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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 14.10.2016

Spannend, manchmal fehlt die Tiefe

Glimmernächte
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Pippa zieht mit auch ein Schloss nach Dänemark, als ihre Mutter einen echten Grafen heiraten will. Während ihr kleiner Bruder davon träumt, ein kleiner Prinz zu sein, ist Pippa wenig begeistert davon, ...

Pippa zieht mit auch ein Schloss nach Dänemark, als ihre Mutter einen echten Grafen heiraten will. Während ihr kleiner Bruder davon träumt, ein kleiner Prinz zu sein, ist Pippa wenig begeistert davon, Berlin hinter sich zu lassen. Ihre neue Stiefschwester ist freundlich, ihr Stiefbruder lässt Pippas Herz höher schlagen. Doch seltsame Dinge geschehen und bald traut Pippa ihren eigenen Augen nicht mehr. Ungeahnte Kräfte sind am Werk und bald muss Pippa alles einsetzten, weil sie droht, alles zu verlieren.
So märchenhaft und fantastisch die Zusammenfassung scheint, so spannend ist der Roman tatsächlich. Nicht gegen magische Kräfte geht es hier, sondern um Verschwörer und sehr reale Bedrohungen. Thrill statt Fantasy also. Und gut gemacht. Der Leser folgt Pippa uns weiß darum auch nicht mehr als sie. Ein gemeinsames Aufdecken, Rätseln, Suchen, das zwischen diesen Zeilen liegt.
Der Roman spielt dabei sehr stark mit Schein und Sein. Vieles, was Pippa sieht, ist nur Täuschung. Das Tatsächliche dagegen liegt verborgen und niemand glaubt Pippa, als sie es erkennt. Auch der Stiefbruder Nils ist so eine Figur, von der Pippa lange nicht weiß, was sie halten soll. Darf sie ihrem Herz trauen, oder muss sie glauben, was über ihn erzählt wird? Dass er gefährlich ist und krank. Pippa findet ihren ganz eigenen Weg.
Ihren eigenen Weg findet sie auch bei dem Thema der Geschlechterrollen. Pippa soll sich in hübsche Kleider werden und liebt einfache Hosen. Das Oberflächliche ist es, was sie nicht leiden kann und genau darauf trifft sie in Glimmernächte. Nicht zuletzt verweist der Titel auf die im Roman erwähnten Scheingoldstücke, den Glimmer, der eben wertvoller scheint, als er ist. Das Wirkliche also liegt auch hier tief und ist nicht so leicht erkennbar.
Gelungen finde ich, dass Pippa keinesfalls liebesblind wird oder sich in ihrer neuen Existenz verliert. Sie behält ihren Blick und spürt dabei deutlich die Verführung des Geldes. Eine Verführung, die Pippas Bruder und auch ihre Mutter erlegen. Trotzdem wird Pippa keinesfalls als überlegen dargestellt. Sie ist nur in der Position, alt genug, aber kritisch genug zu sein, um mehr zu hinterfragen. Und auch Pippa muss mit den Eindrücken kämpfen, die auf sie warten.
Der Stil ist locker und leicht. Das Buch ist gut und schnell zu lesen. Gerade da hätte ich mir etwas mehr Tiefe gewünscht. Pippa trägt ein Trauma mit sich, dass zwar genau gezeigt wird, aber trotz seiner Stärke kaum Auswirkungen hat. Auch an anderer Stelle hätte ich mir gerne mehr Tiefe gewünscht. Die „Liebe“ zu Nils wirkt an den Haaren herbei gezogen – die beiden kennen sich ja im Grunde gar nicht. Und auch diese Verteilung von Unschuld am Ende wirkt auf mich unausgegoren. Trotz mehrfacher Todesgefahr wird die Schuld am Ende so verteilt, dass sie irgendwie niemandem wirklich zu fällt. Alle sind Opfer der Umstände.
Spannend und in vielerlei Hinsicht gut aufgebaut ist Glimmernächte allemal. Die Anzeichen der Verschwörung beispielsweise, die anfangs so unwirklich wirken. Aber auch die Elemente, die mal den einen, mal den anderen in den Fokus von Pippas Misstrauen ziehen. Viele Verdächtige eben. Und Nils, der auch nicht über jeden Verdacht erhaben ist. Eine kurzweilige und spannende Unterhaltung, der es einfach hin und wieder an Tiefe fehlt.

