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Veröffentlicht am 02.10.2017

Ich will noch mehr über Alessa lesen!

Das blaue Medaillon
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Martha Sophie Marcus versteht ihr Handwerk. Obwohl dies der erste historische Roman ist, den ich von ihr lese, haben wenige Zeilen ausgereicht, um mich von ihrem Schreibstil zu überzeugen. Sie benutzt ...

Martha Sophie Marcus versteht ihr Handwerk. Obwohl dies der erste historische Roman ist, den ich von ihr lese, haben wenige Zeilen ausgereicht, um mich von ihrem Schreibstil zu überzeugen. Sie benutzt der Zeit angemessenes Vokabular, ohne dass es einem an die heutige Zeit gewöhnten Leser negativ auffällt, im Gegenteil, es trägt zum Charme ihrer Bücher bei.



Ein realistisches, farbenfrohes Gemälde der Zeit

Nach einem turbulenten Auftakt begleiten wir die Hauptfigur Alessa auf einer Reise nach Celle, dich mich persönlich lebhaft an eines meiner ersten großen Rollenspiel-Abenteuer erinnert hat, in welchem ich undercover mit der Gauklertruppe Saltatio Mortis in die Dunkellande gereist bin, um dort heimlich am Hofe Nachforschungen anzustellen. Die Auftritte der Schauspieltruppe sind lebhaft beschrieben, man sieht die Harlekins förmlich vor sich durch die Luft wirbeln. Immer wieder wird das Schauspiel zum Mittelpunkt der Handlung, und immer wieder unterhält uns die Autorin damit auf fantastische Weise.

Auch am Hofe selbst, wo man vielleicht höherwertiges Theater kennt, kommt die Truppe gut an. Es ist schon zu sehen, wie erwachsene, adelige Menschen sich im Angesicht von heiterer, alberner Unterhaltung gehen lassen können. Die Anziehungskraft von einfachen Schauspielern ist mit den Händen zu greifen. Generell ist die Darstellung der höfischen Personen ebenso gelungen wie die von Alessa und ihrer Truppe. Dass wir es hier mit echten historischen Persönlichkeiten zu tun haben, deren Ränkespiele in der Realität ganz ähnlich abgelaufen sind, trägt dazu bei, dass der Roman authentisch und realistisch wirkt.



Spannende, lebensnah wirkende Charaktere

Alessa ist eine sympathische Heldin, auch wenn sie manchmal ein wenig zu überlegen wirkt. Sie spricht mehrere Sprachen, ist eine Meisterdiebin und klug genug, in den codierten Konversationen der Adeligen nicht unterzugehen. Ein klein wenig mehr Schwäche hätte ihr vielleicht gut getan, dennoch ist sie gerade so nicht zu einer Mary Sue geworden und man sorgt sich bisweilen doch um ihr Wohlergehen.

Dass sie einen Love-Interest bekommt, hat mich persönlich überrascht, doch es passte zu der Geschichte und die Romanze hat glücklicherweise den eigentlichen Plot nicht überschattet. Stattdessen hat die Liebe für beide Seiten eine angenehme Komplikation hinzugefügt, und den großen Gegenspieler von Alessa menschlich wirken lassen. Auch dieser Mann ist nahe an der Perfektion, er ist von einfacher Geburt, aber dennoch gebildet und im höchsten Maße loyal gegenüber dem Herzog. In Rollenspielterminologie wäre er wohl rechtschaffend-gut, doch glücklicherweise hat er das Herz am rechten Fleck, so dass er kein blinder Gesetzesdiener ist.

Eine der interessantesten Figuren ist der Auftragsmörder, vor dem Alessa flieht. Einige Szenen werden aus seiner Sicht geschildert und hier lernen wir einen Menschen kennen, der generell eiskalt, kalkulierend und intelligent ist, aber genauso schnell auch von heißem, loderndem Hass verschlungen werden kann. Es ist wirklich schade, dass wir nicht mehr von diesem Mann erfahren. Generell habe ich mir am Ende des Buches gewünscht, dass es sich um den Auftakt einer Reihe handelt, denn so viele Charaktere haben das Potential, ihre eigene Geschichte erzählen zu können. Gerne würde ich lesen, wie aus dem Mann Mezzanotte der berüchtigte Auftragsmörder wurde.



