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Veröffentlicht am 06.05.2019

Hinaus in die weite Welt

Weitwinkel
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strebt der Protagonist dieses Romans bereits früh, doch scheint sie versperrt zu sein für ihn.

Ezra, den wir als Jugendlichen kennenlernen, führt ein aus mitteleuropäischer Sicht überaus ungewöhnliches ...

strebt der Protagonist dieses Romans bereits früh, doch scheint sie versperrt zu sein für ihn.

Ezra, den wir als Jugendlichen kennenlernen, führt ein aus mitteleuropäischer Sicht überaus ungewöhnliches Leben, denn er wächst in einer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde auf, der sich seine Eltern, die aus wesentlich liberaleren Familien stammen, aus vollster Überzeugung angeschlossen haben. Auch nach vielen Jahren sind sie, die als "Dazugekommene" gelten, noch immer ängstlich darauf bedacht, bei der Erziehung ihres einzigen Sohnes nichts falsch zu machen.

Da machen ihnen Ezras Liebe zur Fotografie wie auch sein Nonkonformismus bald einen Strich durch die Rechnung: er wird dabei erwischt, wie er auf der Toilette Fotos von seiner Mitschülerin - übrigens mit ihrem vollsten Einverständnis, es ist eine Art Shooting und fliegt von der ebenfalls ultraorthodoxen Schule, um danach an einer wesentlich liberaleren, allerdings ebenfalls jüdischen Einrichtung weiteren aus Sicht seiner Eltern und deren Gemeinde verheerenden Einflüssen ausgesetzt zu sein.

Zu Hause gibt es eine Veränderung, indem ein Pflegekind aufgenommen wird - Carmi ist nur wenige Jahre jünger als Ezra und bald schon hat sich ein Vertrauensverhältnis aufgebaut - Ezra versteht, dass er mitnichten derjenige mit den größten Problemen ist.

Zum zweiten Teil, in dem sich Ezra alleine in New York durchschlägt und versucht, als Fotograf Fuß zu fassen, gibt es aus meiner Sicht einen großen Bruch - dieser ist weitaus oberflächlicher als der erste, wobei das möglicherweise Absicht des Autors Simone Sobekh ist, um den vollkommen anderen Lebensstil zu verdeutlichen, der hier herrscht. Für mich werden jedoch gewisse Gedankengänge des Protagonisten, die er zweifellos gehabt haben muss, dadurch zu wenig verdeutlicht und das Buch verliert für mich an Qualität. Zudem erscheinen mir einige Abläufe und Handlungen ausgesprochen unlogisch.

Dennoch habe ich den Roman wirklich gerne gelesen: er fällt definitiv aus dem Rahmen des Bekannten bzw. Üblichen. Dem jungen Autor ist ein mutiges und stellenweise eindringliches Werk zu einem ausgesprochen ungewöhnlichen Thema gelungen, dem ich zahlreiche Leser wünsche

Veröffentlicht am 03.05.2019

Wo rohe Kräfte sinnlos walten

Milchzähne
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Wo rohe Kräfte sinnlos walten: dieser Spruch ging mir bei der Lektüre dieses Buches öfter durch den Kopf, denn Skalde und ihre Mutter Edith sind dort, wo sie leben, unerwünscht. Dabei ist Skalde dort ...

Wo rohe Kräfte sinnlos walten: dieser Spruch ging mir bei der Lektüre dieses Buches öfter durch den Kopf, denn Skalde und ihre Mutter Edith sind dort, wo sie leben, unerwünscht. Dabei ist Skalde dort geboren und ihr Vater war ein Einheimischer, dessen Tod aber in Zusammenhang mit ihrer Mutter gebracht wird.

Man lebt für sich und ist mehr oder weniger gezwungen, als Selbstversorger zu agieren. Geld gibt es offenbar nicht mehr, denn zusätzliche Produkte erhält man durch Tauschgeschäfte mit den anderen. Die Anderen - ich würde sie nicht als Nachbarn bezeichnen, da sie sich kaum wie solche verhalten. Kurt ist jemand, der Mutter und Tochter wohlgesonnen ist, ebenso die beiden Frauen Gösta und Len, aber selbst mit diesen ist der Umgang überaus reduziert.

Es scheint, als hätte eine ungeheure Erderwärmung stattgefunden, die bereits große Regionen unbewohnbar gemacht hat und auch hier ist die Hitze kaum noch zu ertragen. Das, was existiert, wollen die Menschen für sich bewahren, Neue werden mit Argwohn betrachtet. Und das ist noch das Wenigste. Oft genug kommunizieren die Menschen hier nicht im Guten, sondern über Drohungen. Die Gemeinschaft ist keine, da es fast kein Mit-, sondern ein Gegeneinander gibt.

Eines Tages trifft Skalde das Kind Meisis und nimmt es mit nach Hause - es gelingt ihr nur für kurze Zeit, das kleine Mädchen zu verstecken, dann entdecken die anderen sie und betrachten sie vor allem aufgrund ihrer roten Haare mit Argwohn und halten sie für unnormal. Am liebsten würden sie sie ausradieren - und das ist wörtlich zu nehmen.

