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Veröffentlicht am 16.06.2024

Worauf kommt es wirklich an? Ein idyllisches Kleinod an der irischen Küste lehrt es uns

Mitternachtsschwimmer
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Ich wollte einen Roman lesen, der in Irland spielt, und „Mitternachtsschwimmer“ war perfekt dafür. Eine wunderschön geschriebene Geschichte über moderne Menschen, aber es fühlte sich nach einfacheren, ...

Ich wollte einen Roman lesen, der in Irland spielt, und „Mitternachtsschwimmer“ war perfekt dafür. Eine wunderschön geschriebene Geschichte über moderne Menschen, aber es fühlte sich nach einfacheren, vergangenen Zeiten an. Roisin Maguire hat gut ausgearbeitete, sympathische, aber nicht perfekte Charaktere erschaffen. Normalerweise mag ich keine Geschichten, die zur Zeit der Pandemie und des Lockdowns spielen, aber diese war wirklich reizend, obwohl ich sie nicht als leichte Kost bezeichnen würde. Ich mag realistische Charaktere, gut ausgearbeitet, inklusive Liebe, Hoffnung und Erlösung in der Geschichte. Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte mit ungewöhnlichen Charakteren in der Atmosphäre einer Kleinstadt namens Ballybrady, voller skurriler Charaktere, die die Stadt kennen und lieben. Eine gelungene Übersetzung aus dem Englischen von Andrea O‘Brien.

Grace wohnt allein in einem malerischen Dorf an der irischen Küste. Sie verbringt ihre Zeit am liebsten allein, ohne einen Menschen zu sehen. Ihr Hund ist ihr wichtigster Begleiter. Wenn sie nicht mit ihm unterwegs ist, schwimmt sie oder quiltet. Sie ist der pure Wirbelwind, mit ehrlichen Worten auf der Zunge, aber gutem Herz. Sie kennt die Gefahren des Meeres ebenso, wie die, die einen Menschen ins Herz treffen können.
Um sich finanziell über Wasser zu halten, vermietet sie ein Cottage an Touristen.
Evan flüchtet in ebendieses Cottage - weg von seiner kriselnden Ehe. Er braucht Kraft, um seine Trauer um seine kleine Tochter zu verarbeiten, fröhnt aber immer mehr dem Alkohol, darunter leidet auch sein Job. Er möchte sich eine Woche Zeit für sich nehmen, um dann mit wiedergewonnener Kraft seine Rolle als Ehemann, Geschäftspartner und Vater wieder auszufüllen. Doch als er im Cottage in Ballybrady ist, überrascht ihn der Lockdown. Er ist nun gezwungen, sich mit den hiesigen Dorfbewohnern auseinanderzusetzen, zu denen auch Grace gehört. Er lernt, was wirklich wichtig ist im Leben.

Die Lektüre von „Mitternachtsschwimmer“ brachte mich dazu, darüber nachzudenken, dass die größte Raffinesse in der Einfachheit liegt, dass die Wahrheiten des Herzens nicht durch Wendungen in der Handlung oder andere literarische Standardtricks verschönert werden müssen. Eine Geschichte zu erzählen, - einfach und wunderschön und einer klaren Liebe zu dem irischen Ballybrady, das diese Charaktere so großzügig beherbergt, reicht aus. Als ich fertig war, war mein Herz voll.

Ich habe es geliebt. Schwierige Themen, aber leicht und schön geschrieben. Es war einfach, sich in der Geschichte zu verlieren. Eine sehr gut strukturierte und prägnante Handlung, die das Lesen zu einem Vergnügen machte - ich konnte währenddessen das Meer förmlich riechen und schmecken.
Der einzige Grund, warum ich ihm nicht fünf Sterne gegeben habe, ist, dass es ein paar Dinge gibt, die für mich mehr Erklärungen bedurft hätten.
Unabhängig davon hoffe ich auf mehr von Roisin Maguire. Sehr zu empfehlen.

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Veröffentlicht am 16.06.2024

Märchenhaft und spannend!

Cascadia
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„Cascadia“ ist eine Geschichte über zwei Schwestern, die altersmäßig ein Jahr auseinander liegen und nach einem besseren Leben dürsten. Sie besitzen konkrete Träume für die Zukunft - eine Möglichkeit, ...

„Cascadia“ ist eine Geschichte über zwei Schwestern, die altersmäßig ein Jahr auseinander liegen und nach einem besseren Leben dürsten. Sie besitzen konkrete Träume für die Zukunft - eine Möglichkeit, ihren finanziell angespannten Status zu verbessern, während sie sich weiterhin mehr als alles andere, gegenseitig als Schwestern widmen. Julia Phillips liefert mit „Cascadia“ eine spannende und aussagekräftige Allegorie über Familie und Erwartungen, eine Inselgeschichte, die auf Grimms Schneewittchen und Rosenrot basiert. Wenn Ihr dieses Märchen noch nicht gelesen habt, ist das gar nicht schlimm - Ihr werdet diesen Roman für seine Charaktertiefe, seine ungewöhnliche Umgebung, die naturelle Atmosphäre und die tiefgründige Handlung genießen können.