Veröffentlicht am 11.10.2016

Sehr gut, aber nicht immer leicht

Hier bin ich
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Jacob und Julia sind verheiratet, haben drei Kinder, einen Hund, ein Haus und stehen vor dem Ende. Jacobs Großvater Isaac hat den Holocaust überlebt, seine Frau überlebt, die Geburt seine Urenkel überlebt ...

Jacob und Julia sind verheiratet, haben drei Kinder, einen Hund, ein Haus und stehen vor dem Ende. Jacobs Großvater Isaac hat den Holocaust überlebt, seine Frau überlebt, die Geburt seine Urenkel überlebt und steht vor dem Ende. Jacobs und Julias Sohn Sam soll ein Mann werden und wird wie ein Kind behandelt. Und gerade als Jacobs israelischer Cousin zu Besuch ist, bebt in Israel die Erde und nichts ist mehr, wie es vorher war. Aber wie wird es danach sein?
Ich habe für Here I Am nicht lange gebraucht, weil es ein schlechtes Buch wäre – im Gegenteil. Es ist ein sehr gutes Buch. Die unterschiedlichen Stränge sind dicht miteinander verwoben. Sie ziehen voneinander weg, um aufeinander zuzugehen. Here I Am ist nicht etwa das Buch einer gescheiterten Ehe, das Buch eines Heranwachsens, das Buch einer Katastrophe. Es ist alles auf einmal und noch mehr.
Here I Am ist ein Buch über Apokalypsen und dem, was nach ihnen folgt. Dabei meine ich kein globales Weltende, sondern teilweise sehr persönliche Apokalypsen. Julias Welt ist leer und sie spürt die Risse. Jacob verzweifelt vor lauter Wollen und Nichtstun. Und Sam steht vor der Bar Mitzwa und will diesen Schritt nicht gehen. Er will die umfassende Veränderung der Zustände nicht zulassen. Er widerspricht ihnen. Aber kann er seinem Erwachsenwerden einfach so widersprechen wie Peter Pan? An der Stelle, an der er es tut zeigt er sich im höchsten Maße erwachsen. Ein Buch voller Paradoxe also.
Alles wird aufgefangen im Erdbeben, das Israel verwüstet. Es reißt die Kluft zwischen israelischen Juden und amerikanischen Juden auf, wie es die Erde aufreißt. Und es verschärft den Konflikt mit den arabischen Ländern. Aus der Naturkatastrophe entwickelt sich ein Krieg der Menschen, bei dem Landesgrenzen mit Religionen verwechselt werden – wie es in Wirklichkeit oft der Fall ist. Und als Israel seine Söhne zum Kampf auffordert, will auch Jacob hin. Und kann es doch nicht.
Markant fand ich die Passage, in dem Jacob zum Ich-Erzähler wird, weil seine Angaben zum Schauspielen wiedergegeben werden. Wie Glück gespielt werden soll, erklärt er da, wie Liebe, wie das Dasein. Dabei zählt er Episoden auf, hält Momente fest. Sehr persönlich ist dieser Teil und er wirkt als Abgrenzung. Vorher sieht der Leser das Ende. Die unterschiedlichen Entscheidungen und Handlungen, die zu den jeweiligen Apokalypsen geführt haben und auch das Erdbeben. Danach ist eine kuriose Jetztzeit, in der sich alle außer Jacob einfinden können. Er, mit dem alles gestartet hat, ist der, der nicht loslassen kann.
Das stärkste Symbol hat für mich im Buch Argus, der Hund. Jacob holt ihn für die Kinder, obwohl Julia dagegen ist. Er wird alt und krank. Max, der mittlere Sohn, bittet seinen Vater, ihn einzuschläfern. Und Jacob kann die Anzeichen für Argus Leid nicht anerkennen. Er weigert sich. Argus wird zum Symbol des Aufopferns und des Endes. Julia opfert sich für ihre Familie auf – sie zerfällt. Isaac (in im biblischen Kontext hier sehr gut gewählter Name!) soll in ein Altenheim kommen, sein Leben (Inhalt) soll seinem Leben (Existenz) geopfert werden. Auch das funktioniert nicht. Sam soll ein jüdisches Fest erfahren, obwohl im (und der ganzen Familie) der Glaube irgendwie fremd ist. Er soll den Konventionen und der Tradition geopfert werden. Und er weigert sich. Und alles zeigt sich in dem armen Tier, das am Ende ist, aber nicht sterben darf, weil Jacob sich nicht eingestehen kann, dass es Zeit ist.
Der Roman ist ein sehr nachdenklicher und sehr guter Roman. Nicht immer ist er leicht zu lesen und noch weniger leicht zu verdauen. Doch er hat eine immense Tiefe und so viele Punkte, die ich liebend gerne analysieren würde. Es ist ein dichtes Buch, das viel Reflektion zeigt und komplex aufgebaut ist. Aber es ist es wert! Versprochen.

