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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 28.03.2024

Hervorragender Schreibstil, inhaltlich leider etwas kurz gehalten

Gussie
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Über die zweite Ehefrau Konrad Adenauers wußte ich bislang überhaupt nichts und auch über Adenauers Hintergründe beschämend wenig, also war ich auf dieses Buch sehr neugierig. Der ausgezeichnete Sprachstil ...

Über die zweite Ehefrau Konrad Adenauers wußte ich bislang überhaupt nichts und auch über Adenauers Hintergründe beschämend wenig, also war ich auf dieses Buch sehr neugierig. Der ausgezeichnete Sprachstil hat mich dann gleich gefangengenommen und so ging ich die Lektüre mit hohen Erwartungen an, die auch fast vollständig erfüllt wurden.
Die Gestaltung des Buches ist hinsichtlich Einband und Vor- sowie Nachsatz ansprechend. Auf dem Titel findet sich ein Portrait Gussie Adenauers, welches wir dann im Vor- und Nachsatz als größeres Gemälde sehen, wodurch die Leser gleich einen visuellen Eindruck erhalten. Im Buch fand ich das etwas raue Papier weniger angenehm, aber das ist letztlich zweitrangig.
Die Geschichte wird auf zwei Zeitebenen erzählt. 1948 liegt die sterbende Gussie in ihrem Krankenhausbett und blickt auf ihr Leben zurück, welches dann in der zweiten Zeitebene ab 1915 erzählt wird. Die 1948-Szenen sind ausgesprochen schmerzhaft. Dieses stille Sterben, die Resignation, die über allem hängt, das melancholische Ergeben ins Schicksal und auch die Trauer der Umgebung sind mit wenigen wohlgesetzten Worten einfach wundervoll erzählt. Ich sah mich geradezu mit in diesem Krankenzimmer und spürte Trauer über dieses zu früh endende Leben nach Jahren des Leids in der Nazidiktatur. Die rührenden Briefauszüge verstärken dieses schwermütige Gefühl und sind überhaupt hervorragend eingesetzt.
Vor jedem Kapitel findet sich ein solcher Auszug aus Briefen an oder von Gussie. Diese passen immer ausgezeichnet zum Kapitel und mir gefielen sie im Buch mit am meisten, weil man so einen direkten Zugang zu den Menschen bekam. Ich war enttäuscht, im Nachwort zu lesen, daß es sich gar nicht um echte Briefauszüge handelt. Sie sind laut Autor zwar dem Ton der wirklichen Briefe nachempfunden, aber es wäre wesentlich authentischer gewesen, dann auch die wirklichen Auszüge zu nehmen. Leider wird auch nicht erklärt, warum dies nicht getan wurde.
Die Kapitel über Gussies Leben sind vignettenhaft. Wir erhalten kurze Einblicke, zwischen denen oft recht viele Jahre liegen. Das hat mir von der Konzeption her weniger gefallen. Die Ehejahre vor 1933 werden ausgesprochen kurz abgehandelt. Das mag natürlich daran liegen, daß es vielleicht nicht so viel zu berichten gab, aber dieser Vignettenstil verhinderte es für mich, mich den Charakteren zu nähern, auch hätte ich gerne ein umfassenderes Bild erhalten. Abgesehen von Gussie blieben mir dann auch alle anderen Charaktere recht fremd, was ich bedauerlich fand. Ab 1933 werden die Kapitel länger und dichter, aber auch hier wurde vieles zu kurz abgehandelt, über das ich gerne mehr gelesen hätte. Auch dem Verständnis mancher Situationen wären etwas mehr Hintergründe hilfreich gewesen. Dagegen gab es einige langatmige Passagen, insbesondere das Privatleben der Krankenschwester Gussies fand ich in diesem Rahmen höchst entbehrlich – gerade weil ich so viel lieber mehr über Gussie und Konrad Adenauer gelesen hätte. Es gibt viele Bücher, die sich in sich selbst verlieren und denen 50 Seiten weniger guttun würden – „Gussie“ hätte mir mit etwa 50 Seiten mehr noch besser gefallen.
Der Schreibstil ist eine wahre Freude. Christoph Wortberg kann mit Worten umgehen. Er schreibt reduziert und gleichzeitig wortgewaltig. Alle Szenen sind sehr anschaulich, schaffen Atmosphäre, lassen die jeweiligen Orte vor unseren Augen auferstehen. Gerade das Atmosphärische ist ausgezeichnet gelungen. Die Bedrohung durch die Nazis, ihre perfiden, widerlichen Methoden, die immer lastende Angst werden so hervorragend dargestellt, daß das Lesen oft beklemmend wird. Man merkt auf jeder Seite, daß hier ein Autor mit Können am Werk ist.
Ich habe aus diesem Buch viel gelernt und mich an der gelungenen Sprache erfreut. Eine bereichernde Lektüre.

