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Veröffentlicht am 30.12.2017

Reisen bildet

Mut für zwei
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und das auch schon in sehr jungen Jahren, nämlich bei solchen Reisenden, bei denen das Alter noch in Monaten gezählt wird. So bei Levi, dem Sohn der Reiseveranstalterin Julia Malchow, der bereits im zarten ...

und das auch schon in sehr jungen Jahren, nämlich bei solchen Reisenden, bei denen das Alter noch in Monaten gezählt wird. So bei Levi, dem Sohn der Reiseveranstalterin Julia Malchow, der bereits im zarten Alter von zehn Monaten mit seiner Mutter zu einer zweimonatigen Reise mit dem Transsibirien-Express von Petersburg nach Peking aufbricht...

Doch Julia Malchow geht es in erster Linie nicht um Bildung - ihr geht es darum, für sich und ihre noch junge Familie die geeignete Lebensform zu finden - und um dies auszuprobieren und gleichzeitig darüber nachdenken zu können, eignet sich für sie nichts besser als eine Reise zu neuen Ufern - viel hat die Reisende - aus Passion, doch seit einigen Jahren auch aus beruflichen Gründen - schon gesehen, Sibirien, die Mongolei und Peking aber noch nicht - das möchte sie zusammen mit Levi kennenlernen.

Ein Plan, der in ihrem Umfeld auf Kritik, mindestestens jedoch auf Unverständnis stößt. Was tut man dem kleinen Wesen damit an, wie egoistisch ist das... nur zwei von einer Menge von Ansichten, die gegen diese Reise sprachen.

Doch Julia Malchow bricht auf, zunächst nach Sankt Petersburg, wohin sie von ihrem - gottseidank verständnisvollen - Lebenspartner begleitet wird, der sie und den gemeinsamen Sohn dann nach über einem Monat in der Mongolei wiedertreffen will.

Und los geht es mit dem Transsibirien-Express, einem Zug, den der kleine Levi sich auf ganz eigene Art erschließt. genau wie seine Mitreisenden. Rasch hat Julia ihrem kleinen Sohn eine Menge neuer Bekanntschaften zu verdanken. Zunächst ist die Reise alles andere als stressig, sondern im Gegenteil sehr entspannt, wobei allerdings ein entscheidender Beitrag die ständig von dritter Seite geleistete Unterstützung ist - Mitreisende helfen beim Proviantkauf, die emsige Schaffnerin kümmert sich - und, und, und...

Am Baikalsee, dem ersten größeren Aufenthalt, hat Julia vor allem damit zu tun, ihre und Levis Interessen durchzusetzen - hier trifft sie auf Personen - vor allem Reiseleiter - die gerne bevormunden und ihren Reiseplan diktieren wollen - natürlich zu Gunsten ihrer eigenen Geldbörse. Doch Julia folgt ihren eigenen und vor allem Levis Bedürfnissen und lernt viel - vor allem von ihrem Kind, einer Reisebegleitung der ganz besonderen Art. Diese Gedanken, die sie mit dem Leser teilt, sind dann auch das Besondere an diesem Buch, die es zu etwas ganz Persönlichem, quasi einem Geschenk an alle Rezipienten machen.

Größere Kollisionen mit den selbstgewählten Reiseführern, Levis erste Yak-Tour, Großstadtchaos in Peking - das alles erlebt Jula zu dritt, als komplette Familie. Wieder eine Umstellung, eine neue Art des Reisens, die vielen Lesern sicher nicht unbedingt verständlich ist. Julia Malchow sucht mit dem Reisen die Antwort auf brennende Fragen, diesmal die nach dem passenden Lebensmodell für sich, für ihre Familie.

Ein Buch, das polarisiert, das diskutieren lässt, das aber vor allem zeigt, dass mehrere (Lebens)Wege möglich sind. Eine Autorin, die sich öffnet, die nicht nur mir der Reise "Mut für zwei", sondern mit diesem Buch auch "Mut zum Statement" , das beileibe nicht nur wohlwollend aufgenommen wird, beweist. Ich finde es toll, diese Öffnung miterlebt zu haben und bin gespannt auf Julias weitere Reisen - mit und ohne Kind.

Veröffentlicht am 30.12.2017

Echt polnisch, echt osteuropäisch, echt europäisch - echt kosmopolitisch

Widerspruch zwecklos oder Wie man eine polnische Mutter überlebt
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Alicia ist in Schweden aufgewachsen und zwar in zwei
unterschiedlichen Kulturkreisen: während ihr Vater Schwede ist, ist ihre
Mutter Polin und lebt diese Kultur auch ganz selbstverständlich in
ihrem Heim, ...