Sam und Elena sind in ihren späten Zwanzigern und kämpfen finanziell um das Überleben auf der Insel San Juan, die für ihre wohlhabenden Besucher bekannt ist. Die Insel ist Teil des Inselarchipels im Nordwesten Washingtons, einem unverwechselbaren, nicht-urbanen Ort, der das ganze Jahr über Touristen und Festlandbewohner mit Ferienhäusern anzieht. Die Schwestern klammern sich aneinander, um sich zu unterstützen, während sie sich liebevoll um ihre sterbende Mutter kümmern, die früher einen Salon unterhielt. Die verwendeten Nagellösungsmittel zerstörten schließlich ihre Lunge. Die Schwestern planen, das bröckelnde, zerfallende Haus zu verkaufen, wenn ihre Mutter stirbt, und ein neues Kapitel ihres Lebens woanders zu beginnen. Das Haus liegt auf einem Land, das was wert ist, so dass die jungen Frauen eine beträchtliche Menge an Bargeld erben werden, wenn sie es verkaufen.

Elena ist Barkeeperin in einem Golfclub und Sam verkauft Snacks an Festlandbewohner auf der Anacortes-Fähre. Beide sind frustriert über unzureichende finanzielle Mittel und verärgert über die wohlhabenden Gäste, um die sie sich kümmern und auf deren Trinkgelder sie angewiesen sind. Ihr Leben verläuft nach immer wiederkehrenden Routinen, eingeschränkt durch ein Gelddefizit und eine kränkliche Mutter. Die meisten Tage sind vorhersehbar, gewohnheitsmäßig mit andauernder Langeweile und leeren Wünschen. Dann, eines Nachts, entdeckt Sam einen Bären von der Fähre aus. Das Tier schwimmt im Kanal, anscheinend auf dem Weg nach Kanada. Wie verändert der Anblick eines Bären ihre engagierten Pläne und ihren Alltag? Verhängt er ein magisches Märchenschicksal oder ist es ein Vorbote eines unheilbringenden Schicksals? Warum taucht er auf ihrem Grundstück auf und kommt immer wieder zurück? Ihre Sicherheit wird durch die häufigen Besuche des Tieres auf den Kopf gestellt, und Sams Gefühl der Angst wird durch Elenas euphorische Stimmung untergraben.

„Cascadia“ ist ein Gleichnis unerzählter Geheimnisse, die die Schwestern auseinanderreißen könnten, eine Erzählung, die mich über ihr erstaunliches Finale hinaus verfolgte. Julia Phillips ist eine wagemutige Romanautorin, die über den Tellerrand hinaus schreibt. Wenn Ihr auf alles Antworten erwartet, ist „Cascadia“ möglicherweise nichts für Euch. Aber Leser, die kryptische Geschichten lieben, wird diese Geschichte mit ihrer wütenden, dunklen Spannung überzeugen.

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Veröffentlicht am 16.06.2024

Gelungene Fortführung von Mark Twains „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“

James
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„James“ ist ein Buch, dass in sehr intelligenter und kreativer Weise in den Streit um Cancel Culture, Vogueness und politische Korrektness eingreift. Der amerikanische Romancier Percival Everett, ist Jahrgang ...

„James“ ist ein Buch, dass in sehr intelligenter und kreativer Weise in den Streit um Cancel Culture, Vogueness und politische Korrektness eingreift. Der amerikanische Romancier Percival Everett, ist Jahrgang 1956 und wurde schon etwas bekannt letztes Jahr mit seinem Roman „Die Bäume“.

Mit „James“ wagt er sich an eine Überschreibung eines der ganz großen Werke der US-Amerikanischen Literatur, nämlich an den Roman von Mark Twain „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“. Aber dieser Roman, heute gelesen, ist gar nicht unproblematisch.
Everett eröffnet uns einen neuen Blickwinkel auf die Geschichte, nämlich den, aus der Sicht des Sklaven Jim. Dieser Roman ist eine einzige große Sprachfantasie - Everett entwickelt diese Idee, dass dieses gesprochene Englisch nur eine Sprache ist für die dummen Weißen. Tatsächlich unterhalten sich die Schwarzen über Feinheiten zwischen proleptischer und tragischer Ironie oder ergehen sich in Träumereien in Gesprächen über Voltaire. Andererseits, das ist jetzt so verkopft, aber das ist auch ein handfester Actionroman, es hat mich ein bisschen erinnert an Quentin Tarantinos „Django Unchained“. Weil dieser James, der eben nicht Jim heißt sondern James, seine Familie beschreibt, die Abenteuer auf dem Mississippi erlebt, einen blutigen Rachefeldzug gegen den Richter, seinen Sklavenhalter unternimmt. Es ist eine Überschreibung eines Romans, aber es ist eben nicht ein Teil der Cancel Culture, sondern als Kontrafaktur eine eigene Geschichte gegen ein Werk, eigentlich die schönste Werbung für Mark Twain, die man sich vorstellen kann. Auch in der deutschen Übersetzung von Nikolaus Stingl, die mir hier überaus gelungen erscheint.

