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Veröffentlicht am 20.12.2017

Wir waren hier

Wir waren hier
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“Wir waren hier” von der deutschen Autorin Nana Rademacher ist ein dystopischer Roman über ein zerstörtes Berlin im Jahre 2039. Eine Geschichte übers Überleben, über die Sehnsucht nach einer besseren Welt ...

“Wir waren hier” von der deutschen Autorin Nana Rademacher ist ein dystopischer Roman über ein zerstörtes Berlin im Jahre 2039. Eine Geschichte übers Überleben, über die Sehnsucht nach einer besseren Welt und die einer Liebe mitten in den Zeiten eines endlosen Krieges. Schwermütig und bewegend. Zum Nachdenken anregend. Für Jugendliche ab 13 Jahren und Erwachsene.

Berlin. 2039. Eine Militärregierung hat die Stadt übernommen. Die 15-jährige Anna und ihre Eltern leben in ständiger Angst und Sorge. Es herrscht Krieg. Vor Jahren hat er begonnen, Anna weiß nicht einmal mehr genau, wer angefangen hat. Es war irgendeine Wirtschaftskrise, es waren Naturkatastrophen, es waren Kriege um Ressourcen. Jetzt ist es von einem Krieg von Staaten zu einem Bürgerkrieg geworden. Nirgendwo kann man sich mehr sicher fühlen. “Vor einer Woche oder so ging es auf einmal wieder los. Wie ein Vulkan unter Druck, der plötzlich ausbricht. Aber nie ändert sich was. Alles wird nur schlimmer. Wir rennen von Ecke zu Ecke. Springen, so schnell es geht, über die Schuttberge. Immer wieder wird geschossen…”(Zitat S.16) Mal gibt es Strom, mal nicht. Mit Nahrungsmitteln werden sie nur notdürftig von den Soldaten versorgt. Hunger zu haben, das ist an der Tagesordnung. Annas Mutter ist nur noch ein Strich in der Landschaft. “Eben hat mein Vater meine Mutter an den Schultern gepackt und gesagt: “Wir werden auch diesen Winter überlebe, verstehst du? Wir werden nicht sterben. Keiner von uns.” Sie hat nur dagestanden und nichts gesagt. Alle fürchten sich vor der Kälte. Die Angst trippelt herum wie eine panische Maus, die weiß, dass überall Katzen lauern.” (Zitat S.19) Anna führt heimlich einen Blog. Das All-Net ist nicht sehr stabil, funktioniert aber noch. Doch die Web-Polizei ist eine ständige Gefahr. Anna nutzt einen abseitigen Server, um der WePo nicht in die Arme zu fallen. Dennoch hofft sie, dass es jemanden gibt, der ihre Worte vielleicht lesen kann. Oder jemanden in 100 Jahren, der vielleicht nicht mehr so leben muss wie sie. Bis sie eines Tages Ben kennenlernt. Der ihren Blog verfolgt. Der ihr Nachrichten schreibt. Zwar unregelmäßig, da auch er nicht immer Strom und Empfang hat und einmal von der Polizei inhaftiert wird, aber dennoch: “mein Instinkt sagt mir jetzt, dass es gut wäre, dich zu sehen. du bist bestimmt wunderschön.” (Zitat S.38) Und Ben und Anna sehen sich. Eine zarte Liebe entsteht zwischen den beiden. Aber dann sterben Annas Eltern und das Mädchen ist auf sich alleine gestellt. Und sie muss feststellen, dass auch Ben einige Geheimnisse vor ihr hat…