Veröffentlicht am 04.10.2016

Beeindruckende Entwicklungen

Das Jahr, in dem sich Kurt Cobain das Leben nahm
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Maggie zieht 1993 mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester von Chicago nach Irland. Kein Traum für eine Jugendliche. Am meisten vermisst sie ihren Onkel Kevin, der ihr Bücher und Musik empfiehlt. Ihre ...

Maggie zieht 1993 mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester von Chicago nach Irland. Kein Traum für eine Jugendliche. Am meisten vermisst sie ihren Onkel Kevin, der ihr Bücher und Musik empfiehlt. Ihre Mutter Laura aber ist auf Kevin nicht gut zu sprechen, den Kevin ist ein Verlierer wie er im Buche steht. Er wohnt mit Mitte zwanzig noch bei seiner Mutter, ist drogenabhängig und nicht gerade der ideale Umgang für ihre Tochter. Da trifft Maggie in Irland auf Eoin, der sie das Heimweh vergessen lässt. Doch dann ändert sich alles und Kevins letzte Botschaft an seine Nichte wird wegweißend für Maggies Leben.
Ein unbeschriebenes Blatt
Maggie ist keine typische Jugendliche. Sie vermisst ihren Onkel mehr als jede Freundin und hat es auch nicht eilig, neue Freundschaften zu schließen. Sie ist aber auch kein Mauerblümchen. Pickelabdecken, Ausgehen, die Welt erleben – das sind keine Fremdworte für sie. Dadurch entspricht Maggie nicht dem Klischee einer jugendlichen Protagonistin. Viel mehr ist sie ein unbeschriebenes Blatt. Ihre Stimmung schwankt wild, ihre Hormone spielen verrückt, sie zeichnet sich durch wenig aus. Zumindest am Anfang.
Doch so wie Maggie Irland lieben lernt, lernen wir sie kennen. Ein Mädchen, das gerne einen fast Hundertjährigen besucht, um seinen Geschichten zu lauschen, aber auch um einfach bei ihm zu sein. Eine junge Frau, die mit ihrer Mutter auf eine ganz andere Art unzufrieden ist, als dass es alltäglich wäre. Eine Heldin, die bereit ist, für einen Augenblick Musikmagie gegen alle Regeln zu verstoßen. Maggie lernt Eoin kennen und spürt eine Sehnsucht nach Spiritualität, nach einem unerschütterlichen Glauben.
Neue Religionen
Diesen Glauben findet sie aber nicht in der Religion, die ihr trotz Nonnenschule fremd bleibt, sondern in Musik und Wort. Sie begibt sich auf eine sehr spezielle Wallfahrt und erfährt die Welt auf eine ganz neue Art und Weise. Dieser Weg ist nicht leicht, sondern droht immer wieder vergebens zu sein. Ein jugendlicher Ehrgeiz, aber auch die Kraft, die sie spürt, weil eigentlich mehr als nur eine wichtige Person an ihrer Seite steht. Das Jahr, in dem sich Kurt Cobain das Leben nahm ist eine so anschauliche und realistische Adoleszenzgeschichte, dass ich sie ohne zu zögern jedem Jugendlichen in die Hand legen würde.