Sprache wird hier als ein strategisches Instrument verwendet, so wie im Tierreich manche Tiere ein bestimmtes Gefieder aufmachen, um zu täuschen. So sprechen die Schwarzen in diesem gebrochenen Englisch, um den Weißen vorzuführen, dass sie dumm und harmlos sind. Untereinander können sie aber im gestochensten Englisch sprechen, um nämlich ihre Gegenstrategie zu entwickeln. Es ist die Idee eines Empowerments, nämlich in dieser Geheimsprache eines vollausgebildeten Englisch, können die Schwarzen untereinander sich so verständigen, dass sie zu Gegenstrategien in der Lage sind. Das ist erzählerisch kein Gegenentwurf zu Mark Twain. Ich liebe, wie er aus Jim diesen James gemacht hat, nämlich ein voll souveränes Subjekt, dass die Handlung vorantreibt und mehr weiß als der junge Huck, für den er immer mitdenkt. Daraus ist gleichzeitig eingebettet, wie wir es von Mark Twain kennen, diese herrliche Mississippi Landschaft, die aber natürlich auch gleichzeitig eine Bedrohungslandschaft ist, nämlich als Schwarzer auf der Flucht, muss er natürlich in ganz anderer Weise um sein Leben bangen. Und die Natur dient gleichzeitig auch als Rückzugsort mit dem großen Mississippi als Grenze zum Norden, wo die Freiheit ihn erwartet.

Es gibt in der Literatur des 19. Jahrhunderts einen großen utopischen Moment, den „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ markiert. Das sind eben die Szenen von Huck und Finn auf dem Floß. Wo plötzlich ein friedliches Zusammenleben von Schwarz und Weiß möglich scheint, wo eben in der Literatur zumindest, diese Rassenschranken überwunden werden. Das greift Percival Everett in diesem Roman sehr kunstvoll auf.

Es ist nicht nur eine Verbeugung vor, sondern auch eine Kritik an Mark Twain und auch an denjenigen, die sich für liberal und aufklärerisch halten und es eigentlich nicht sind. Das kann man z.B. daran sehen, dass Jim hier in diesem Roman James heißt, dass heißt er gibt sich selbst seinen Namen. Und in dem Roman geht es auch darum, dass James darüber nachdenkt, dass die Weißen eben immer das Bestreben haben zu Benennen und zu Beurteilen, selbst in ihrer Selbstkritik wollen sie die Fäden in der Hand behalten. Und das macht Mark Twain ja, er erzählt diese Geschichte. Ganz wesentlich ist in diesem Buch, dass es um das Aufschreiben der eigenen Geschichte geht. Da spielt ein Bleistift eine Rolle, den James bei seiner Flucht sich organisieren lässt von einem anderen versklavten Mann. Und dieser Mann wird dafür ausgepeitscht und getötet, ermordet. Und der Bleistift hat eine enorme Aufladung und Bedeutung. Und die eigene Geschichte aufzuschreiben hat eine enorme Bedeutung. Und es war kein Schwarzer, der Huckleberry Finn geschrieben hat, sondern es war ein Weißer: Mark Twain. Ich glaube, das ist auf sehr kluge Weise immer wieder in diesen Text eingewebt, dass es auch eine handfeste Kritik ist. Es taucht z.B auch immer wieder in der Figur von Huck der Satz auf: „Daran hab ich gar nicht gedacht, dass ich dir Schaden könnte, mit dem was ich tue.“ Und diese Art von Gedankenlosigkeit, die ich von mir selbst auch kenne, das ist etwas was er hier kritisch erzählt. Kritisch in einem sehr produktiven, offenen, durchaus liebenden Verhältnis auch zu Mark Twain. Hier erfolgt kein Vorwurf, dass Mark Twain ein Weißer war. Damit „James“ geschrieben werden konnte, musste es vorher die Mark Twainsche Geschichte geben. Es ist eine produktive Intertextualität.

Wir sollten auch das Motto bedenken, mit dem Mark Twain seine Geschichte beginnt: „Wer in dieser Geschichte ein Motiv sucht wird des Landes verwiesen. Wer eine Handlung sucht, wird mit Geldstrafe belegt und wer eine Moral in dieser Geschichte zu finden versucht, wird erschossen.“ So beginnt Mark Twains Roman.
Ich wünschte mir heute diese Art von Gedankenfreiheit in der Literatur und nicht dieses Rechthaberische.
„James“ ist sicherlich eine Kritik an den Weißen schlechthin, an Mark Twain, aber es ist Gottseidank eine produktive Fortschreibung.

Ich bin eine große Freundin von Literatur, die böse sein kann, die verletzend sein kann, die aufs Blut reitzt und nicht in einer Jugendbuchversion die jeweiligen Befindlichkeiten tätschelt. Ich möchte Bücher haben, die stechen, die verletzen und uns reizen. Das hat Mark Twain geschafft und Percival Everett führt es äußerst gelungen fort.

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