“Wir waren hier” ist ein Endzeitroman, der in drei Teilen erzählt wird. Im ersten Teil sind Annas Blogbeiträge mit datierten Überschriften zu lesen. Diese werden immer wieder durch Chatgespräche zwischen Anna und Ben unterbrochen. Im zweiten Teil, der wie alle Teile aus Annas Sicht und der Ich-Perspektive geschildert wird, berichtet sie so aus ihrem Leben, sie hat keine Möglichkeit mehr ihre Erlebnisse zu bloggen. Der dritte Teil beginnt und endet zugleich mit einem letzten Blogbeitrag. Die Sprache ist einfach und klar, sie wirkt sehr deutlich und intensiv. Nana Rademacher schafft es gut Stimmungen zu erzeugen: ”…es liegt eine Spannung in der Luft, als hätte jemand ein Gummiband zu straff gezogen. Es könnte bald reißen, und dann geht’s wieder los mit den Aufständen. Mal schießen die Soldaten auf uns, mal geben sie uns Brot. Nichts ist sicher.” (Zitat S.45) Jedoch ist der Grundton der Geschichte eher bedrückend. Wenn Anna von ihrem jetzigen Leben erzählt oder von den Erinnerungen an früher: “Da fällt mir meine Mutter in. Immer redet sie von früher. […] Früher, als es noch Arbeit gab, früher, als es noch grasgrünen Frühling gab und blätterbunten Herbst, früher als es noch Frieden gab. Früher ist tot. Genauso wie morgen schon heute tot ist.” (Zitat S.19) Niemand weiß, wie es weitergehen wird. Ob eine Flucht aufs Land besser ist als ein Leben in der Stadt. Ob sie nicht im nächsten Aufstand einfach erschossen werden. Da schluckt man als Leser manchmal schon ganz schön: “Mein Vater wird immer stiller. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Heute Morgen hat er mich angesehen und leise gesagt: “Manchmal möchte ich einfach aufgeben.” (Zitat S.81) Und man macht sich unweigerlich Gedanken darüber, was dazu geführt haben könnte, dass es in Annas Welt jetzt so ist, wie es ist. Ob so etwas verhindert werden könnte. Und wie.
Der Roman liest sich nahezu durchgehend interessant. Zuweilen sogar recht dramatisch und aufreibend. Dann wieder sanfter, ruhiger und sogar ein bisschen poetisch: “In dieser Nacht gibt es keinen Krieg. Alles ist zugedeckt von einer weißen, weichen Decke aus Stille und Frieden. Es schneit, wie es noch nie zuvor geschneit hat. Es gibt keine anderen Menschen mehr auf der Erde. Nur uns beide, Ben und mich. Was für ein schöner Gedanke. Gleich werden wir den Rand der Welt erreichen, noch einen Schritt machen und uns ins warme Nichts fallen lassen wie Schneeflocken.” (Zitat S.104) Das Ende lässt den Roman noch einmal in einem ganz anderen Licht da stehen.

Veröffentlicht am 20.12.2017

Wichtige Botschaft

Ghetto Bitch
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Der deutsche Autor Gernot Gricksch hat mit “Ghetto Bitch” ein interessantes Buch geschrieben, das sogleich durch sein peppiges Cover auffällt. Das erste Jugendbuch des Autors, der sonst eher für jüngere ...

Der deutsche Autor Gernot Gricksch hat mit “Ghetto Bitch” ein interessantes Buch geschrieben, das sogleich durch sein peppiges Cover auffällt. Das erste Jugendbuch des Autors, der sonst eher für jüngere Kinder oder Erwachsene schreibt. Eine Geschichte über plötzliche Armut, das Leben in einer Hochhaussiedlung und Klischees von Armen und Reichen, die aufeinandertreffen. Cool, unterhaltsam und sehr flüssig zu lesen. Für Jugendliche ab 13 Jahren und interessierte Erwachsene.

