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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 07.11.2017

Packend, mit Botschaft

Das Erwachen
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Ein winziger Computervirus legt den Grundstein für ein globales Computernetzwerk, eine Maschinenintelligenz. Axel Krohn, Hacker mit einer gefährlichen Vergangenheit, ist längst auf der Flucht, als er erkennt, ...

Ein winziger Computervirus legt den Grundstein für ein globales Computernetzwerk, eine Maschinenintelligenz. Axel Krohn, Hacker mit einer gefährlichen Vergangenheit, ist längst auf der Flucht, als er erkennt, was er da versehentlich losgetreten hat. NSA, Polizei und Terroristen suchen ihn. Und bald auch die Maschinenintelligenz selbst, die die größte Bedrohung werden könnte, die die Menschheit je gesehen hat.
Der Thriller spielt in einer unweiten Zukunft, die einen leichten technischen Vorsprung hat. Mehr Technologie, fast nur noch selbstfahrende Elektrovehikel, mehr künstliche Intelligenzen. Dieser leichte Touch von Science-Fiction hat mir sehr gut gefallen und den Einstieg enorm erleichtern. Die Spannung wurde nicht forciert, wie ich es leider aus einigen anderen Thrillern kenne, sondern auch mal in Ruhephasen überlassen. Der Clou dabei: Es gibt mehrere Figuren, die vom auktorialem Erzähler betrachtet werden. Axel Krohn ist einer davon und für die Handlung wohl der wichtigste. Seien Begleiterin Giselle hat einige wenige eigenen Szenen, mehr im Fokus stehen dagegen der australische Ermittler Coogan und die Regierungsvertreterin Viktoria.
Die Mosaikteile der verschiedenen Geschichten laufen immer mehr miteinander zu, trennen sich teilweise wieder, um sich schließlich doch alle zu überschneiden. Dieser Aufbau hat mir gut gefallen und Aufmerksamkeit gefordert, so dass ich immer wieder Puzzleteile aneinanderfügen konnte. Die Erkenntnis kam in kleinen Happen, aber gerade das hat mir großen Spaß gemacht. Auch haben die unterschiedlichen Blickwinkel nicht nur individuelle Tendenzen gezeigt, sondern auch anderen Schwerpunkte gehabt. Schnell weiß der Leser mehr als die Figuren und ist doch auf der Suche nach der gleichen Lösung.
Natürlich haben das Setting und die Problematik des Buches auch ein Nachdenken über unsere eigene Situation bewirkt. Wie stark ist der „gläserne Mensch“ schon Wirklichkeit geworden und wie „normal“ finden wir das. Die Vorstellung einer Maschinenintelligenz war mir so plausibel wie die Reaktionen der unterschiedlichen Regierungen. Gleichzeitig fand ich die Skepsis der Menschen sehr gelungen. Wie viele bedienen sich tagtäglich elektronischer Geräte, mobiler Computer oder des Internets (uupps, das machen wir ja gerade beide), ohne wirklich zu wissen, was da abläuft, welche Mechanismen dahinterstecken. Damit meine ich keine Plattform-Algorithmen, sondern die einfache korrekte Anwendung, die für viele schon ein Problem ist. Alles entwickelt sich in einem rasanten Tempo, dem wir mit unserer Lernfähigkeit kaum hinterherkommen. Ich erinnere dabei gerne an das Wort „Neuland“ oder die Tatsache, wie wenige Menschen überhaupt wissen, was ein Buchblog überhaupt ist („Und was machst du da?“)
Das Schöne ist doch, wenn ein Buch mich so über mein tägliches Leben nachdenken lässt, gewinnt es für mich an Bedeutung und gleichzeitig erinnere ich mich in meinem täglichen Leben immer mal wieder an das Buch. In Das Erwachen verstehen die Figuren die Maschinenintelligenz sofort als gefährlich. Nicht nur, weil sie theoretisch die Menschheit sofort auslöschen könnte, da sie die Kontrolle über alle elektronischen Waffen hat, sondern, weil sie ihre eigene Existenz als unlogisch verstehen. Den Figuren ist durchweg klar, dass es hirnrissig ist, eine Welt künstlich in Regierungen zu unterteilen und sich gegenseitig zu bekriegen – und sie machen es trotzdem.
Gerade an diesem Beispiel zeigt der Roman, dass er nicht nur eine Möglichkeit technischer Entwicklung zeigt, sondern ihm eine Gesellschaftskritik zugrunde liegt. Und die Überlegung, dass die Vorstellungen in unseren Köpfen doch eigentlich absolut irrational und oft auf unser eigenes Verhalten abgestimmt sind, zeigt sich noch öfter. Eine der sinnigsten Erkenntnisse des Romans, auf die ich lange gehofft habe, ist für viele der Figuren eine absolute Überraschung und in der Leserunde war es das auch für viele der Leser. Mir hat sie vor allem gezeigt, wie ein großartiger Thriller, ein großartiger Roman aussieht, absolut stimmig, ohne erzwungene Spannung und mit wundervollen Sprachbildern.