Skalde geht auf einen Handel ein - wenn Meisis innerhalb von zwei Monaten die Milchzähne ausfallen, ist sie ein normales Kind und kann bleiben, ansonsten wird sie beseitigt.

Etwas Ursprüngliches, Archaisches liegt in dieser Geschichte, die geheimnisvoll bleibt, denn vieles wird lediglich angedeutet. Die Symbolik und die Verbindung zu Themen unserer Gesellschaft wie Ausgrenzung, Angst vor Neuem, Fremdenhass ist dennoch mehr als deutlich.

Helene Bukowski hat mit ihrem Debüt eine ganz besondere Art von Endzeitroman geschaffen. Ein beängstigendes Szenario mit einer Vision, die leider alles andere als unrealistisch ist. Ein Roman, dessen Lektüre Kraft und Mut erfordert. Wenn man sich heranwagt, kann es sich durchaus als Gewinn mit wegweisendem Inhalt entpuppen.

Veröffentlicht am 28.03.2019

Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben

Die einzige Geschichte
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Für den neunzehnjährigen Paul ist es auf jeden Fall so: er lernt Susan, die weit mehr als doppelt so alt und deren Töchter älter als er sind, im Tennisclub kennen. Mit einer frappierenden Selbstverständlichkeit ...

Für den neunzehnjährigen Paul ist es auf jeden Fall so: er lernt Susan, die weit mehr als doppelt so alt und deren Töchter älter als er sind, im Tennisclub kennen. Mit einer frappierenden Selbstverständlichkeit und Klarheit, ganz natürlich also, wird aus ihnen beiden ein Paar. Monatelang geht Paul bei ihr zu Hause ein und aus, wohnt quasi mit ihr und ihrer Familie. Aus seiner Sicht bleibt ihrer beider Beziehung für die anderen unbemerkt.

Bis beide - genau aus diesem "anstößigen" Grund aus dem Tennisclub geworfen werden und schon bald gemeinsam nach London ziehen. Eine Liebe, die von beiden trotz äußerer Anfeindungen über lange Zeit nicht in Frage gestellt wird - obwohl Susan durchgehend einen recht engen Kontakt zu ihrer anderen, ihrer "alten" Familie hält.

Paul bewundert sie, wohl auch deswegen, weil sie ihn von Beginn an für voll nimmt, ihm vertraut. Er antwortet auf seine eigene Weise, indem er Verantwortung für sie übernimmt, auch dann als es einen Bruch gibt, er sie nicht mehr vorbehaltlos lieben und bewundern kann. Denn Susan trinkt. Nicht nur ein bisschen und gelegentlich und es ist auch klar warum: sie hat es in ihrer Ehe mit Gordon nicht leicht gehabt.

Es kommt, wie es kommen muss: Paul löst sich aus der Beziehung. Doch die Verantwortung, die er empfindet, bleibt - zu einem gewissen Teil.

Ein Buch in drei Teilen, die sich extrem voneinander unterscheiden: zunächst ist es Leichtigkeit und vor allem Unschuld, die vor allem aus Paul spricht, gefolgt von Zerrissenheit, Anspannung und Ohnmacht, zuletzt ist es dann der Paul, der alles überstanden hat, ein Überlebender quasi, der zurückblickt. In einer eher philosophischen Betrachtung auf sein Miteinander und sein Auseinander mit Susan schaut, über sein Leben und dessen Sinn resümiert.

Dieser dritte Teil war es, mit dem ich am wenigsten zurecht kam, irgendwie hätte ich ihn nicht gebraucht, wenn man das so schreiben darf. Ich hätte lieber meine eigenen Gedanken wandern lassen und dem Buch ein wenig mehr Aktion gegönnt, aber Barnes ist dafür nicht der richtige Autor. Und natürlich richte ich als Leserin mich danach und stelle fest, dass dies für Barnes durchaus ein bereits recht aktionsreiches Buch ist. Eines, in dem verschiedene Stimmungen und Atmosphären, verschiedene emotionale Stationen im Leben nicht nur von Paul, sondern auch von Susan und im weitesten Sinne auch von ihrer Familie dargelegt werden.

Überhaupt kein sperriges, aber andererseits auch kein ganz einfaches Buch - man muss bereit dafür sein und die ein oder andere Konvention ad acta legen!

Veröffentlicht am 14.02.2019

Zwei sperrige Typen

Unter den Menschen
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die sich hier gefunden haben, wenn man es überhaupt so bezeichnen kann. Denn eigentlich ist es Wil, die Jan gefunden hat und sie hat ihm quasi keine Wahl gelassen. Und eigentlich wollte sie auch nicht ...

die sich hier gefunden haben, wenn man es überhaupt so bezeichnen kann. Denn eigentlich ist es Wil, die Jan gefunden hat und sie hat ihm quasi keine Wahl gelassen. Und eigentlich wollte sie auch nicht ihn, sondern vielmehr sein einsames Bauernhaus hinterm Deich.