Die 15-jährige Nele führt ein Leben, wie man es sich nur wünschen kann: sie ist reich, beliebt und mit dem coolsten Jungen der Schule zusammen, für den all ihre Mitschülerinnen schwärmen. Ihre Mutter ist zugleich wie eine gute Freundin und sie bewegt sich in den besten Kreisen. Erst neulich war sie auf einem Konzert von Lisa T. alias Ghetto Bitch, der besten Rapperin Deutschlands. Doch dann stirbt Neles Vater bei einem Autounfall und hinterlässt der Familie nichts als Schulden. Er, der bekannte Architekt, der durch ganz Deutschland reiste, war schon seit zwei Jahren mit seiner eigenen Firma im Minus und hatte der Familie nichts davon gesagt! Jetzt muss Henriette, Neles Mutter, Privatinsolvenz anmelden und nicht einmal die Gernot Gricksch Ghetto bitchLebensversicherung will zahlen. Angeblich war der Autounfall kein Unfall, sondern Selbstmord und der Vater habe es nur so aussehen lassen, damit seine Familie gut versorgt ist. Die Villa wird nun gepfändet werden und sie müssen sich eine neue Bleibe suchen. Und nicht nur das: “Was heißt das? ALG II?!” “Arbeitslosengeld 2”, flüsterte Henriette. “Besser bekannt als Hartz IV.” “Was?!” Jetzt überschlug sich Neles Stimme. “Das ist doch Bullshit! Leute wie wir kriegen doch kein Hartz IV!” […] Nele sprang auf und rannte aus der Küche. Das konnte doch nicht wahr sein!” (Zitat S.45ff) Aber es ist wahr. Genauso wahr, wie die Plattenhaussiedlung im Hamburger Stadtteil Steilshoop, in die sie nun ziehen müssen. Um vor ihren Freunden nicht das Gesicht zu verlieren, tischen Nele und ihre Mutter allen eine erfundene Geschichte auf: sie ziehen nach New York für ein Jahr. Deshalb müssen sie auch ihr Haus “verkaufen”. Nele bricht alle Beziehungen zu ihren bisherigen Freunden ab, auch mit ihrem Freund Daniel macht sie indirekt Schluss, obwohl es ihr das Herz bricht. Denn vielleicht zahlt die Lebensversicherung ja doch noch und sie können wieder zurück? Doch bis dahin ist erst mal Alltag im neuen Wohnungsumfeld angesagt. Und Nele schafft es in jedes soziale Fettnäpfchen zu treten. Ihr Bruder Timo hingegen, ein Nerd, der gerne Metal hört und in der alten Schule ein kompletter Außenseiter war, findet überraschend schnell Anschluss. Aber dann lernt Nele den attraktiven Rick kennen…

Der Name “Ghetto Bitch” passt in dem Roman wie die Faust aufs Auge. Eingeleitet durch die berühmte Rapperin, Lisa T., ist es Timo, der seine Schwester das erste Mal so nennt: “Was glaubst du, wie lange du deine Luxusfreunde behältst, wenn du kein Geld mehr hast, um mit zu Starbucks zu gehen, und du beim Shoppen nur noch die Tüten der anderen tragen darfst? Wenn du nicht in den gleichen Vereinen bist und nicht mehr auf die Partys eingeladen wirst, weil du selbst nie welche gibst? […] Du bist jetzt ‘ne Ghetto Bitch, Nele”, verkündete Timo und imitierte mit einem grimmigen Grinsen die Hiphop-Gesten von Lisa T.” (Zitat S.54ff) Der Roman wird aus zwei Perspektiven in abwechselnder Form erzählt: Nele und Timo kommen hierbei in der personalen Erzählsicht zu Wort. Die Einblicke der Geschwister sind höchst unterschiedlich und liefern einen interessanten Einblick in ihr sich veränderndes Leben. Trotz Tragik schafft es Gernot Gricksch immer wieder komische Momente in die Geschichte einzubauen, die dem Leser ein Schmunzeln ins Gesicht locken. Vor allem gelingt es ihm mit Vorurteilen über Arme und Reiche aufzuräumen: “Ist eben alles anders hier. Nicht schlechter. Nur anders.” “Nicht schlechter? Machst du Witze?”, rief Nele. “Das ist alles total RTL2 hier! Alles nur Assis!” “Stimmt doch gar nicht”, protestierte Timo. “Zwei Mädchen aus meiner Klasse haben bei Jugend forscht mitgemacht. Ein Mädchen ist im Jugendchor von der Staatsoper. […] Man kann mit ganz vielen Leuten hier total normal reden. Die Assis sind nur lauter und auffälliger als die anderen.” (Zitat S.138) Die Sprache ist frech, einfach und zum Teil jugendsprachlich, aber absolut passend zum Kontext. Auch Wenigleser — Jungs und Mädchen gleichermaßen — dürften sich von diesem Buch schnell mitgerissen fühlen! Zum Ende hin wird es richtig dramatisch und spannend. Etwas gewundert hat mich nur, dass die Trauer um den toten Vater während der Geschichte nicht mehr erwähnt wird.