Veröffentlicht am 24.10.2017

Ein besonderer Roman

Prinzessin Insomnia & der alptraumfarbene Nachtmahr
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Prinzessin Insomnia leidet an einer kuriosen Krankheit – sie kann nicht schlafen. Oft bleibt sie tagelang wach und versucht sich von der Schlaflosigkeit abzulenken, denkt sich Regenbogenerfindungen aus ...

Prinzessin Insomnia leidet an einer kuriosen Krankheit – sie kann nicht schlafen. Oft bleibt sie tagelang wach und versucht sich von der Schlaflosigkeit abzulenken, denkt sich Regenbogenerfindungen aus und wandelt durch das Schloss. Eines Abends erscheint ein Nachtmahr, Havarius Opal, der ihr ankündigt, sie wahnsinnig machen zu wollen, und sie in ihren eigenen Kopf entführt.
Dieser Roman ist auf mehrere Arten ein besonderer. Zum ersten ist es kein klassischer Zamonienroman, in dem der Leser diese fantastische Welt kennenlernt und ein großes Abenteuer präsentiert bekommt. Die Handlung spielt sich anfangs im Schluss der Prinzessin und dann eben maßgeblich in ihrem Kopf ab – wobei das auch eine fantastische Welt ist. Moers schafft es, eine Mischung aus biologischen Gegebenheiten und wunderbaren Vorstellungen hier zu vereinen. Die bildliche Darstellung im Text ist durchweg großartig. Wenn sich der Leser auf diese Reise einlassen kann, hat er schon gewonnen.
Besonders ist aber auch, dass gerade das Abenteuer sehr spät einsetzt. Das erste drittel ist durchweg der Blick auf die Prinzessin, die durch ihre Gänge wandelt, Türme hochsteig und müde werden will. Sie erfindet Worte, Regenbogenerfindungen, sieht fast unsichtbare Zwerge im Zwielicht des Tages. Wer „Action“ erwartet, wird hier zwangsläufig enttäuscht. Wer aber genau hinsieht, erkennt dass dieser Teil eine Geschichte über das Erzählen selbst ist. Über das Erschaffen von Figuren, dem kreativen Prozess des Erfindens und eine Liebeserklärung an die Fantasie. Dieser Teil sollte meiner Meinung nach nicht in einem Rutsch gelesen werden, sondern bewusst, mit voller Aufmerksamkeit, nach und nach.
Es passiert vom Geschehen her nichts in diesem ersten Drittel. Aber gerade das zeigt nicht nur, wie langatmig Kreativität und Denkprozesse von außen sind, sondern auch wir verzweifelt die Prinzessin in ihrer Situation. Manche Leser könnten diesen Teil mit Sicherheit langweilig bezeichnen, weil wir schnelle Handlungen und eine Exposition von wenigen Seiten gewohnt sind, doch er führt Schritt für Schritt in genau die Situation ein, in der die Prinzessin sich befindet. Er ist voller Wunder im Kleinen und gleichzeitig wie eine einzige, scheinbar endlose Abschweifung. Und das obwohl Mythenmetz gar nicht auftritt.
Die Handlung setzt im Grund erst mit Erscheinen des Nachtmahrs ein und bleibt auch dann eher verhalten. Nach dem Motto, der Weg ist das Ziel, gibt es viele kleine Abenteuer und das große treibt dem Leser jetzt auch nicht den Schweiß auf die Stirn. Es ist ein sachtes Buch, voller großartiger Bilder, feiner Psychologie und Anregungen. Ein besonders Buch eben. Und wie so oft, muss man sich auf ein besonders Buch einlassen können. Es ist keine Berieslung, keine schnelle Unterhaltung und gerade das macht es für mich sehr lesenswert.