Und Jan ist auch nicht gerade ein Poussierstengel, zu Beginn könnte man meinen, er wolle nur Sex. Ganz so ist es dann auch nicht und zudem ist er ganz klar der weniger Sperrige von den beiden, der, der sich mehr auf Wil zubewegt, der, der mehr zu bieten hat. Ganz klar, sein Haus nämlich.

Und Wil? Sie kommt nicht zur Ruhe, auch, als sie eigentlich keine Wahl mehr hat.

Zwei bösartige Eigenbrötler, die man aufeinander losgelassen hat? Nein, dazu schreibt Autor Mathijs Deen viel zu entspannt, teilweise geht es sogar fast in Richtung Warmherzigkeit. Aber eben nur fast, denn den beiden einsamen Gestalten fällt es nicht leicht, sich "Unter den Menschen" zurecht zu finden, auch wenn es manchmal nur das Gegenüber ist.

Beide haben es nicht leicht gehabt, machen es sich aber selbst auch nicht leicht, ebensowenig wie einander. Sie stehen eigentlich allem im Wege, was nach vorne gewandt ist. Bis, ja bis sich etwas ändert. Und dann? Seien Sie gespannt.

Mathijs Deen gewährt uns einen Einblick in die Seele des ländlichen Niederländers, der ebenso eindringlich ist wie stellenweise erbarmungslos. Stellenweise fühlte ich mich an die kauzigen Typen in den Filmen der finnischen Kaurismäki-Brüder erinnert, die jedoch um einiges warmherziger daherkommen. Dennoch - am Ende dieser Lektüre war ich bereit, mein Herz für Jan und Wil zu öffnen. Jedenfalls ein kleines bisschen.

Veröffentlicht am 06.02.2019

Wir wollten mal auf Großfahrt gehn'

Wallace
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bis an das End' der Welt.

Und auch, wenn dieses - was auch immer für jeden Einzelnen dahinter steckte - im 19. Jahrhundert für die meisten Menschen unerreichbar schien und auch war, gab es einige Wenige, ...

bis an das End' der Welt.

Und auch, wenn dieses - was auch immer für jeden Einzelnen dahinter steckte - im 19. Jahrhundert für die meisten Menschen unerreichbar schien und auch war, gab es einige Wenige, die sich ganz weit fort wagten. Viele von ihnen waren Händler. Und manche waren Forscher: Geographen, Geologen, Archäologen. Und zunehmend auch Artenforscher, im weitesten Sinne (heute durchaus gängigen) Sinne also Biologen. So wie der Bärtige, zunächst als der junge Bärtige tituliert.

Der Bärtige, der im gesamten Erzählverlauf nicht ein einziges Mal beim Namen genannt wird, dafür aber umso prominenter ganz vorn auf dem Buch, nämlich als Titel: das ist der Artensammler Alfred Russel Wallace, der Darwin in Bezug auf die Entwicklung der Evolutionstheorie um eine Nasenlänge voraus war. Was aber keiner weiß, weil er damit nämlich nicht an die Öffentlichkeit ging.

Im vorliegenden Roman jedoch verläuft die Entwicklung ein wenig anders, weil es nämlich einen zweiten Erzählstrang gibt um einen gewissen Bromberg, seines Zeichens Nachtwächter im Naturkundemuseum und streckenweise meine absolute Lieblingsfigur im Roman. Er nämlich entdeckt rein zufällig Wallace und dessen Werk und hat etwas vor - was, das erfahren Sie durch die Lektüre dieses Buches.

Ja, Bromberg und die Charaktere um ihn herum - ich habe sie wirklich geliebt und genossen, bis just dieser Erzählstrang streckenweise zu einer Räuberpistole verkam, die sich dergestalt entwickelte, dass es mir einfach zu viel wurde. Auch, wenn ich das Buch gern gelesen habe. Wirklich.

Da die Biologie eine exakte Wissenschaft ist, möchte ich meine persönliche Evaluation, nämlich die dieses Buches auch möglichst exakt, vielmehr akribisch genau, vollenden und es im Hinblick auf meine Abschlussbewertung nicht bei einer groben Schätzung belassen: ich vergebe exakt (!) 3,5 Punkte, Sterne, Käfer, Inseln oder was auch immer für dieses Buch - wo nicht anders möglich, runde ich großzügig auf.

Ich empfehle dieses Buch toleranten und geduldigen Freunden der Naturwissenschaften, weiter Reisen und verschrobener Menschen. Jenen, die sich für eigenartige Männerbünde, fremde Völker und seltsame Orte (nah und fern) interessieren, Bärtige (bzw. deren Erwähnung auf Schritt und Tritt) mögen und denen nicht bange wird, wenn der Protagonist auch mal selbst an sich herumdoktert. Lesern, die gewillt sind, hier und da mal ein Auge zuzudrücken. Vor allem, wenn es um den geradezu inflationären Gebrauch von Adjektiven, gerne auch solchen aus eigener "Werkstatt" geht und um extreme, nicht immer passende (aus meiner Sicht) Wendungen im Handlungsverlauf.