Übrigens: für den Roman hat der Dressler Verlag zusammen mit der Zeitschrift BRAVO ein Casting ausgeschrieben, bei dem ein Mädchen gesucht wurde, das die Hauptfigur in der verkürzten Version von “Ghetto Bitch” in einer BRAVO Foto-Love-Story spielen durfte. Der Titel lautete hier: “Von der Skyline zum Bordstein”. In dem Trailer (siehe unten) hat das Mädchen, das gewonnen hat, ebenfalls mitgespielt. Es gibt auch eine eigene Website zu “Ghetto Bitch” mit einer Leseprobe und einer Umfrage.

Fazit: Auf lockere Art und Weise und mit viel Authentizität entführt Gernot Gricksch seine Leser in eine Welt, die gar nicht ganz so anders ist, wie man denkt

Veröffentlicht am 20.12.2017

Geniales Buch - eins meiner Jahreshighlights!

Wunder
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Die amerikanische Autorin Raquel J. Palacio hat “Wunder” geschrieben und damit ihren Lesern ebenfalls ein enormes Lese-“wunder” beschert: Ein anrührendes, außergewöhnliches Buch über innere Schönheit und ...

Die amerikanische Autorin Raquel J. Palacio hat “Wunder” geschrieben und damit ihren Lesern ebenfalls ein enormes Lese-“wunder” beschert: Ein anrührendes, außergewöhnliches Buch über innere Schönheit und Freundschaft. Ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit, Toleranz und Herzenswärme. Lesetipp für Erwachsene, Jugendliche und Kinder ab 10 Jahren. Herausragend!!

August ist anders als andere Kinder. Durch einen äußerst, äußerst seltenen Genfehler hat er seit Geburt ein Gesicht, das sehr deformiert ist. Seine Augen sitzen etwas tiefer, ungefähr auf Wangenhöhe, seine Ohren haben die Form kleiner Blumenkohlröschen und ein Kinn hat er erst durch eine Operation erhalten. Bisher ist August nur zu Hause von seiner Mutter unterrichtet worden, doch nun — im Alter von 10 Jahren — darf er das erste Mal in die Schule gehen. Bei einer privaten Führung während der Ferien, zu der sich neben dem Direktor auch ein paar andere Schüler bereit erklärt haben, bekommt August die Schule gezeigt. Natürlich beginnt der erste Schultag mit Getuschel und vielen Blicken in seine Richtung, doch August findet zwei Freunde: Summer und Jack, die ihn so mögen und akzeptieren wie er ist. Doch dann belauscht August eines Tages ein Gespräch zwischen Jack und seinen Klassenkameraden, die ihn immer ärgern, und er erfährt etwas, das so für seine Ohren eigentlich nicht bestimmt war…

Ein bemerkenswertes Buch! Es gewinnt auch besonders dadurch an Tiefe, dass die Perspektive der Geschichte nach einer Weile wechselt. So kommen neben August, auch seine Schwester Vio und andere Figuren zu Wort. Toll ist hierbei auch, dass es sich zunächst scheinbar um Randfiguren handelt, die im Laufe des Buches dann eine größere Rolle spielen. Deren Sicht zu erleben, eröffnet dem Leser viel mehr Möglichkeiten sich intensiv in die Geschichte einzufühlen. August selbst ist so ein liebenswerter Junge, mit so einem großen Herz und will eigentlich nur eines: gemocht werden, so wie er ist. Wie ihm das gelingt und sich am Ende des Romans sogar all seine Mitschüler für ihn einsetzen — das muss man einfach gelesen haben! Dieses Buch ist ein Highlight unter den Frühjahrsnovitäten und hinterlässt einfach ein gutes Gefühl im Bauch und das Vertrauen auf eine gerechte, schönere Welt. Grandios!! Ich wünsche diesem Titel ganz, ganz viele Leser!