Fazit:

Der historische Roman "Das blaue Medaillon" von Martha Sophie Marcus überzeugt mit einem angenehmen Schreibstil und spannenden Charakteren. Die Geschichte um Alessa, die alles versucht, um ihr Medaillon zu beschützen, ist rasant und in den bunten Bildern einer Schauspieler-Truppe erzählt. Die historischen Umstände werden realitätsnah erzählt, ohne den Leser zu langweilen. Ein wenig übertrieben wirkt manchmal das Können der Hauptperson, doch abgesehen davon ist dieser Roman eine runde Sache.

  • Einzelne Kategorien
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  • Figuren
  • Atmosphäre
  • Spannung
  • Thema
Veröffentlicht am 01.10.2017

Eine realistische Dystopie

Die Optimierer
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Dystopien werden derzeit so gerne gelesen wie nie zuvor. Im Anschluss an „Die Tribute von Panem“ hat sich ein eigenes Genre entwickelt, in dem junge Frauen gegen ein diktatorisches System kämpfen, um der ...

Dystopien werden derzeit so gerne gelesen wie nie zuvor. Im Anschluss an „Die Tribute von Panem“ hat sich ein eigenes Genre entwickelt, in dem junge Frauen gegen ein diktatorisches System kämpfen, um der Menschheit ihre Freiheit wiederzugeben. In vielen Spielarten finden sich diese Geschichten auf dem Buchmarkt. Die Optimierer hingegen geht einen Schritt zurück und ist viel näher an der wohl bekanntesten Dystopie, George Orwells „1984“. Mir gefällt diese Rückbesinnung sehr.



Die Naivität der Hauptperson

In der heutigen Zeit ist die Angst davor, was das Internet und die moderne Technik bald alles können wird, beinahe allgegenwärtig. Der gläserne Mensch, die Überwachung der Menschheit durch Roboter, all das sind keine neuen Ideen. Das Buch „The Circle“, welches gerade mit Emma Watson in der Hauptrolle verfilmt wurde, greift dieselbe Idee auf: Wenn alle jederzeit überwacht werden und dazu angeregt werden, sich mit anderen zu vernetzen, gibt es das absolute Wissen, nichts kann mehr in Vergessenheit geraten und die bösen Menschen werden schneller bestraft. Dass Rezept dieser Art von Dystopie besteht darin, dass dem Leser das System zunächst als gut und fortschrittlich präsentiert werden muss, damit die Schattenseiten umso offensichtlicher und drastischer geschildert werden können. Damit man aber ein eigentlich schlechtes System gut darstellen kann, benötigt man eine Hauptfigur, die zumindest in einem gewissen Umfang naiv ist. Dies war bei der Protagonistin aus „The Circle“ der Fall, weswegen ich das Buch entnervt abgebrochen habe – es war nicht zum Aushalten.

Samson Freitag, die Hauptperson in diesem Roman, ist ebenfalls naiv und deswegen treuer Staatsdiener. Aber seine Naivität ist gänzlich anders, weswegen er als Person so viel besser funktioniert. Er glaubt aus tiefstem Herzen an das System, geht mit seiner absoluten Korrektheit manchmal sogar seinen Kollegen von der Lebensberatung auf die Nerven. Er steht kurz vor der Beförderung, da er eine bestimmte Menge an Beratungsgesprächen durchgeführt hat und zudem beinahe 1000 Sozialpunkte erreicht hat. Sein Alltag dreht sich beinahe vollständig darum, Sozialpunkte zu sammeln. Überall sieht er Verbesserungspotential im System, informiert die zuständigen Behörden darüber, und nebenher begeht er regelmäßig wohltätige Handlungen. Er ist ein perfekt funktionierendes Rädchen.



Das realistische Grauen des Systems

Als sich sein Leben jedoch, wie im Klappentext erwähnt, urplötzlich zum Schlechteren wendet, sehen wir hinter seiner Naivität noch etwas anderes: Egoismus. Seine Hingabe zum System gründet sich nicht darin, dass er das System an und für sich gut findet, sondern vielmehr weiß er, wie er selbst Potential daraus schlagen kann, wie er am schnellsten Sozialpunkte sammeln kann, wie er steil Karriere machen kann. Jeder an seinem Platz lautet die Formel in dieser Gesellschaft und Samson weiß exakt, was er tun muss, um an seinen Platz zu gelangen. Deswegen glaubt er an das System.