Maggies Entscheidungen basieren nicht auf Rebellion oder Leichtsinn. Sie ist ein sehr vernünftiger Mensch, der sich en Veränderungen des Ichs durchaus bewusst ist – und nicht immer glücklich damit. Maggie erfährt sich im Laufe des Buches immer wieder neu und erfährt auch, wie sie nicht sein will. Sie geht ihren Weg und macht dabei Fehler, um geläutert zu werden und am Ende die größte Entscheidung von allen zu treffen: Wer will sie sein und wie will sie leben.
Musik und Sprache
Die Musik ist elementar im Buch. Immer wieder gibt es Verweise auf Lieder, Texte und Melodien. Vor allem geht es aber auch um die Gemeinschaft der Konzertbesucher, der Trauernden. Jene ungeschriebene Gemeinsamkeit, die Sprachen überwindet, Länder, Zeiten. Aber auch Literatur bietet die wichtigen Querverweise in Das Jahr, in dem Kurt Cobain sich das Leben nahm. Kevin hat eine Leseliste für seine Nichte erstellt, aus der ich zu gerne eine ‚Lesechallenge‘ machen würde. Das geschriebene Wort, der gelesene Text übersteht und umfasst diese Buch genauso, wie die gespielte und gehörte Musik. Die Lieder zum Buch gibt es übrigens im Internet zum Nachhören.
Viel mehr als eine Liebeserklärung an Nirvana und die fast schon religiöse Verzerrung Cobains ist dieses Buch ein Buch über das Leben und die Ichwerden. Maggie findet sich auf ihrer Suche nach ihrem Onkel. Und sie erkennt wann die Zeit für Vernunft gekommen ist, wenn der Leichtsinn sich gelegt hat, auch wenn dieser Schritt Unglück mit sich ziehen kann. Im Grunde also ist Maggie viel klüger als die meisten Menschen, die ich kenne. Dass ihr das nicht bewusst ist und sie sich einfach verzweifelt IHREN Platz im Leben sucht, macht sie so liebenswert und realistisch. Ein Buch über das Leben, die Jugend, die Liebe. Vor allem aber ein Buch über das Menschsein.

Veröffentlicht am 01.10.2016

Guter Roman

Rubinmond
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Faye verfolgen immer wieder Träume, in denen ein bestimmter Mann – James – immer wieder vorkommt. Die Umstände, der Hintergrund und die Kulisse ändern sich aber. Faye weiß, sie liebt in den Träumen James ...