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Veröffentlicht am 21.03.2024

Ein bunter Strauß aus Beobachtungen, Wissen und Erfahrungen

Ein Garten offenbart sich
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Dieses Buch ist auf gelungene Weise ungewöhnlich. Es ist eine teils literarisch anmutende Erzählung mit Rückblicken in den Alltag früherer Generationen, teils fast poetische Darstellung der Beobachtungen, ...

Dieses Buch ist auf gelungene Weise ungewöhnlich. Es ist eine teils literarisch anmutende Erzählung mit Rückblicken in den Alltag früherer Generationen, teils fast poetische Darstellung der Beobachtungen, welche die Autorin in ihrem Garten macht, teils Ratgeber für natürliche Gartengestaltung, teils Sachbuch über Naturkunde und teils Manifest. Letztlich ähnelt es dem Garten der Autorin – es findet sich hier so vieles, oft Unerwartetes, manches nimmt eine andere Entwicklung als gedacht, aber alles bildet ein harmonisches Ganzes. Es hat Spaß gemacht, auf diese Reise voller kleiner Abzweigungen zu gehen. Dies beginnt schon beim ungemein liebevoll gestalteten Einband – hochwertig und mit einem zauberhaften Motiv.

Kleine Vignetten, die sich in die Vorfahren der Autorin hineinversetzen, bieten einen anschaulichen Einblick in das von Landwirtschaft und Wissen über die Natur bestimmte Leben jener Zeit, ebenso wie die Alltagserinnerungen der Autorin aus ihrer Kindheit. Diese konzentrieren sich auf das Wesentliche, es ist der ganz normale Alltag, der hier ruhig und sachlich geschildert wird, und gerade das macht es interessant und veranschaulicht, wie sehr sich vieles innerhalb von ein paar Generationen geändert hat, das zuvor über Jahrhunderte zum Leben dazugehörte.

Den Großteil des Buches bilden die Erfahrungen, welche die Autorin mit ihrem eigenen riesigen Garten macht und ihre – innere und äußere – Reise von der konventionellen Gartengestaltung zum sich fast selbst überlassenen natürlichen Garten. Sie schildert viele faszinierende Beobachtungen und das tut sie so farbig, daß man es beim Lesen miterleben kann. Auch die Symbiosen zwischen den unzähligen Lebensformen in der Natur werden hier durch eigene Beobachtungen dargestellt. Hintergrundinformationen erfahren wir auf verschiedene Weise. Einmal durch Informationen der Autorin selbst, häufig durch die beiden Söhne der Autorin. Dies stellt allerdings einen Wermutstropfen des Buches dar. Die Söhne haben viel Wissen und auch viel Enthusiasmus für das Thema, was an sich eine tolle Sache ist. Nur treten sie in einer statisch belehrenden Rolle auf, die stilistisch nicht überzeugt. So gibt es immer wieder Einschübe mit „Mein Sohn sagt“ oder „Meine Söhne sagten“, denen dann ein langer handbuchartiger Einschub folgt (was dann, wenn das angeblich beide Söhne sagen, eher unfreiwillig komisch wirkt, da es klingt, als ob beide nach Art eines griechischen Chores diese langen Passagen gemeinsam deklamieren). Wahrscheinlich sollte es durch die wörtliche Rede lebendiger wirken, aber die Umsetzung hat etwas Unnatürliches und wirkt in ihrer Häufigkeit enervierend.

Ebenfalls anstrengend fand ich den emotionalen Überschwang. Der innere Aufruhr der Autorin bei allerlei kleinen Vorkommnissen und Erkenntnissen wirkte auf mich übertrieben und in seiner Häufigkeit auch überspannt. Sätze wie „Ich kann alle und alles dem Tod anheimgeben. (…) Meine ungeheuerliche Macht“ und allerlei fast dramatische Reaktionen auf Handlungen, die die Autorin im Nachhinein als nicht richtig einstuft, ellenlanges Sinnieren über die „Beziehung“ zu den Pflanzen und Gekränktheit, weil diese sie nicht beachten oder brauchen, waren mir viel zu viel und haben mein Lesevergnügen beeinträchtigt. Auch die Erkenntnisse, denen ich oft zustimme und für sehr wichtig halte, waren mir häufig zu dramatisch dargebracht. Die immer wieder vorkommenden Wiederholungen hätten m.E. ebenfalls eingeschränkt werden können.