Entsprechend schnell kann er sich auch mit Hass und Aggressionen gegen jene richten, die ebenfalls dem System dienen, als es bei ihm plötzlich bergab geht. Gerade weil er nicht aus Hingabe zur Gesellschaft, sondern nur für sich selbst wohltätig und systemkonform war, sieht er nach seinem Absturz überall nur noch, wie das System gegen ihn arbeitet. Er ist weiterhin naiv genug zu glauben, dass er nur wieder genügend Sozialpunkte sammeln muss, um in sein altes Leben zurückkehren zu können. Echte Verantwortung für die eigenen Taten, echte Reflexion findet nicht statt.

Es fällt schwer, Samson sympathisch zu finden. Genau das ist der Clou dieses Buches: Der Protagonist ist ein so widerwärtiger Mitläufer, er steht so sehr für all das, was an einer optimierten Gesellschaft nicht stimmt, dass das System selbst eine bedrohliche Authentizität erhält. Man kennt aus dem eigenen Leben diese Bürokraten, die penibel den Regeln folgen und genau deswegen allen anderen das Leben schwer machen. Durch die Linse von Samson erscheint es plötzlich nicht mehr unrealistisch, dass so ein dystopisches Regime wirklich entsteht.



Ein paar Schwächen bleiben

Auch die Auflösung am Ende passt in diese Vorstellung. Wieder begegnen wir der Naivität, wieder sehen wir, wie sehr diese Naivität der Gesellschaft insgesamt schaden kann. Der Glaube daran, das Richtige zu tun, ist sehr gefährlich.

Trotzdem hat das Buch auch einige Schwächen. Immer wieder beobachten wir zwischendurch Traum-Sequenzen von Samson, und ich gebe ehrlich zu: So sehr ich mich auch selbst für Träume interessiere, diese Abschnitte haben mich ratlos zurückgelassen, da ich die Symbolik nicht recht entschlüsseln konnte. Obwohl das Buch nur knapp 300 Seiten lang ist, fühlten sich einige Passagen doch ein wenig langgezogen an, ein wenig Raffung wäre hier und da nicht schlecht gewesen. Dennoch ist der Schreibstil über weite Strecken unterhaltsam, man lacht herzlich, bis einem zum Schluss das Lachen im Halse stecken bleibt.



Fazit:

Der Science-Fiction-Roman „Die Optimierer“ von Theresa Hannig ist eine angenehm düstere Dystopie, die nicht davor zurückschreckt, mit einem unsympathischen Hauptcharakter zu arbeiten. Die Mischung aus Naivität und Egoismus führt dem Leser deutlich vor Augen, wie leicht aus der Hölle der Bürokratie ein Regime wie dieses entsteigen könnte. Obwohl die Warnung vor den Möglichkeiten der Technik natürlich auch hier vorhanden ist, steht doch viel stärker eine andere Botschaft im Mittelpunkt: die Gefahr, die von dem Glauben an das absolut Richtige ausgeht. Nicht jeder Abschnitt des Buches konnte vollständig überzeugen, dennoch kann ich eine klare Kaufempfehlung aussprechen.

Veröffentlicht am 29.09.2017

So viel mehr als nur eine Liebesgeschichte!

Die Schlange von Essex
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Dieser Roman wir beworben als eine Liebesgeschichte vor einem historischen Hintergrund im viktorianischen England. Das alleine reicht aus, um mein Interesse zu wecken, auch wenn ich eher noch ein Stück ...

Dieser Roman wir beworben als eine Liebesgeschichte vor einem historischen Hintergrund im viktorianischen England. Das alleine reicht aus, um mein Interesse zu wecken, auch wenn ich eher noch ein Stück weiter zurück in der Geschichte gehen würde, eher an den Anfang des 19. Jahrhunderts, um rundum glücklich zu sein. Doch auch der Beginn der Industrialisierung hat seinen Reiz. Und für eine Liebesgeschichte ist der historische Rahmen eh meist eher nebensächlich.