Faye verfolgen immer wieder Träume, in denen ein bestimmter Mann – James – immer wieder vorkommt. Die Umstände, der Hintergrund und die Kulisse ändern sich aber. Faye weiß, sie liebt in den Träumen James und immer wieder geschehen schreckliche Dinge, die die beiden trennen. Als sie James auch in Wirklichkeit gegenüber steht, weiß sie bald nicht mehr, was wirklich ist und was nicht. Gleichzeitig wird sie zur Zielscheiber mysteriöser Gestalten und James erklärt er, dass er sie diesmal für immer verlassen wird. Das aber will Faye auf keinen Fall.
Zuerst fand ich die Besessenheit Fayes für James sehr nervig. Sie hinterfragt nicht, sondern will einfach nur bei ihm sein. Doch schnell zeigt sich, dass Faye durchaus nachdenkt, für und wider abwägt. Das steht immer wieder in Konflikt mit ihrem Herz, das eben einfach nur bei James sein will. Auch James, der zu Beginn sehr weich und von allen Kräften hin und her geschubst erscheint, kommt aus dieser Passivität heraus und agiert nicht nur eigenständig, sondern auch durchdacht.
Interessant fand ich den Punkt der Widergeburt, der im Roman nicht nur impliziert, sondern durch verschiedene Einheiten plausibel gemacht wird. Den wiedergeborenen stehen dabei Vampire gegenüber, aber auch göttliche Wächter, die die normalen Menschen beschützen wollen. Dadurch erfährt dieser Roman mit christlichen Einflüssen eine neue Tiefe.
Etwas irritiert hat mich, dass Faye nur deswegen nicht von James zu einem Vampir gemacht wird, weil er Angst hat, sie würde – wie die meisten – dadurch ihre Tugend und Moral zu vergessen. Er aber ist als Phänomen auch als Vampir mit einem Verständnis für Gut und Böse ausgestattet, das dem vampirhaften Blutdurst entgegen wirkt. Allerdings gibt es noch mehr Phänomene und dabei auch eine ganze Familie, die sich gegen die dunklen Einflüsse wehren konnte, weil sie stark genug waren. Hier wird Faye also eine charakterliche Schwäche zugesprochen, die ich im Ganzen nicht so ganz nachvollziehen kann.
Sehr gut fand ich, dass Fayes Schicksal immer noch selbstbestimmt ist. Schnell gibt es die ersten Hinweise, dass ihr Unglück mit James keinesfalls seine Schuld ist oder einer festen Regel folgt. Vielmehr zeichnet sich eine andere Kraft ab, die hier wirkt. Die Puzzleteile, die sich hier ergeben haben mir gut gefallen. So bleibt der Leser wachsam und kommt eventuell auf die Auflösung, bevor der Roman sie gibt.
Der Stil hat mir wieder gut gefallen. Sehr melodisch und weich. Gleichzeitig wird die Beziehung zwischen Faye und James nicht bei der leidenschaftlichen Sehnsucht belassen, sondern ist tief aber realistisch gezeichnet. So wirft Faye sich nicht sofort James in die Arme, sondern überlegt durchaus, was diese Änderung in ihrem Leben bedeutet.
Für Vampirroman-Freunde gut geeignet. Aber auch für alle, denen schon Aurora Sea gefallen hat und die den weichen, schönen Stil von Nadine Stenglein mögen. Kein typischer Vampirroman, aber ein guter.

Veröffentlicht am 26.09.2016

Ein bewegender, grandioser Roman

Die Nachtigall
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Vianne und Isabelle sind Schwestern. Seit dem Tod der Mutter leben sie nicht mehr bei ihrem Vater und habe sich auseinandergelebt. Die ältere Vianne hat früh geheiratet und ist Mutter, die junge Isabelle ...

Vianne und Isabelle sind Schwestern. Seit dem Tod der Mutter leben sie nicht mehr bei ihrem Vater und habe sich auseinandergelebt. Die ältere Vianne hat früh geheiratet und ist Mutter, die junge Isabelle dagegen läuft aus jeder Schule davon, in der ihr Vater sie steckt. Als sie schließlich bei ihm in Paris bleiben will, bricht der Zweite Weltkrieg aus. Viannes Ehemann wird eingezogen und Isabelle soll sich in dem kleinen Dorf, wo ihre Schwester lebt, von dem Kriegsgeschehen fernhalten. Doch wie Vianne nur das Wohlergehen ihrer Tochter im Sinn hat, will Isabelle Großes. Sie schließt sich der Resistance an und verurteilt Vianne, bei der ein deutscher Soldat einquartiert wurde. Aber auch Viannes geduldiges Warten kennt sein Ende und schließlich finden beide Schwestern eigene Wege im Kriegsschrecken für das zu kämpfen, was ihnen wichtig ist – und beide müssen Schreckliches erleiden.