Insgesamt ist der Schreibstil aber erfreulich – der Text ist zugänglich, oft farbig, ungemein persönlich und gut lesbar. Auch ist das Thema faszinierend. Hätte ich einen Garten, würde ich vieles von dem hier Erwähnten umsetzen und das Buch läßt mich wünschen, ich hätte einen Garten. Die Natur um mich herum beobachte ich aber nun entschieden noch aufmerksamer und ich weiß zu schätzen, wie viel ich hier gelernt habe. Das Buch weckt ein Bewußtsein und das ist heutzutage dringend notwendig. Mir gefiel die Umsetzung in mehrerlei Hinsicht nicht, gerade was das übertriebene Pathos und die Einsetzung der Söhne als Handbuchzitierer betrifft, aber dafür fand ich auch viele Aspekte ausgezeichnet. Insbesondere die Vermittlung des Wissens, welches sich die Autorin erster Hand und über lange Jahre erarbeitet hat, ist bemerkenswert. Die Leser haben hier an einem ungewöhnlichen Lernprozess teil.

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Veröffentlicht am 11.03.2024

Fundierte, menschlich berührende und ausgewogene Betrachtung

Zeit der Schuldigen
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In „Zeit der Schuldigen“ greift Markus Thiele den Mord an Frederike von Möhlmann auf, der durch eine Ende Oktober 2023 erfolgte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wieder neue Aktualität erlangte. ...

In „Zeit der Schuldigen“ greift Markus Thiele den Mord an Frederike von Möhlmann auf, der durch eine Ende Oktober 2023 erfolgte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wieder neue Aktualität erlangte. Die menschlichen Auswirkungen dieser durchaus fragwürdigen Entscheidung und eines manchmal ungerechten Rechtssystems zeigt Thiele in diesem Buch sehr nachdrücklich und vielfältig auf. Während der Autor sich hinsichtlich der Entwicklung des Falles und dessen juristischer Betrachtung eng an den wahren Fall hält, hat er alles andere fiktionalisiert. So entspricht auch die Beziehung zwischen Mordopfer und Täter der Fiktion, auch die Ermittler sind fiktive Personen.
Thiele entwickelt diese fiktiven Charaktere sehr ausführlich, was einerseits von Sorgfalt zeugt, andererseits für mich viele Szenen aber auch zu langatmig wirken ließ und zudem den Fokus manchmal zu sehr vom eigentlichen Fall wegnimmt. Gerade der Handlungsstrang der emotional instabilen Ermittlerin Anne, die den unbestraften Täter Jahrzehnte später entführt, ist im letzten Drittel des Buches sehr dominant, war für mich etwas zu übertrieben und behandelte dann zudem auch noch Annes Beziehungsleben, was ich überflüssig und teils auch etwas zu klischeehaft fand. Auch sonst waren mir manche privaten Hintergründe und philosophischen Betrachtungen zu ausführlich. Am besten fand ich den Mittelteil des Buches, der sich auf das Wesentliche konzentriert und die Geschichte für sich selbst sprechen läßt.
Insgesamt liest sich der Schreibstil aber erfreulich fundiert, flüssig und farbig. Der Autor ist Jurist, das macht sich angenehm bemerkbar. Er bietet uns einen sehr unmittelbaren Blick in die Ermittlungsarbeit und insbesondere die rechtliche Behandlung. Thiele hat nicht nur die Erfahrung und das Wissen zu dieser Thematik, er vermittelt sie zudem gekonnt und unterhaltsam. Dabei zeigt er stets Respekt für das Mordopfer und die Angehörigen, stellt einfühlsam deren Leid dar und macht auch deutlich, welche Härten die notwendigerweise versachlichten Prozesse in Ermittlungen und Rechtsprechung für Verbrechensopfer und ihre Angehörigen darstellen. Gleichzeitig bemüht er sich um eine ausgeglichene Betrachtungsweise und die Erklärung, warum manches, das menschlich grausam wirkt, juristisch durchaus seinen Sinn hat. Er verzichtet auf künstliche Dramatik, berichtet ruhig, realistisch und vermischt das Sachliche gekonnt mit dem Menschlichen.
Auch atmosphärisch weiß der Autor zu überzeugen. Gerade die Szenen mit dem Täter sind oft so farbig geschildert, daß man das Gefühl hat, dabei zu sein. Eine der Begegnungen zwischen dem späteren Mordopfer Nina und dem Täter Volker zeigt sein manipulatives und ihr jugendlich unsicheres Verhalten so gelungen auf, daß einem beim Lesen ganz unbehaglich zumute wird. Auch eine Verhörszene veranschaulicht das Feingefühl des Autors für menschliche Nuancen. Mit geschickt eingesetzten Details schafft Thiele die jeweiligen Atmosphären. Manchmal sind mir diese zu geballt genutzt, so hat die unablässige Erwähnung von allerlei 80er-Liedtiteln in den entsprechenden Szenen etwas Listenartiges, auch einige Leitmotive und das Stilmittel der Wiederholung werden etwas übertrieben.
Der Umgang mit den verschiedenen Zeitebenen ist dagegen durchweg gelungen, auch die Erzählstimmen klingen gekonnt unterschiedlich. Wir verfolgen den Fall über mehr als vierzig Jahre, der Autor wechselt die Zeitebenen stetig, dies aber immer sinnvoll und deutlich. Trotz der Zeitwechsel wirkt die Geschichte kontinuierlich und wie aus einem Guss, auch hier erkennt man wieder die Sorgfalt, die in dieses Buch geflossen ist.

