in den historischen Kontext ein und lässt ihre Fantasie spielen, wenn die Rujanenburg auf dem Rugard, von nur noch die Fragmente des Burgwalls existieren, und die Ruine der Burg Drachenfels im Siebengebirge wieder erstehen, thematisiert unter anderem (fehlenden) Rechte der Frauen und die Allmacht der Männer, den Bernstein- und Sklavenhandel. Es ist die Zeit des letzten slawischen Fürsten Wizlaw III. von Rügen, die Menschen der Insel sind christianisiert, doch noch immer gibt es Ranen, die die alten Götter verehren.

Die Autorin schildert das damalige Leben - nicht nur auf der Insel Rügen, sondern ebenso auf Burg Drachenfels und in der Umgebung - vorstellbar, wenngleich Ersteres angesichts des Titels "Die Bernsteinbraut" durchaus umfangreicher hätte sein können. Außerdem überzeugen einige Handlungsweisen nicht. So ist es eher unwahrscheinlich, dass eine Magd auf ihren gesamten Wochenlohn verzichtet, ihn einer Fremden übergibt und darauf hofft, das Geld zurückgezahlt zu bekommen.

Lobend sei hervorgehoben, dass das Cover überaus gelungen ist und einen Bezug zum Inhalt hat.

Die Schar der handelnden Personen ist überschaubar, und ihre Rollen sind im Großen und Ganzen klar aufgeteilt.

Antonia und Jaramir erledigen ihren zugewiesenen Part derart, dass sich der Leser von Anfang vorstellen kann, wie das Ganze für die beiden endet. Während Antonia als Mädchen, das wohlbehütet aufwuchs, mit viel Empathie für das Leid der Mitmenschen ausgestattet ist, zum Teil leichtgläubig und ein wenig weltfremd daherkommt, aber auf jeden Fall unerschrocken und energisch handelt, wenn es um das Wohl derer geht, denen sie zugetan ist, punktet Jaramir damit, niemanden wegen seiner Herkunft gering zu schätzen und sich um Gerechtigkeit zu bemühen.

Davon kann bei Conrad keine Rede sein. Er lenkt die Geschicke der Burg, dessen eigentlicher Herr - sein Bruder Rutger - wegen seiner Krankheiten dazu nicht in der Lage ist, und wertet seine geringe Körpergröße mit Brutalität auf, schlägt zu, ohne Rücksicht auf sein Gegenüber und entpuppt sich schon früh als zum Wahnsinn neigender Mann. Lediglich für seinen melancholischen, ja depressiven Bruder, den er nicht verlieren möchte, scheint er Zuneigung zu spüren, obwohl dessen ständiges Gejammer ihm auf die Nerven geht. Allerdings bleibt das Beziehungsgeflecht von Conrad und Rutger an der Oberfläche und hätte zum besseren Verständnis mehr Hintergrund vertragen.

Etwas vielschichtiger ist Antonias Bruder Severin, obwohl dessen Auftritte im Roman eher gering sind. Auf den ersten Blick erscheint er als gefühlskalter Mensch, dem das Schicksal seiner Schwester gleichgültig ist. Tatsächlich aber ist er ein verschlossener Mensch, der einfach nicht in der Lage ist, seine Empfindungen zu offenbaren.

Auch Metza, Rutgers Ehefrau, kann nicht eindeutig in die Kategorie Gut oder Böse eingeordnet werden. Bei ihr ist eine Entwicklung zu erkennen, die plötzlich ist und deshalb umso mehr überrascht.

Auf jeden Fall sei noch Jenne erwähnt, die Magd mit dem mutigen Herzen, die im Verlauf der Handlung von einem schüchternen, ängstlichen Mädchen zur selbstbewussten Frau wird, die mit Klugheit und Verstand agiert und einen großen Beitrag dazu leistet, dass die Geschichte in einem malerischen Happy End mündet.