Eingebettet ist die Geschichte in die Rahmenhandlung Jahrzehnte nach den Erlebnissen des Krieges. In Amerika wird eine alte Frau von ihrem Sohn in eine Seniorenwohnung gebracht. Mit sich bringt sie die Erinnerung an einen Teil ihres Lebens, den er nicht kennt. Aufgeweckt wird diese durch einen Koffer, Bilder und nicht zuletzt die Einladung zu einer Ehrenveranstaltung in Paris. Einen Reiz des Romans macht es durchaus aus, zu rätseln, ob Vianne oder Isabelle diese gealterte Heldin ist. Aber auch das Ende des Romans, das sich in der Rahmenhandlung findet, birgt seinen Vorteil. Ein Ende, auf das gewartet werden musste, kein ganz gutes, aber auch kein schlechtes.

Die Etappen des Romans ziehen sich über den Kriegsanfang und die Besetzung Frankreichs bis zum Abzug der Nazis und der Heimkehr der in Deutschland Inhaftierten. Dabei entwickeln sich Isabelle und Vianne auf unterschiedliche Art und Weise und doch werden beide zu starken Frauen. Aktive Protagonistinnen, deren Persönlichkeiten dem Buch Leben geben. Isabelle, die impulsive, starke, spontane und eigenwillige Heldin, die sofort die Möglichkeit ergreift, ETWAS zu tun. Und Vianne, die Mutter, die vernünftige, überlegende Frau. Beide haben ihre Grenzen und Kräfte, ihre Waffen und Möglichkeiten. Beide stehen an verschiedenen Fronten der gleichen Seite.

Während Isabelle dabei gerade zu Anfang das Mädchen symbolisiert, das sich im Laufe der Handlung zu einer starken Frau, Geliebten und Kämpferin entwickelt, ist Vianne „die Mutter“. Sie arbeitet für ihre Tochter und es ist diese Mütterlichkeit, die sie zuletzt zur Heldin des Romans macht. Denn wo Isabelle immer genau das sein wollte, ihren Kampfgeist also aus der Geschichte zieht, die eines Tages von ihr erzählt werden soll, ist es Vianne, die erzählen wird. Vianne, die eigentlich nur behütet sein wollte, die nur im Sinn hatte zu leben und leben zu lassen. Immer wieder opfert sie sich dabei so sehr auf, dass es fast unverständlich wirkt und doch realistisch. Sie stellt die Vernunft fast immer über ihre Gefühle, auch wenn sie dabei leiden muss.

Gleichzeitig zeichnet Die Nachtigall ein so breites Bild des zweiten Weltkrieges, dass es nicht immer ein für oder gegen ist. Freundliche Wehrmachtsoldaten und verräterische Franzosen sind glaubhafter Teil der Handlung. Ein Punkt, der mir sehr gut gefallen hat, denn gerade bei Kriegsgeschichte ist es doch leicht in Schwarz und Weiß zu unterteilen, statt in Grautönen. Dass Kristin Hannah aber genau das gelingt macht das Buch nicht nur einem beeindruckenden Entwicklungsroman zweier Schwestern, sondern auch zu einer grandiosen Geschichte über den zweiten Weltkrieg im besetzten Frankreich. Viele Details, historische wie örtliche Genauigkeiten verfeinern dieses Bild. Die komplexen Figuren und die kunstvoll aufgebaute Handlung machen Die Nachtigall schließlich zu einem Buch, das nur wärmstens zu empfehlen ist.

Denn der Roman beschönigt weder, noch verzerrt er. Eine markante Stelle schaffte es, mir am Bahnhof, das Buch in der Hand, Tränen in die Augen zu treiben – wirklich eine Seltenheit. Ein wunderbarer Stil vervollständigt diese Lektüre. Das Buch fesselt und liest sich flüssig. Fortlaufende Motive werden eingebunden. Immer wieder wichtig wird die Erinnerung neben der das Vergessen steht. Das Überleben neben dem Tod. Die Liebe neben der Angst vor Verlust. Eine bewegende Geschichte, die schleunigst auf eure Leseliste sollte.