Veröffentlicht am 20.10.2017

WTF

Muttertier
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Kelles Buch ist alles aber kein neuer Feminismus. Bereits in ihrem Vorwort schafft sie es, alle Feministen entweder alt und kinderlos oder jung und unerfahren darzustellen, noch dazu Lesben zu diskriminieren ...

Kelles Buch ist alles aber kein neuer Feminismus. Bereits in ihrem Vorwort schafft sie es, alle Feministen entweder alt und kinderlos oder jung und unerfahren darzustellen, noch dazu Lesben zu diskriminieren und für Leihmutterschaft verantwortlich zu machen. Wäre es kein Leserundenbuch gewesen und das Thema so wichtig für meine Dissertation, hätte ich an der Stelle vielleicht schon abgebrochen. Anderseits fand ich es auch wichtig, alles zu lesen und heraus zu finden, was da eigentlich kaputt ist.

Was Birgit Kelle macht, ist tatsächliche Probleme zu erkennen. Das kann ich nicht abstreiten. Es ist idiotisch, dass eine Frau nicht in ihrer Mutterrolle aufgehen darf, sondern dann als Mensch zweiter Ordnung betrachtet wird. Hausfrau und Mutter ist kein Ziel, das in unserer Gesellschaft als erstrebenswert gezeigt wird. Das stimmt, ist aber regional unterschiedlich. Und gleichzeitig werden Frauen, die arbeiten gehen geradezu verteufelt. Auch von Birgit Kelle, die behauptet es würde dem natürlichen Wunsch jeder Frau widersprechen. Der Witz daran: Sie hat dieses Buch geschrieben. Auch Bücher schreiben ist Arbeit. Da spreche ich aus Erfahrung.

Also, wenn ihr keine Kinder wollt oder Kinder wollt und gleichzeitig arbeiten, tut mir Leid, dann ist was verkehrt bei euch. Dann widersprecht ihr eurer natürlichen Weiblichkeit. Ich übrigens auch nicht. KiTas sind böse, Homosexuelle auch und Feministen der Teufel. Ich geh dann mal kurz kotzen. Das Problem für mich ist, dass diese Behauptungen zwar ohne Belege daherkommen, aber rhetorisch so verpackt werden, als wären es Fakten. Ein klassisches „Es ist halt so“, ein Frustbuch, kommt es mir vor.

Ja, die für mich wirkt die Autorin konsequent gefrustet. Weil ihr die Bezeichnung der „Nur-Mutter“ auf den Zeiger geht und sie nicht versteht, dass Wahlfreiheit nicht heißt, dass alle Frauen nur noch zu Hause bleiben wollen. Das zeigt sie sehr emotional. Das Buch beginnt mit ihrem Gefühl der Mutterschaft. Der unumstößlichen Liebe zu ihrem Kind. Toll. Bilderbuch. Kenne ich auch. Und dann krätscht sie rein, dass es allen Frauen so ginge, wenn sie Mutter werden. Dass alle Frauen sich das natürlich wünschen, weil Frausein und Muttersein das gleiche bedeutet und Muttersein Weiblichkeit pur ist.

Da schüttle ich entgeistert den Kopf. Was ist mit postnataler Depression. Frauen, die keine Kinder bekommen können. Frauen, die verdammt noch mal gar keine wollen. Mütter, die ihre Kinder verhungern lassen. Männer, die Hausfrau und „Mutter“ sind. Sie gibt selbst zu, dass es die gibt und sie sie ausklammert. Und ich komme mit der unterschwelligen Behauptung, das seien dann keine richtigen Frauen und Männer dazu schon gar nicht in der Lage, nicht klar. Vielleicht ist mein Erfahrungskreis größer oder aber einfach mein Leben nicht so frustrierend. Glaube ich beides nicht.

Ich empfinde dieses Buch als Zumutung. Weil Brigit Kelle scheinbar keine Ahnung hat, was Feminismus heute ist und warum das wichtig ist. Weil sie nur sich selbst sieht und im Buch sehr egoman daherkommt. In jedem Punkt sieht sie sich als Opfer, tritt gegen Politiker und Menschen, die nicht in ihre Schubladen passen. So gut sie die Probleme erkannt hat, so falsch geht sie dagegen an. Mit Angriffen und Tiefschlägen, aber ohne Argumente, die schlüssig wären.