Schräge, aber genau deswegen liebenswerte Charaktere

So zumindest dachte ich, als ich dieses Buch das erste Mal in die Hand genommen habe. Mit gerunzelter Stirn las ich die ersten Seiten und war mir noch nicht sicher, was ich von der Fülle an Figuren, die dem Leser direkt präsentiert werden, halten soll, zumal sie alle auf den ersten Blick mehr als unsympathisch wirken. Doch irgendwie hatte das auch seinen Charme, es war erfrischend anders, der ganze Schreibstil war spannend. Also habe ich weitergelesen.

Mit jeder Seite, die wir sowohl Cora als auch Will besser kennenlernen, werden die beiden sympathischer. Sie sind umgeben von einer Reihe weiterer Personen, die ebenfalls in ihren Eigenarten schwer zu lieben sind: Da ist der zukunftsgewandte Arzt Luke, der eine schwierige äußerliche Erscheinung hat und im Umgang eher spröde wirkt. Die Ehefrau Stella, die so perfekt und gutaussehend ist, dass sie kaum menschlich wirkt. Das Kindermädchen Martha, das zur besten Freundin von Cora geworden ist, die immer nur grummelig, unzufrieden und auf Provokation ausscheint. Sogar die Kinder, zum Beispiel Coras Sohn Francis, sind so seltsam, dass man nur schwer mit ihnen warm wird.

Doch genau darin liegt die Stärke dieses Buches. Wir lernen echte Charaktere kennen. Wir lernen, dass der erste Eindruck täuscht. Allesamt sind sie schnell mit ihren Urteilen über die anderen, allesamt kommen zu einem derart negativen Eindruck der anderen Figuren, noch ehe sie ein Wort mit ihnen gewechselt haben, dass man sich fragt, warum all diese Menschen so negativ und misstrauisch sind. Dann, langsam, lernen sie einander kennen. Sie sind gezwungen, die guten Seiten in den anderen zu sehen, oder auch nur, dass die anderen in ihnen selbst ihre guten Seiten hervorbringen. Und so geht es uns auch als Leser: Unweigerlich verliebt man sich in jede einzelne der Figuren. Ihre seltsamen Macken werden liebenswert und machen sie zu echten Menschen mit Ecken und Kanten. Man wünscht ihnen alles Glück im Leben, während man gleichzeitig spürt, dass es unmöglich ist, dass am Ende alle glücklich werden.



Packende Geschichten vor historischer Kulisse

Zeitgleich fällt ein Schatten über das kleine Städtchen, in dem diese Geschichte spielt. Man erzählt sich Legenden von der Schlange von Essex, einem Monster, das wohl Ähnlichkeiten mit dem Monster von Loch Ness hat. Es kommt im Nebel aus dem Fluss und bringt Tod und verderben. Mehrere Menschen sterben, andere werden krank oder verschwinden. Die einfachen Leute fangen an, an ihrem Hirten zu zweifeln und der Pastor Will hat alle Hände voll damit zu tun, ihren Glauben zu wahren. Immer wieder kehrt die Handlung zu dieser Schlange zurück. So, wie Cora und Will darum streiten, ob im Glauben an Gott oder in der Befolgung der Theorien Darwins die Vernunft liegt, so kämpft die Bevölkerung gegen den Aberglauben an, dem sie schließlich doch verfällt. Immer wieder wird der Kampf zwischen rationaler Vernunft und irrationalem Glauben, aber auch zwischen rationalem Glauben und irrationaler Vernunft zum Thema.

Währenddessen tobt in London in den Armenvierteln der Kampf um Arbeiterbefreiung. Die Thesen von Marx sind in der Welt, der Sozialismus ist bekannt, das Leid der Industriearbeiter ist unermesslich. Obwohl nur wenige Szenen hier spielen, schildert Perry diesen Aspekt des Fortschritts doch sehr eindringlich. Dass sie auch ihre Hauptpersonen in diesen Konflikt eintreten lässt, einige mit ehrenwerten Ansichten, einige eher weniger, gibt der Geschichte eine weitere spannende Dimension.