Übrigens: 2014 hat “Wunder” den Deutschen Jugendliteraturpreis erhalten, gewählt von den Jugendlichen selbst!!

Veröffentlicht am 20.12.2017

Zum Abtauchen, Mitfiebern und Mitfühlen

Die längste Nacht
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“Die längste Nacht” von der deutschen Autorin Isabel Abedi ist eines der Buchereignisse des Frühjahrs 2016! Neun Jahre ist es her, dass die Autorin ein Jugendbuch veröffentlich hat. Nun gibt es ENDLICH ...

“Die längste Nacht” von der deutschen Autorin Isabel Abedi ist eines der Buchereignisse des Frühjahrs 2016! Neun Jahre ist es her, dass die Autorin ein Jugendbuch veröffentlich hat. Nun gibt es ENDLICH wieder neues Lesefutter. Darauf haben viele gewartet: Eine Geschichte über ein geheimnisvolles Manuskript, über eine Reise in die Vergangenheit und die einer großen Liebe. Fesselnd. Atmosphärisch. Brillant. Von einer Meisterin des Erzählens. Für Jugendliche ab 14 Jahren und Erwachsene.

Die 17-jährige Viktoria, genannt Vita, entflieht ihrem Elternhaus für ganze neun Monate. Ihrem Vater, seines Zeichens Verleger und einem intellektuellen Mann und ihrer Mutter, die in ihrer ganz eigenen strukturierten, gefühlserkalteten Welt lebt, in die sie sich seit dem Tod von Vitas älteren Schwester zurückgezogen hat. Nicht einmal richtig verabschiedet hat sie sich von ihrer Tochter: “Anstatt mich anzusehen, starrte meine Mutter auf die Asche meiner toten Schwester, und dieser Anblick war so grauenhaft, dass ich schreien wollte. Aber es kam kein Laut aus meiner Kehle, wie immer, wenn es um meine Schwester ging. Stumm machte ich einen Schritt auf meine Mutter zu, es war nur eine winzige Bewegung, die mich eine ungeheure Kraft kostete. Doch meine Mutter erhob die Hand, fast panisch, als sei ihr ein wildes Tier auf den Fersen, und noch immer, ohne sich zu mir umzudrehen.” (Zitat aus “Die längste Nacht” S.37) Doch nun ist Vita auf Europa-Reise. Mit ihren besten Freunden, die zugleich ein Paar sind: Trixie und Danilo. Gerade haben sie das Abitur bestanden und jetzt fahren sie mit ihrem VW-Bus Richtung Italien. Jetzt kann Vita erst einmal vergessen. Wie seltsam ihr Vater in der letzten Zeit war, als sie ihn eines Nachts beim Lesen eines Manuskripts in seinem Arbeitszimmer überraschte und er sie aus diesem ohne weitere Erklärungen hinausschmiss. Was hat ihn an diesem Papieren so aufgewühlt? Zufällig hat Vita vor ihrer Abreise herausgefunden, dass das noch unvollendete Manuskript von dem Bestsellerautor Sol Shepard stammt. Der normalerweise ganz andere Geschichten erzählt. “Der Roman soll weltweit erscheinen und wurde jetzt auch uns angeboten. Die Namen sind alle geändert, aber dass es die Geschichte aus Viagello ist, scheint mir unmissverständlich. Wie sehr ich mir wünsche, dass ich mich irre.” (Zitat S.18) Dieses Schreiben von einem befreundeten Lektor lag dem Manuskript bei, das Vita in seinem Arbeitszimmer entdeckte. Es gelang ihr sogar ein paar Zeilen des Werks zu lesen, die sie seltsam berührten. Umso überraschter ist sie nun auf ihrer Tour durch Europa in der Nähe eines Klosters, das Danilo unbedingt besuchen möchte, auf der Landkarte das Städtchen Viagello zu entdecken. Vita, die ihren Freunden von dem Roman von Sol Shepard erzählt hat, beschließt einen kurzen Abstecher dorthin zu machen. Dort Isabel Abedi Die längste Nachtlernt sie zufällig Luca kennen, der über den Häuser auf einem Seil balanciert. Er lädt sie ein, ihren VW-Bus auf seinem Grundstück abzustellen, auf dem er in einem Bauwagen nahe des Grundstücks seiner Eltern lebt. Eine seltsame Anziehungskraft geht von ihm aus. Doch ein Abendessen bei Lucas Eltern ändert alles, als Vita erzählt, wer ihr Vater ist. “Nein”, hörte ich Antonio [Lucas Vater] sagen mit einer Stimme, die so schneidend kalt war, dass meine Eingeweide gefroren. […] “Sag, dass das nicht wahr ist!”, schrie er mir ins Gesicht. “Du würdest das nicht tun. Nicht auf diese Weise. Nicht nach all den Jahren. Sag, dass du es nicht bist!” (Zitat S.121). Völlig verstört kann Vita nur das Weite suchen. War sie früher tatsächlich einmal in Viagello, wie Lucas älterer Bruder behauptet? Warum haben ihre Eltern ihr nie davon erzählt? Und was verdammt noch mal ist damals geschehen, das man ihr nun mit solch einer Feindseligkeit begegnet?

