Dieses Buch hat mir mitten in der Corona-Krise etwas ganz Besonderes geschenkt: nämlich eine Wanderung entlang des südenglischen Flüsschens Ouse - des Flusses, den sich Virginia Woolf selbst zum Totenbett erwählte.
Mein Gepäck? Ein wacher Geist, die Bereitschaft, neue Wege zu gehen - und ein schneller Browser!
Denn Autorin Olivia Laing, Kultur- und Literaturwissenschaftlerin, hat mich nicht nur begeistert: nein - sie hat mich auch gefordert. Denn natürlich wusste ich, wie tragisch das Leben der großen Autorin Woolf endete - aber wo dies geschah, davon hatte ich bislang keine Ahnung. Und auch nicht von all dem, was den Fluss Ouse sonst noch so prägt.
Olivia Laing bricht in einer persönlichen Lebenskrise zu einer Wanderung entlang der Ouse auf - Ende Juni, genau zu Mittsommer, macht sie sich auf den Weg, der eine Woche dauern wird. Sie hastet nicht, sie nimmt uns Leser mit auf einen entspannten Weg voller kluger Gedanken.
Ich betone: ihr Weg ist entspannt, ihre Gedanken sind von einem solchen Reichtum von Wissen und Kreativität geprägt, dass ich längst nicht mithalten kann, doch durch ihren leisen, persönlichen, offenen und eindringlichen Stil erreicht sie, dass ich mich an keiner Stelle erschlagen fühle.
Im Gegenteil, ich empfinde während der Lektüre das Buch wie für mich gemacht; ihre bildhafte Art des Erzählens bringt mich selber an die Ouse, lässt mich schnuppern, lauschen, sehen, fühlen. Ja, es ist eine sehr lebendige Reise, die mir hier mitten im Lockdown auf dem heimischen Sofa geschenkt wird.
In der Tat ist es Virginia Woolf zusammen mit ihrem Ehemann Leonard Woolf, die uns hier den ganzen Weg entlang des Flusses begleiten: sie haben lange Jahre hier gelebt, in einem Cottage, das leider der späten Industrialisierung, wenn man es so nennen will, zum Opfer fiel und daher nicht mehr besichtigt werden kann. Doch Olivia Laing lässt die beiden wieder und wieder lebendig werden in ihren Gedanken - schon der Quell des Flusses weist eine Vebindung zum Beginn der ungewöhnlichen und absolut unkonventionellen Ehe der Woolfes auf.
Und es sind andere Paare der Literaturgeschichte, die Erwähnung finden: auch Iris Murdoch und John Bayley haben ihre Spuren hier an der so zauberhaften, gleichwohl stellenweise überaus alltäglichen und damit wenig eindrucksvollen Ouse hinterlassen. Olivia Laing schenkt ihren Lesern ganz besondere Erlebnisse bzw. Ergebnisse ihrer Wanderung entlang der Ouse - Geschichten, Gedanken und Empfindungen, auf die man selbst - ich zumindest - im Leben nicht kommen würde.
Die Ouse hat so einiges verschlungen im Laufe der Jahrhunderte - abgesehen von Virginia Woolf, ihrem berühmtesten Opfer, unter anderem Tausende von Soldaten in der Schlacht von Lewes 1264, denen vor allem der morastige Grund des Flusses zum Verhängnis wurde.
Trotz bzw. vielleicht auch gerade wegen solcher Greuelgeschichten - es sind nur wenige - ist es eine wahre Wonne, die Autorin auf ihrem Weg zu begleiten. Ihre klugen, scharfsinnigen, dabei überaus unterhaltsamen Überlegungen sind ein Genuss und rücken die Landschaft und ihre Verwurzelung in Geschichte und Kultur derart bildhaft vor mein inneres Auge, dass ich tatsächlich das Gefühl habe, vor Ort zu sein, die reichhaltige Vegetation eines englischen Mittsommers sehen und riechen zu können. Eine ausgesprochen intensiver literarischer Ausflug, von dem ich noch lange zehren werde!