Eine komplexe Schau auf das Leben

Vor dem historischen Hintergrund und seinen ganz besonderen Herausforderungen ist eine Liebesgeschichte zwischen einer Witwe und einem verheirateten Pastor keine leichte Angelegenheit. Doch es ist nicht einfach nur romantische Liebe, von der wir hier lesen. Es entwickeln sich Freundschaften, die beinahe noch tiefer gehen, als jede Liebe es jemals könnte. Wir sehen Familien, Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern, die so problematisch und so voller ungewollter Verletzungen sind, dass man unwillkürlich mit allen Beteiligten mitleidet. Die ganze Facette menschlicher Emotionen, menschlicher Beleidigungen und Zerwürfnisse spielt sich in diesem beinahe 500 Seiten langen Buch ab – und am Ende musste ich wirklich mit den Tränen kämpfen.




Fazit:

Der Roman „Die Schlange von Essex“ von Sarah Perry ist die berührende Geschichte eines ausgewählten Ensembles von Menschen, die füreinander da sein wollen, aber es am Ende doch kaum können. Vor dem Hintergrund der Industrialisierung, des Siegeszuges der Naturwissenschaften über die Kirche, aber auch im Angesicht von beharrlichem Aberglauben kämpfen die Hauptfiguren darum, Liebe und Freundschaft zu finden, ihre Stolz zu behalten und einen Sinn im Leben zu finden. Die tief berührende Geschichte von Cora, Will, Luke, Martha und all den anderen ist ein Meisterwerk, das uns gekonnt Einblicke in die Empfindsamkeit der menschlichen Seele gibt.

Veröffentlicht am 27.09.2017

Die Vollkommenheit jenseits der Perfektion

Ein fast perfektes Wunder
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Am heutigen Tag, der für Ende September noch einmal überraschend warm war, ist bei Diogenes ein neues Buch erschienen, das sich prächtig darauf versteht, die Sehnsucht nach dem Sommer aufkommen zu lassen. ...

Am heutigen Tag, der für Ende September noch einmal überraschend warm war, ist bei Diogenes ein neues Buch erschienen, das sich prächtig darauf versteht, die Sehnsucht nach dem Sommer aufkommen zu lassen. Die Erzählung über handgemachtes Eis, über Rockmusik und über die Liebe ist eine wundervolle Erinnerung daran, dass manchmal das beste im Leben ganz unerwartet geschieht.



Die Angst vor der Entscheidung

Weder Milena, die weibliche Hauptfigur, noch Nick, der Protagonist, sind wirklich glücklich in ihrem Leben, doch sie sind, zumindest am Anfang, nicht wirklich in der Lage, das zu sehen. Wenn man ein gewisses Alter erreicht hat, wird es plötzlich gefährlich, sich einzugestehen, dass man bisher auf dem Holzweg war. Denn man hat viel Zeit verloren. Kann ein Mann, der schon zwei gescheiterte Ehen hinter sich hat und trotz einer jahrzehntelangen Karriere als Rockmusiker immer noch erfolgreich ist, sich wirklich kurz vor der dritten Hochzeit ehrliche Gedanken darüber machen, ob er diese Ehe eigentlich will? Und kann eine Frau, die nach diversen Enttäuschungen mit Männern endlich ihr Glück in einer anderen Frau gefunden zu haben scheint, wirklich ernsthaft in Frage stellen, ob sie zum nächsten Schritt, zum gemeinsamen Kind, wirklich bereit ist?

Als erwachsener Mensch läuft man sehr schnell in Fallen, gerne auch sehenden Auges. Man spürt, dass man irgendwann falsch abgebogen ist und sich seitdem auf dem Holzweg befindet, doch man weiß auch, dass man nicht mehr so jung ist, dass man nicht mehr so viel Zeit hat, also bleibt man auf dem Pfad, denn das ist immer noch besser, als vor dem unbekannten Nichts zu stehen. Lieber zwingt man sich zu Entscheidungen, hinter denen man nicht mit vollem Herzen stehen kann, von denen man weiß, dass sie einen unglücklich machen werden, als dass man den langjährigen Partner verlässt oder seine Karriere aufgibt.

Das alles stellt der Autor in seinem Roman auf wundervolle Weise dar. Nick ist erfolgreich als Rockmusiker, die ganze Welt kennt ihn, doch glücklich ist er nicht. Er will sich verändern, er verachtet so ziemlich alle Menschen in seinem Leben, doch er ist zu zynisch, als dass er aus eigener Kraft einen Kurswechsel schaffen würde. Er schluckt seine Wut und seine Aggressionen immer wieder hinunter, um ein Weitermachen zu ermöglichen. Auch Milena lässt es zu, dass sie in ihrer Beziehung zu einer anderen Frau immer mehr in alte Rollenmuster, die eigentlich nur zwischen Mann und Frau zu finden sein sollten, verfällt, denn sie will die Beziehung nicht aufgeben, und schon gar nicht will sie einen Mann als Partner – Männer sind der Feind.