Isabel Abedi ist einfach — und das möchte ich meiner Rezension nun nochmals vorne heranstellen — eine begnadete Erzählerin. Sie spinnt ihre Geschichte mit einer geradezu magischen Fabulierkunst und zieht ihre Leser schnell in einen Sog. Vor allem Italien und das kleine, fiktive Städtchen Viagello bringt sie einem in atmosphärischen Beschreibungen so nahe, dass man tatsächlich ein wenig Reisesehnsucht entwickelt. Der Roman wird fast durchgehend aus Vitas Perspektive geschildert. Vita, die die Geschichte mit vielen Andeutungen vor allem für ihre Schwester erzählt: “Ich bin keine Schriftstellerin […] ich will nur meine Geschichte erzählen — aus meiner Perspektive, meinem Blickwinkel. Ich will die Wahrheit erzählen, sie loswerden und gleichzeitig festhalten, auch für meinen Schwester. Ja, vielleicht schreibe ich all das vor allem für Livia…” (Zitat S.9ff) Man kann sich in Vita — in ihre Gedanken- und Gefühlswelt — sehr gut hineinversetzen. Sie ist ein sehr sympathischer Charakter. Ein paar merkwürdige Begebenheiten lassen den Leser bereits zu Anfang munter mit rätseln. Warum hat Vita Angst vor allem, was fällt? “Ich selbst hatte kein Problem damit, auf Leitern oder Gerüste zu klettern, aber einen anderen Menschen vom Zehnmeterbrett springen zu sehen, konnte einen Asthmaanfall bei mir auslösen, und wenn ein reifer Apfel vom Baum plumpste, schnürte sich meine Kehle zu.” (Zitat S.9). Und warum träumt sie immer wieder von einem Mädchen ohne Mund, das in einem Brunnenschacht feststeckt? Viele kleine Details — auch die zwischen eingeschobenen Bemerkungen des Autoren des Manuskripts — lassen die Geschichte sehr geheimnisvoll erscheinen und drängen danach endlich zu erfahren, was in jener längsten Nacht damals geschehen ist. Diese Frage hält die Spannung in dem Buch aufrecht und lässt einen geradezu über die Seiten des immerhin 408-Seiten-dicken Schmökers fliegen. Dazu die sich langsam anbahnende Liebesgeschichte zwischen Vita und Luca — ein wahres Lesevergnügen! Sehr gut gefallen hat mir auch das filigran gestalte Cover, selbst der Bucheinband unter dem Schutzumschlag (mit dem ausgestanzten Gesicht) ist ein Hingucker. Auch wenn das Cover in seiner Gestaltung von den anderen vorhergehenden Romanen etwas abweicht, muss ich trotzdem sagen — lieber Arena-Verlag, da habt ihr euch echt etwas Schönes einfallen lassen Das Ende des Buches: ein dramatischer Paukenschlag!

