Die amerikanische Autorin und Historikerin Edith Scheffer, die selbst einen autistischen Sohn hat, begibt sich auf Spurensuche nach Dr. Hans Asperger, dessen Name für einen Teil des Autismus steht.
War Asperger wirklich eine Art „Oskar Schindler“, der Kinder vor der Tötung des Euthanasie-Programmes der Nazis rettete? Oder war er vielmehr eines der zahlreichen Räder, die diese Tötungsmaschine aufrecht erhalten hat?
Asperger war streng gläubiger Katholik und nie Mitglied des NSDAP. Doch genügt das, um ihn von den Verbrechen der Nazis frei zu sprechen? War er nicht Nutznießer des Systems? Heute scheint es fast sicher, dass er zahlreiche Kinder durch eine positive Beurteilung vor dem Tod bewahrt hat, aber einige auch bewusst in den Tod geschickt hat. Dass er, Arzt an der Universitätskinderklinik nicht gewusst haben will, was in Heilanstalt (was für ein Widerspruch) „Am Spiegelgrund“ vor sich gegangen ist, nimmt ihm keiner ab.
Deutlich wird auch durch dieses Buch, dass er sich (wie viele tausende Menschen dieser Zeit auch) einfach durchlaviert hat. Seine zwiespältige Rolle ist mit dem Wissen von heute anders zu bewerten, als damals. Ohne die Nazis hätte er niemals eine solche Karriere erreichen können. Er profitiert also davon, dass die jüdischen Ärzte aus Wien vertrieben bzw. getötet werden und eine Stelle für ihn frei wurde.
Neben Asperger kommen einige Ärzte, wie Dr. Heinrich Gross, in diesem Buch vor, bei denen es wirklich bewiesen ist, dass sie eigenhändig Kinder getötet haben.
Viele Kapitel widmen sich der Euthanasie und dem Vorgehen von Familien und Jugendämtern. Dass Mütter ihre Kinder (und vor allem Stiefkinder), mit denen sie nicht zurecht kamen, der Tötungsmaschinerie übergaben, ist kaum zu ertragen. Andererseits gab es Eltern, die ihr Kind, das ihnen von der Fürsorge abgenommen worden ist, unbedingt wieder haben wollten.
Interessant finde ich, dass zwischen ähnlichem Verhalten von Jungen und Mädchen Unterschiede gemacht wurden. Was bei einem Jungen toleriert und als „erziehbar“ gegolten hat, war für Mädchen ein Todesurteil.
Aspergers Einteilung in „lernfähige“ oder eben „nicht lernfähige“ Kinder, ist heute umstritten. Damals hat man versucht alles in Schematismen einzuordnen. Wer nicht einem Schema entsprach, wurde entweder passend gemacht oder aussortiert (und umgebracht).
Die Autorin erzählt an Hand von Akten die Leidensgeschichte mehrerer Kinder, wie z.B. das Schicksal der fünfjährigen Elisabeth Sch., die nach einer Gehirnhautentzündung nicht mehr sprechen konnte, also in der Diktion der Nazis „nicht entwicklungsfähig zu einem vollwertigen Mitglied der Volksgemeinschaft sein würde“.
Meine Meinung:
Ein interessantes wie wichtiges Buch, das sich mit den Gräueln der Nazis beschäftigt. Einen Stern muss ich leider abziehen, denn ich orte eine vorgefasste Meinung in der Betrachtung von Hans Asperger. Aber, vielleicht liegt das an der Übersetzung.
Als betroffene Mutter hat die Autorin bestimmt meterweise Literatur über Autismus gelesen und mit Kapazitäten gesprochen. Obwohl die Beschreibung des frühkindlichen Autismus beinahe gleichzeitig von Leo Kanner in den USA beschrieben worden ist, trägt diese Spielart des Autismus seit 1981 den Namen des vergleichsweise unbekannten Aspergers. Das muss man wohl als Treppenwitz der Geschichte ansehen. Ob die britische Psychiaterin Lorna Wing, die Aspergers Arbeit fortgesetzt, bewusst war, nach wem sie diese Abweichung des Autismus benannt hat?
Das beeindruckende Titelfoto zeigt die 772 Stelen, die an die, in der Heilanstalt „Am Spiegelgrund“ ermordeten Kinder, erinnert.