Alicia ist in Schweden aufgewachsen und zwar in zwei
unterschiedlichen Kulturkreisen: während ihr Vater Schwede ist, ist ihre
Mutter Polin und lebt diese Kultur auch ganz selbstverständlich in
ihrem Heim, was vom ausschließlichen Gebrauch ihrer Muttersprache über
die Zubereitung der - von Alicia nicht allzusehr geschätzten -
Nationalgerichte bis zum Gebrauch einer aus Alicias Sicht typischer
Gepflogenheiten wie mangelnder Diplomatie, vorbehaltloser Großzügigkeit
und permanenter Einmischung in die Privatsphäre der Mitmenschen reicht.
Ein mitreißendes, humorvolles, aber auch einfühlsames Buch, das nicht
nur das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Kulturen, sondern auch die
Auseinandersetzung einer Heranwachsenenden mit ihren Eltern beinhaltet.
Die fast schon obligatorische Liebesgeschichte darf nicht fehlen, doch
ist sie humorvoll und eher unkonventionell dargestellt und fügt sich
somit nahtlos in die originelle Erzählung ein. Auch wenn es im Buch
selbst keine exakte zeitliche Angabe gibt - die Handlung spielt im
Sommer 1989, wird doch darin der Besuch von Papst Johannes Paul II in
Schweden thematisiert und dieser fand im Juni des genanntes Jahres
statt.
Das bedeutet, dass für ältere Semester mit eigener
Osteuropa-Vergangenheit wie mich zahlreiche Erinnerungen und
Assoziationen geweckt werden. Obwohl meine eigene osteuropäische
Anbindung weder polnisch noch katholisch ist, habe ich viele Parallelen
entdeckt - sowohl beim Feiern von Festen, als auch beim Einsetzen von
Handwerkern eigener Nationalität, aber vor allem in Bezug auf
Gastfreundlichkeit und Mitgefühl. Das macht das Buch zu einem
warmherzigen, mitreißenden Leseerlebnis, das ich möglichst vielen
Interessenten weiterempfehlen will - unbedingt lohnenswert! Und zwar
nicht nur als Buch über polnische Mütter: es ist ein Paradebeispiel für
das Zusammenleben unterschiedlicher Nationalitäten miteinander: Echt
polnisch, echt osteuropäisch, echt europäisch - echt kosmopolitisch!

Veröffentlicht am 30.12.2017

Ein lange zurückliegendes Ereignis

Opfer
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nämlich eines, das sich 1984 in einem kleinen englischen Küstenstädtchen ereignete, steht im Mittelpunkt dieses Krimis - was eigentlich? Nun, das werde ich Ihnen bestimmt nicht verraten, erfährt es der ...

nämlich eines, das sich 1984 in einem kleinen englischen Küstenstädtchen ereignete, steht im Mittelpunkt dieses Krimis - was eigentlich? Nun, das werde ich Ihnen bestimmt nicht verraten, erfährt es der gespannte Leser schließlich auch erst (fast) am Ende des Buches. Aber es lohnt sich, bis dahin im Ungewissen zu sein, hat man es hier doch mit einer ausgesprochen atmosphärischen Darstellung der Jugend in einer englischen Kleinstadt der Thatcher-Zeit zu tun. Es hat jedenfalls was mit Ritualmorden und der anschließenden Verurteilung einer jungen Frau, Corrine Woodrow, zu tun.
Fast kann man es selbst spüren, was die Protagonistinnen Debbie, Samantha und Corrine damals in den 1980ern fühlten, was sie bewegte und antrieb - für mich jedenfalls ist diese Zeit noch ausgesprochen gegenwärtig, auch wenn ich damals zwar noch jung, aber immerhin bereits erwachsen war. Hier gab es Freundschaften, Lieben, Animositäten und noch vieles mehr, was nicht auf den ersten Blick wahrzunehmen war - langsam hangelt sich der Leser hier vor, zusammen dem jungen Privatdetektiv Sean Ward, der 2003, also fast 20 Jahre später, die Sache wieder aufnimmt. Er agiert im Auftrag von Corrines Anwältin, die an ihre Unschuld glaubt und den Fall neu aufrollen will und trifft auf die seltsamsten Zusammenhänge und Verbindungen - schnell wird deutlich, dass dies eine weitreichende Angelegenheit ist, die in der - übrigens fiktiven - Kleinstadt Ernemouth und darüber hinaus weite Kreise zieht bis hin zur Polizei und zur Kommunalverwaltung. Offenbar gibt es eine Menge Leute, denen Seans Ermittlungen gegen den Strich gehen - warum eigentlich?
Die Auflösung zeichnet sich zwar teilweise ab, beinhaltet aber auch noch genügend Überraschendes, um dieses so mitreißenden Spannungsroman lesenswert zu machen - von mir gibt es hier eine unbedingte Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 30.12.2017

Familienwirrwarr oder Naturrealismus in der Gegenwartsliteratur

Meine Mutter, meine Tochter, ihr Freund, sein Vater und ich
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ch muss gestehen: ich mag keine heiteren Frauenromane. Kerstin Gier, Susanne Fröhlich, Hera Lind und die ganze Kompanie kann mir gestohlen bleiben. Nun griff ich - wie ich dachte - doch zu einem Buch dieser ...

ch muss gestehen: ich mag keine heiteren Frauenromane. Kerstin Gier, Susanne Fröhlich, Hera Lind und die ganze Kompanie kann mir gestohlen bleiben. Nun griff ich - wie ich dachte - doch zu einem Buch dieser Sparte, das etwas anders zu sein schein. Zudem wurde angekündigt, dass eines der Themen die Affinität der Ostwestfalen zur wunderbaren Domstadt Köln sein wird, ein Thema, das mich immer wieder amüsiert.