Fazit: Eine Roman zum Abtauchen, Mitfiebern, Mitfühlen — ganz große Klasse! Am besten eine “lange Nacht” dafür reservieren.

Veröffentlicht am 20.12.2017

Jahreshighlight!

Was fehlt, wenn ich verschwunden bin
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Ein zutiefst ergreifendes Buch und zugleich ihr erstes Jugendbuch hat die deutsche Autorin Lilly Lindner geschrieben: “Was fehlt, wenn ich verschwunden bin”. Über die Beziehung zweier Schwestern, die einander ...

Ein zutiefst ergreifendes Buch und zugleich ihr erstes Jugendbuch hat die deutsche Autorin Lilly Lindner geschrieben: “Was fehlt, wenn ich verschwunden bin”. Über die Beziehung zweier Schwestern, die einander alles bedeuten, über die Geschichte einer Magersucht, über Wortgewandheit und Klugheit und über die Sehnsucht verstanden zu werden. Traurig und humorvoll zugleich. Mit Tiefgang und einer Sprache, die so außergewöhnlich schön ist, dass man sich am liebsten die Sätze seitenweise bunt anmalen möchte. Ein Leseerlebnis, das sich denfinitv lohnt! Nicht nur für Jugendliche ab 13 Jahren, sondern auch für Erwachsene.

Berlin. Phobe ist neun Jahre alt. In ihrer Familie ist nichts mehr so wie es war. Denn ihre große Schwester April ist nicht mehr da. Die 16-jährige ist in einer Klinik wegen Magersucht, wobei Phobe noch nicht so ganz verstehen kann, was genau das ist. Aber eines weiß sie: sie vermisst ihre Schwester ganz schrecklich! “Meine liebe, liebe April — wenn du nur bald gesund wirst und endlich wieder bei uns bist. Ohne dich sind wir nämlich nicht ganz. […] Eine halbe Mama. Ein halber Papa. Und nur noch ein kleines Stück ich. Ohne dich bin ich nämlich nicht einmal halb.” (Zitat aus “Was fehlt, wenn ich verschwunden bin”, S. 38). Und deshalb schreibt Phoebe ihrer Schwester mit größtem EiferBriefe. Monatelang. Ohne jemals eine Antwort zu bekommen. Sie erzählt von ihrem Schulalltag, von ihren Eltern, die so traurig und voller Sorgen sind. Auch dass sie manchmal von zu Hause weggeht. Um einfach mit dem Bus durch die Stadt zu fahren oder an Orte zu gehen, die sie an April erinnern. Mit ihrer Wortklugheit begegnet sie ihren überforderten Eltern: “Also habe ich Papa versprochen, dass ich nicht mehr weglaufe. Dabei war ich gar nicht verschwunden. Ich wusste schließlich die ganze Zeit über, wo ich war. Und wenn man weiß, wo man ist, dann ist man da und nicht weg.” (S. 71) Manchmal sucht sie Aprils Nähe auch in deren Zimmer. Sie legt sich in deren Bett und macht dabei auch nichts unordentlich. Sogar ihr aktuelles Lieblingsbonbon schickt sie ihrer Schwester per Post mit. Auch wenn sie es jetzt vielleicht nicht essen kann, es wäre ja lange haltbar. Doch dann vergeht der Sommer und es kommt der Winter…