Menschliche Augenöffner

Dann treffen sich die beiden an einigen wenigen aufeinanderfolgenden Tagen, zunächst zufällig, dann beinahe schon geplant. Sie spüren instinktiv, dass der andere sich ebenso verloren fühlt wie sie selbst. Nick erkennt die Komplexität der Eiskreationen, die Milena Tag um Tag aufs Neue erschafft, und beinahe ohne Worte können sie miteinander auf einer Ebene kommunizieren, die ihnen mit anderen Menschen bisher stets verwehrt geblieben ist. Gefühlvoll, ausschweifend, aber vor allem unaufdringlich beschreibt Andrea De Carlo die Gedankenwelt beider Menschen. Über 300 Seiten werden wir Zeuge ihrer Zweifel, ihrer Ängste, aber auch ihrer Hoffnungen.

Und dann, beinahe wie in einem Quentin-Tarantino-Film, entlädt sich die ganze angestaute Energie in einem einzigen Knall, der das Universum aller Beteiligten aus den Angeln reißt. Der Höhepunkt dieses Romans ist gleichzeitig unerwartet und vorhersehbar, wahnsinnig komisch und tragisch. Und genau deswegen wirkt dieses Roman, denn die Figuren sind echt, ihre Ängste sind echt und die tragische Komik der Falle, in der sie sich befinden, ist jedem erwachsenen Menschen nur zu bewusst. Das Buch berührt, es macht nachdenklich und es zeigt, dass jeder von uns Angst vorm Neinsagen hat, Angst vor Versagen, Angst vor dem Unbekannte. Es verurteilt nicht dafür, sondern zeigt stattdessen, dass Mut durchaus belohnt werden kann.



Fazit:

Der Roman „Ein fast perfektes Wunder“ von Andrea De Carlo ist ein kraftvolles Loblied auf den Mut zur Veränderung. Doch gleichzeitig erinnert er uns, dass wir alle nicht perfekt sind, dass wir alle Ängste in uns tragen, dass wir Liebe und Halt und Geborgenheit suchen. Unaufdringlich beweist der Autor, dass das Leben komplex und die Möglichkeiten da sind, wenn wir nur den Mut finden, Türen zu schließen, um andere öffnen zu können. Die Geschichte um Milena und Nick hat mich tief berührt, denn sie wirkte so lebensnah und regte gleichzeitig zum Träumen an, dass ich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt war.

Veröffentlicht am 26.09.2017

Tolle Charaktere zum Mitfiebern

Die Lieferantin
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Endlich wieder ein klassischer Schreibstil

Eines der ersten Dinge, die mir an diesem Buch positiv aufgefallen ist, war, dass die Autorin offensichtlich den Mut besitzt, auf ganz herkömmliche Art und Weise ...

Endlich wieder ein klassischer Schreibstil

Eines der ersten Dinge, die mir an diesem Buch positiv aufgefallen ist, war, dass die Autorin offensichtlich den Mut besitzt, auf ganz herkömmliche Art und Weise zu erzählen: Dritte Person, Vergangenheit, wenige wechselnde Perspektiven. Es betrübt mich als Anhängerin dieses Stils, dass das heutzutage eine Seltenheit ist. Genau dieser Schreibstil ermöglicht es mir nämlich, in eine Geschichte abzutauchen und dabei zu vergessen, dass ich lese. Er ist unauffällig, lässt mich nicht stolpern und bringt auf eloquente Weise die Personen zum Leben.

Wie in einem Thriller üblich, haben wir hier Szenen aus verschiedenen Genre gemischt: mal spannend, mal actiongeladen, mal einfach nur Informationslieferanten. Sogar romantische Anklänge finden sich, wenn auch eher als Rückblick und nicht für den eigentlichen Plot relevant. Das alles bringt dieser Schreibstil gekonnt an den Leser, ohne dass sich der Stil jemals ändern muss. Es ist ein Fluss, eine runde Sache.