Doch ach, es kam ganz anders! Es war - teilweise - heiter, es handelte sich ganz klar um einen Frauenroman, aber es war überhaupt nicht das, was ich erwartet hatte! Es handelt sich nämlich um einen Roman mit jeder Menge Tiefgang, einen, der nachdenklich werden lässt und der vor allem das Leben aus mehr als nur aus einer Perspektive reflektieren lässt.

Worum geht es? Die 39jährige Lehrerin Meike ist von ihrem Mann betrogen worden und während dieser es sich in der bisherigen gemeinsame Wohnung in Bielefeld gemütlich macht - mehr und mehr in Gesellschaft seiner neuen Geliebten, zieht Meike mit Kind und Kegel - in diesem Fall ihrer 66jährigen, frisch verwitweten Mutter und der 14jährigen Tochter Kim nach Köln, wo sie gottseidank bereits eine neue Stelle als Mathelehrerin am Gymnasium hat. Die Mutter spendiert das Haus und gibt die Richtung vor, die hochbegabte und bisher recht pflegeleichte Tochter verliebt sich zum ersten Mal so richtig - ausgerechnet in ihren 17jährigen Nachhilfeschüler. Der hat einen ziemlich interessanten Vater. Klingt nach 08/15? Nun, fallen Sie bloß nicht darauf rein, denn ansonsten entgeht ihnen ein fabelhafter, mitreißender Roman, der leicht zu lesen ist, aber nachwirkt - ich bin sicher, auch bei Ihnen!

Es ist nämlich eine Geschichte, die sacken muss und die genauso kompliziert ist wie der Buchtitel... passt also perfekt! Damit möchte ich weder sagen, sie ist zu kompliziert noch kompliziert geschrieben. Maja Bluhm - im wahren Leben Sabine Leipert - hat durchaus immer den Nagel auf den Kopf getroffen: es ist das Leben selbst, das so wahnsinnig kompliziert ist und immer neue Windungen für uns bereit hält!

Veröffentlicht am 30.12.2017

Das geraubte Leben des Häftlings Heiner Rosseck

Der Schrecken verliert sich vor Ort
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Für die Lektüre von "Der Schrecken verliert sich vor Ort" muss man viel Kraft aufbringen, denn dieses Buch ist ein Angriff - ein Angriff auf die Psyche, die Nerven, den Verstand des Lesers. Ein Angriff ...

Für die Lektüre von "Der Schrecken verliert sich vor Ort" muss man viel Kraft aufbringen, denn dieses Buch ist ein Angriff - ein Angriff auf die Psyche, die Nerven, den Verstand des Lesers. Ein Angriff durch ein erbarmungsloses, schonungsloses Buch - jedoch einer, der stärkt, der wachsen lässt und viel, viel mitgibt für den weiteren Lebensweg - und seien es nur Zitate zuhauf.

Ich zumindest habe mehrere Riesenzettel vollgeschrieben während des Lesens - Zettel mit wichtigen Bemerkungen - teilweise wichtig für das Gesamtverständnis des Buches, teilweise jedoch auch für mein weiteres Leben - Anmerkungen, die ich in Zukunft in gewissen Lebenssituation parat haben will, ja muss!

In diesem Buch geht es um den ehemaligen Auschwitzhäftling, den Wiener Kommunisten Heiner Rosseck, der am 5. Juni 1964 - er soll als Zeuge bei einem der NS-Prozesse aussagen - die Dolmetscherin Lena kennenlernt und nach langem hin und her bei ihm bleibt. Bzw. bleibt sie bei ihm, denn es ist eine immer neue Herausforderung, Heiner zu lieben, von Anfang an: "Sie wusste nicht, wie lange ihre Liebe für den Teil des Mannes reichte, der im Lager geblieben war." (S.63) Dies sieht sie von Beginn an und bleibt doch bei ihm, bei Heiner, bei dem Auschwitz allgegenwärtig ist, der IMMER davon spricht, der die Wertigkeit anderer ehemaliger Häftlinge nach deren Nummer bemisst, dessen erste Ehe an Auschwitz zerbrach, ja: der tatsächlich zu einem großen Teil für immer dageblieben ist.

Ein kleines, trauriges Buch, das sich zu einer großen Geschichte des 20. Jahrhunderts ausweitet - manchmal fand ich sie fast zu groß für mich. Sie quillt aus allen Seiten hervor, dann auch aus mir - bevorzugt in Form von Tränen. Doch erspart man sich diese Geschichte, verliert man etwas Großes und Ganzes. Ich empfehle sie quasi als Pflichtlektüre für jeden historisch Interessierten, für den Oberstufenunterricht, für Hochschulen - quasi für alle, die bereit sind, sich mit hochwertiger politischer Literatur auseinanderzusetzen - es bringt einen Gewinn fürs Leben!