Lilly Lindner ist ein sprachliches Phänomen! Sie schreibt mit einer Wortgewalt, über die man nur staunen kann. Wobei sie in ihrem jetzigen Buch ein wenig sanfter wirkt und sie geradezu behutsam mit ihren Figuren umzugehen weiß. Mit Phoebe hat sie einen ganz besonderen Charakter geschaffen. Ein Mädchen, das mit so klarer Logik zu reden weiß und von solch kindlicher Klugheit erfüllt ist: “Wir haben uns Sorgen gemacht!”, hat Mama geschimpft. “Ihr seid erwachsen”, hast du gesagt. “Das gehört dazu.” “Was?”, hat Papa gefragt. “Na, hast du schon einmal einen Erwachsenen ohne Sorgen getroffen?”, hast du zurückgefragt, “Ich glaube nicht, dass es so etwas gibt”. (S.258)
Phoebe plappert am liebsten ohne Unterlass. Und wenn ihr Vater sie einmal bittet, doch wenigstens mal fünf Minuten still zu sein, so kann sie ihm sogar ihre Gefühl, durch seine Worten verletzt worden zu sein, ganz deutlich sagen: “Da habe ich zu Papa gesagt, dass er seine Worte etwas sorgfältiger wählen muss, weil ich eine Tochter bin und kein Sohn, obwohl wir mittlerweile manchmal in den Park gehen zum Fußballspielen, und dass Töchter nun mal sensibler sind als Söhne.” (S. 26) Und ihr Vater entschuldigt sich sogar anschließend bei ihr. Doch so sehr Phoebe mit Worten auch umzugehen weiß, in ihrer Umgebung hat sie es damit nicht immer leicht. In der Schule muss sie ihre Sätze ständig erklären und auch ihre Eltern flüchten oft vor ihrer gewieften Logik. Doch Phoebe weiß auch um die Wichtigkeit des Schweigens: “Denn egal, wie viele Worte es gibt, und egal, wie anmutig man sie benutzen kann, es gibt Momente, da muss man sein Glück für sich behalten, damit die Worte den Klang der wundersamen Stille nicht zerstören. Glück braucht keine Worte. Glück hört man auch so.” (S.162/163)
Sehr viel geschwiegen hat auch Phoebes Schwester. Zum Schluss hat sie einfach aufgehört mit ihren Eltern zu sprechen. Warum, das erfährt man im zweiten Teil von “Was fehlt, wenn ich verschwunden bin”. Dieser wird ebenfalls in aneinandergereiten Briefen aus Aprils Sicht erzählt: “Ich war neun Jahre alt, so alt wie du jetzt bist, als ich meine Stimme aufgegeben habe. Mama hat damals zu mir gesagt: “Verdammt, April! Kannst du nicht einmal fünf Minuten lang wie ein ganz normales Kind sein?” Und Papa hat hinzugefügt: “Du bist ein Wortungeheuer.” (S. 216) Dieser Zeitraum makierte auch den Beginn von Aprils Krankheit. Ihrem Wunsch sich aufzulösen. Ihre Eltern konnten mit ihr nie etwas anfangen. Sie haben sie nie wirklich gesehen. Das liest sich sehr, sehr traurig. Deshalb ist es nun April, die ihrer Schwester Mut macht, ihre Worte nie zu verlieren. Um gehört zu werden. Und nicht unterzugehen in dieser Welt. So wie sie.
Phoebe nun noch einmal aus der Perspektive von April zu erleben, macht einen ganz besonderen Reiz der Geschichte aus und gibt dem Leser noch mehr Möglichkeit dieses bezaubernde Mädchen kennenzulernen. Ein Mädchen, das ihren selbst gebauten Schneemann mit einem Schlitten durch die Gegend zieht und ihn später dann in der Tiefkühltruhe vor dem Auftauen retten will. Ein Mädchen, das sich in einer Decke einwickelt und sich wieder daraus entfaltet, um “sich zu entfalten” (worüber ihr Vater nur den Kopf schüttelt).
Dem Leser wird nun aber auch erklärt, warum April ihrer Schwester nicht geantwortet hat. Warum sie ihre Briefe niemals abgeschickt hat. Und was danach geschah, als der Winter kam… Auch die Beziehung der Schwestern wird mehr als deutlich dargestellt: “Ich liebe dich, Phoebe. Du bist nicht einfach nur meine kleine Schwester. Du bist mein Leben.” (S. 260)

Fazit: Poetisch, kraftvoll, amüsant und gefühlvoll! Dieses Buch wird jetzt schon definitiv eines meiner Jahreshighlights bleiben!