Spannende Charaktere, denen man Erfolg wünscht

Das Buch ist hochaktuell und entsprechend liest man eine politische Botschaft deutlich heraus. Die wichtigsten Personen sind Frauen, die durch Intelligenz und Stärke auffallen, ohne dabei ihre Weiblichkeit zu verlieren. Am Rande streifen wir die Problematik der Hautfarbe, denn in dem politischen Klima nach dem Brexit scheinen die Engländer in diesem Buch Menschen mit nicht weißer Hautfarbe sehr negativ gegenüber eingestellt zu sein. Eine erschreckend realistische Entwicklung, wie man auch nach den jüngsten Wahlen in Deutschland feststellen muss.

Die Männer, die zumeist in der Rolle der Antagonisten oder Bösewichte auftreten, hängen noch alten Rollenbildern an, mit all den Vorurteilen. Dass hinter dem geschlechtslosen Pseudonym "TheSupplier" eine Frau steckt, kommt ihnen lange nicht in den Sinn, ebenso wie sogar ein eiskalter Drogenboss kurzes Zögern zeigt, ehe er den Mord an einer Frau in Auftrag gibt.

Ellie, die hinter der Lieferantin steckt, sowie ihre Anwältin und ihre engste Mitarbeiterin sind mir von Anfang an sympathisch. Wir haben es hier mit echten Menschen zu tun, die zwar zusammen arbeiten und an dieselbe Sache glauben, sich aber dennoch deutlich voneinander unterscheiden und kontrovers über Mittel und Zweck diskutieren. Sie alle haben ihre Probleme, ihre löchrigen Lebensläufe, aber die tragischen Vorgeschichten wirken nicht, wie leider so oft, aufgesetzt, sondern als realistische Motivationen für ihre Handlungen. Genau deswegen ist das Buch auch tatsächlich spannend: Man weiß, dass alle Welt, insbesondere die Männer aus Drogenbanden und Politik, gegen die Frauen arbeiten, sie tot sehen wollen, und man weiß nicht, ob diese Frauen am Ende gewinnen. Ihr Wohlergehen liegt mir als Leserin sehr am Herzen.



Ein holpriger Plot

Die Geschichte selbst ist ebenfalls interessant und spannend, aber nicht ganz so gradlinig erzählt, wie ich es mir wünschen würde. Wie bei "Der Informant" haben wir es auch hier mit Szenen verschiedener Figuren zu tun, doch relativ schnell kann man stets einordnen, wer das ist und warum das wichtig für den Plot ist. Jede Szene ergänzt auf ihre Art ein kleines Puzzlestück, um sich zu einem großen Ganzen zusammenzufügen.

Leider ist dieses große Ganze in meinen Augen ein wenig zu groß. Die Brexit-Diskussion, der Kampf um Drogenlegalisierung, die rechtsgesinnten Nationalen - all das ist ein politischer Mix, der zwar hochinteressant ist, aber ein klein wenig zu viel. Für einen Roman, der in einer sehr nahen Zukunft spielt und städtische Probleme einfangen soll, sind natürlich Probleme um Hautfarbe, Drogenmissbrauch und wirtschaftlicher Absturz wichtig. Trotzdem gehen einige Figuren in dieser Masse manchmal unter und wir müssen viele Seiten Hintergrundinformationen lesen, die zwar von Charakteren geliefert werden, aber trotzdem etwas ungelenk wirken. Ein wenig mehr Konzentration auf einige wenige Problematiken hätte eventuell die Spannung noch erhöht. 



Fazit:

Der Thriller "Die Lieferantin" von Zoë Beck ist eine spannende Reise durch die Welt von Drongenbanden, Bestechung und politisch aufgeheizten Zeiten in Englands Metropole. Die Frauen rund um Hauptperson Ellie sind authentische Menschen, mit denen man mitfiebert, um die man Angst hat, für die man hofft. Die vielen politischen Probleme, die der Roman anspricht, sind zwar durchaus interessant dargestellt, lassen aber leider manchmal den eigentlichen Plot und die Hauptpersonen so stark in den Hintergrund rücken, dass man sich als Leser etwas verloren fühlt. Dennoch ist dieser Thriller ein Genuss, er liest sich flott und weiß, Spannung aufzubauen. Jedem Fan des Genres kann ich den Kauf nur empfehlen!