Veröffentlicht am 20.10.2017

Macht Spaß und bringt zum Nachdenken

Das feministische Mach-Mit-Buch
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Das Buch mischt Humor und Information. Neben einem „ABC des Feminismus“ bietet es am Anfang auch einen kleinen Überblick der Feministischen Wellen. Immer wieder werden Fakten gegeben, am Ende gibt es nochmals ...

Das Buch mischt Humor und Information. Neben einem „ABC des Feminismus“ bietet es am Anfang auch einen kleinen Überblick der Feministischen Wellen. Immer wieder werden Fakten gegeben, am Ende gibt es nochmals einen Glossar und eine Lösungsseite. Denn das Mach-Mit-Buch bietet Fragen, die es zu beantworten gilt, kleine Rätsel. Außerdem Seiten für kreativen Spaß, Buch- und Filmlisten. Selbstironisch, Sarkastisch und vor allem richtig stark kommt das Buch daher.
Und es lädt nicht nur zum Gestalten von Kondomen und kreativen Anwendungen der Menstruationstasse ein, sondern regt dabei auch immer wieder zum Nachdenken an. Mit einfachen Mitteln zeigt das Buch, das Feminismus vielfältig ist und im Grunde nur eine Überzeugung hat. Die, dass Menschen unabhängig ihres Geschlechts gleich sind. Wie viele Menschen das anders sehen und was sich Frauen so alles öffentlich gefallen lassen müssen, wird ebenfalls gezeigt. Wie tabuisiert Themen wie Menstruationblut ist, warum der Bechdel-Test auch heute noch wichtig ist und was eigentlich die großen Probleme am Patriachat sind.
Natürlich ist das hier unvollständig. Das Buch lädt zum ersten Nachdenken ein, zur aktiven Beschäftigung mit Feminismus, es übertreibt hier und da, weil es die Idiotie der Situationen aufzeigt. Beispielsweise mit der Seite voller Männernippel, die in den Algorithmen der sozialen Medien nie beanstandet werden, während bereits stillende Frauen als pornografisch gelten. Im gleichen Zug kommt auch das Soziale-Medien-Bingo ist, in der die tollen Standard-Sprüche, denen jede Frau, die sich mal für gleiche Rechte einsetzt zu hören bekommt. „Feminazi“, „du verstehst keinen Spaß“, „ich bin auch eine Frau und fühle mich nicht diskriminiert“, etc.
Das Buch macht vor allem eins, es geht offen mit Themen um, die gerne verschwiegen werden. Nicht nur die Periode, auch Sex wird immer wieder aufgegriffen. So selbstverständlich und doch Tabu. Es macht großen Spaß, durch die Seiten zu blättern, aus der Menstruationstasse einen Blumentopf zu machen und ein Tampon knallrot anzumalen. (Schon gewusst: Mensturationsblut ist gar keine hellblaue Flüssigkeit). Richtig toll fand ich aber, aus dem Buch herauszutreten und meine Bücher, meine Filme, meine weiblichen Vorbilder zu betrachten. Wie sieht diese direkte Umwelt im Hinblick auf sexistische Grundzüge aus. Was kann ich dabei empfehlen?
Das feministische Mach-Mit-Buch stellt dabei keinen Absolutheitsanspruch. Es bleiben Lücken, Bücher, die gelesen werden können (oder vielleicht auch sollen), Filme, die einen erstaunen (hättet ihr gedacht, dass Clueless feministisch gelten kann), Blickwinkel, die auch mir neu waren und Begriffe, die ich noch lernen muss. Das Buch ist für alle, die sich mit Feminismus beschäftigen eine Bereicherung aber auch und gerade für die, die ihn noch nicht kennen. Ich kann es jedem ans Herz legen, hineinzuschauen und über einiges nachzudenken.

Veröffentlicht am 20.10.2017

Spannend trotz kleiner Schwächen

Palast der Finsternis
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Anouk reist ohne das Wissen ihrer Familie nach Paris, wo sie mit anderen Jugendlichen an einer besonderen Expedition teilnehmen soll. Doch bald zeigt sich, dass ihre Aufgabe nur Schwindel war. Sie sind ...

