Tyrannenmord - wann ist er legitim?
Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja PerowskajaZunächst einmal zum historischen Hintergrund:
Seit 1855 herrscht Alexander II. (1818-1881) über Russland. Er gilt als Reformer. Seine Reformen umfassen u.a. die Modernisierung der Justiz, die Lockerung ...
Zunächst einmal zum historischen Hintergrund:
Seit 1855 herrscht Alexander II. (1818-1881) über Russland. Er gilt als Reformer. Seine Reformen umfassen u.a. die Modernisierung der Justiz, die Lockerung der Zensur, Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht und teilweise Autonomie an den Universitäten. Seine wichtigste Reform ist jedoch die Aufhebung der Leibeigenschaft für die Bauern 1861 und die Verteilung von landwirtschaftlichen Flächen an die Bauern. Die Zins- und Fronwirtschaft bleibt allerdings bestehen. Es gelingt nicht, die Landwirtschaft zu modernisieren. Allerdings erntet er dadurch erbitterten Widerstand der Großgrundbesitzer.
Vielen Theoretikern gehen die Reformen nicht weit genug. Deshalb erfolgt eine Radikalisierung der Opposition gegen das zaristische, imperiale Regime. Doch die Gegner sind sich nicht einig. Es gibt die Nihilisten und andere Gruppierungen. Besonders die Organisation „narodnja wolja“ (= Volkswille) ist zur Gewalt bereit. Ab 1878 werden Attentatspläne ausgearbeitet.
Zum Buch:
Sofja Perowskaja wird als Tochter einer reichen und einflussreichen Adelsfamilie in St. Petersburg geboren. Bereits als Kind spielt sie lieber mit Waffen als mit Puppen und lehnt die althergebrachte weibliche Rolle ab. Sofja ist überdurchschnittlich intelligent und will studieren. Vermutlich hat ihr despotischer Vater, der sowohl seine Ehefrau als auch seine Kinder misshandelt, einen großen Anteil daran, dass sie als 16-jährige ihr Elternhaus verlässt. In St. Petersburg lernt sie sie andere radikal eingestellte Jugendliche kennen. Zuerst schließt sie sich den Nihilisten an und identifiziert sich mit deren Ideen. Als die Nihilisten zerschlagen werden, findet sie Unterschlupf bei der radikalen Gruppe Volkswille. Zu Beginn ziehen die Mitglieder auch wirklich zu Bauern aufs Land, um ihren Willen zu erkunden bzw. zahlreiche Anhänger zu rekrutieren. Doch die meisten Bauern wollen weder schreiben noch lesen lernen und sind mit ihrem aktuellen Schicksal zwar nicht zufrieden, aber beschäftigt. Immer wieder dringt durch, dass man den Zaren als beinahe gottgleichen Imperator verehrt. Den radikalen Ideen der Gruppe können sich die Bauern nicht anschließen.
Es scheint, als arbeite die Organisation auf eigene Faust. Die Unterstützung von Millionen Bauern und Arbeitern bleibt aus.
Die Gruppe gerät in den Fokus der Geheimpolizei und immer wieder gelingt es Sofja noch rechtzeitig unterzutauchen.
In den Jahren 1879 und 1880 beteiligte sich Sofija Perowskaja aktiv an zwei Attentaten auf den Zaren, die jedoch misslingen. Nach und nach werden bedeutende Mitglieder des Volkswillen verhaftet, da die Gruppe unter ständiger Beobachtung steht.
Am 13. März 1881 gelingt es der Terrorgruppe, unter ihrer Leitung, den Zaren durch eine Bomben-Explosion zu töten.
Sofja Perowskaja, damals 27 Jahre alt, und die sechs anderen Attentäter werden verhaftet, vor Gericht gestellt und hingerichtet.
Meine Meinung:
Ich finde das Buch sehr interessant, vor allem aus Sicht der Gegner des Zaren. Bislang kannte ich zwar Alexander II. und seine Gemahlin Marija Alexandrowna, die gebürtige Prinzessin Marie von Hessen-Darmstadt (Die Hessin auf dem Zarenthron), sowie seine morganatische Ehefrau Jekaterina Dolgorukaja. („Katja, die ungekrönte Kaiserin“ aus dem Jahr 1959. In diesem kitschigen Film mit Curd Jürgens und Romy Schneider wird das Attentat dargestellt.).
Liliana Kern bringt uns den Lebensweg der Aristokratentochter, die sich so radikalisiert behutsam näher. Obwohl Sofja zu Beginn ihrer Agitationen gegen das Regime Terror ablehnt, findet sie sich mitten in der Spirale der Gewalt wieder. Als sie den „point of no return“ erreicht, gibt es keinen Weg zurück mehr. Selbst charismatisch, erliegt sie dem Einfluss von Scheljabow und wird der Kopf der Attentäter.
Einen interessanten Erklärungsversuch ihrer Motivation stellt die Autorin auf S. 232 auf: Der Mord am Zaren sei gleichzeitig der Mord an ihrem Vater und auch der Mord am Geliebten Scheljabow. Zar und Vater haben ihre Ehefrauen gedemütigt und betrogen, genauso wie Scheljabow seine zahlreichen Geliebten.
Der Mord am Zaren sei im Namen aller gedemütigten Frauen Russlands geschehen. Ein Zeichen, sich die Unterdrückung durch die Männer nicht mehr länger gefallen zu lassen.
Der Schreibstil ist sehr sachlich, beinahe schon trocken und sehr informativ. Eine interessante Biografie für die die Autorin in zahlreichen Archiven gestöbert hat (stöbern hat lassen).
Eine Frage hat sich für mich gestellt, die nicht beantwortet werden konnte: Wann ist Tyrannenmord gerechtfertigt?
Fazit:
Das Buch ist eine gute Ergänzung zur russischen Geschichte. Gerne gebe ich 4 Sterne und eine Leseempfehlung.