Anouk reist ohne das Wissen ihrer Familie nach Paris, wo sie mit anderen Jugendlichen an einer besonderen Expedition teilnehmen soll. Doch bald zeigt sich, dass ihre Aufgabe nur Schwindel war. Sie sind in die Falle getappt und nun bleibt ihnen nur der Kampf ums Überleben und gegen eine Vergangenheit, mit der sie auf groteske Weise verbunden sind.
Der Roman besteht aus zwei Zeitebenen. Einmal die Haupthandlung von Anouk, einer Antiheldin mit Schuldkomplex. Darüber liegt ein Rahmen, der zu Aurélie führt, Tochter eines Adeligen, die 1789 vor der Französischen Revolution geflohen ist. Doch nicht etwa in ein anderes Land oder ein anderes Leben. Aurélie floh unter die Erde in den Palast ihres Vaters. Jenen Palast, den Anouk in der Gegenwart erkunden soll.
Bei der Vorstellung, dass eine Handvoll Jugendliche statt eines archäologischen Teams eine solche Entdeckung als erste untersuchen sollen, schrillen beim Leser die Alarmglocken. Dass die Figuren in ihrer jugendlichen Naivität darüber kaum und erst viel zu spät nachdenken, bleibt als verwirrender Punkt. Aber als Leser lässt man sich auf einen Roman ein, nimmt solche Anfangsprämissen an. Wenn man das nicht kann, wird das ganze Buch dem Leser zur Qual.
Durch die zwei Zeitebenen entwickeln sich mehrere Spannungsstränge, die erst immer wieder leicht und schließlich am Höhepunkt komplett einander bedingen. Der Trick ist gelungen, denn so geht es nicht nur darum, ob und wie Anouk aus ihrer tödlichen Falle entkommen kann, sondern auch wie nah die beiden Handlungen sich sind, welche Auswirkungen die Vergangenheit tatsächlich auf die Gegenwart hat und auch wie Aurélies eigene Geschichte endet. Diese Finesse hält die Spannung immer wieder oben und übt zusätzlich Faszination aus.
Während einige der Nebenfiguren flach bleiben, ist es gerade Anouk, die mich begeistert. Die Menschenfeindin ist eine erholsame weibliche Antiheldin. Etwas, worauf man selten trifft. Eine Figur, die alle hasst, weil sie sich selbst hasst. Die auch gar nicht aus ihrem Menschenhass heraus will. Unterhaltsam und sehr real war mir diese Figur, eine Wohltat zwischen all den weiblichen Figuren der Literatur, die eigentlich nur auf der Suche nach dem Glück sind. Anouk glaubt nicht an Glück. Sie hat eine angenehme „Ihr könnt mich alle mal“-Mentalität, die zwar auf die Probe gestellt, aber nicht von Regen in Sonnenschein verdreht wird. Sie bleibt stimmig und wird zu keinem Moment verkitscht. Von solchen „Heldinnen“ hätte ich gerne mehr.
Auch die anderen Jugendlichen werden psychologisiert, wenn auch nicht so stark wie Anouk. Hier hätte das Buch etwas tiefer gehen können. Mancher Charakter wirkt oberflächlich, ohne, dass es hinterfragt wird. Die Handlangerin von „Dorf“, dem Mann, der die Jugendlichen nach Frankreich lotst beispielsweise. Nein, keine wichtige Figur, dennoch wirkt sie konturlos. Gemeinsam mit den anderen Jugendlichen, die nur selten wirklich aus der Peripherie auftauchen, gewinnt der Roman was die Figuren angeht so an einer Oberflächlichkeit, die ich nur ungern zugebe.
Denn der Roman fesselt. Er machte mich vom ersten Moment an neugierig und Anouks Ablehnung aus Prinzip gefällt mir nach wie vor gut. Das Buch dominiert durch Spannung, Rätsel und die Aufmerksamkeit des Lesers, die permanent gefordert wird, damit er am Ball bleibt. Kein Buch für zwischendurch? Ich glaube doch, denn es liest sich schnell und mit viel Energie, so dass man als Leser seine Mühe hat, aufzuhören. Eine Eigenschaft, die definitiv zu einem guten Roman gehört.