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Veröffentlicht am 29.02.2024

Zäh und klischeebeladen

Die Halbwertszeit von Glück
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Dieses Buch war leider meine erste große Leseenttäuschung dieses Jahres. Von der Gestaltung her ist es eine wahre Freude. Der Einband begeistert mit seinen wundervollen Farben, dem ansprechenden Motiv ...

Dieses Buch war leider meine erste große Leseenttäuschung dieses Jahres. Von der Gestaltung her ist es eine wahre Freude. Der Einband begeistert mit seinen wundervollen Farben, dem ansprechenden Motiv und der allgemeinen visuellen Gestaltung. Ebenfalls hingerissen war ich von der Struktur des Einbands, die fast ein wenig an einen Leineneinband erinnert. Rundum gelungen.

Dieser prächtige Einband weckte in mir Erwartungen an ein Buch mit Substanz und literarischer Finesse. Diese Erwartungen wurden aber leider überhaupt nicht erfüllt und für mich passen Einband und Inhalt nicht zusammen. Der Schreibstil ist durchschnittlich, leicht lesbar, aber nicht bemerkenswert. Einige schwülstige Passagen, gewollt tiefsinnige Sprüche und Metaphern fielen mir da eher negativ als positiv auf. Ein „Augenblick, der nach Mandeln roch“; Licht, das wie Sirup durch Vorhänge sickert oder Küsse, die „der Anfang von etwas waren, das kein Ende kannte, wie ein Kreis, der sich schloss und sich dabei sowohl Zeit als auch Raum einverleibte“ begegnen den Lesern schon geballt auf den ersten Seiten und das ist mir einfach zu gekünstelt und – passend zum erwähnten Sirup – zu süßlich. Auch auf Klischees und typische Frauenromanversatzstücke wird für meinen Geschmack zu viel zurückgegriffen. Das fiel mir gerade bei der ersten Hauptperson, Mylène, auf. Ihr Verlobter ist natürlich reich und berühmt, sie hat mit einer originellen Idee unternehmerischen Erfolg, hat selbstverständlich einen überdrehten schwulen Angestellten, auch eine alte Liebe taucht passend auf und die obligatorische Mittagessen-mit-guter-Freundin-Szene darf nicht fehlen, während bei der dritten Hauptperson Holly später ein gemütliches Café eine wichtige Rolle spielt – das gab es alles schon unzählige Male. Nach dem ersten Kapitel über Mylène kam ich mir wie in einem seichten Frauenroman vor. Auch Hollys Kapitel verstärkten diesen Eindruck. Lediglich die in der DDR spielenden Kapitel der zweiten Hauptperson hatten etwas mehr Tiefe.

Nun hätte ich mich mit der mangelnden Tiefe abfinden können, aber leider ist das Erzähltempo zudem außerordentlich langsam. Allerlei irrelevante Details werden in schmerzhafter Ausführlichkeit berichtet und ich habe mich fast durchweg gelangweilt. Die Geschichte hat mich zu keinem Zeitpunkt gefesselt und die wenigen interessanten Passagen gehen völlig in zähen Nebensächlichkeiten unter. Der erzählenswerte Inhalt läßt sich auf wenigen Seiten zusammenfassen. Die Handlungsstränge finden erst sehr spät zusammen und die – etwas konstruierten – Hintergründe werden dann rasch abgearbeitet und führen zu einem zuckrigen Ende. Es gibt durchaus interessante Ansätze, aber die Umsetzung sagte mir in fast jeder Hinsicht nicht zu und das Buch möchte tiefsinniger sein als es letztlich ist. Auch die Charaktere überzeugten mich nicht. Mylène war mir zu überspannt, Holly zu farblos und Johannas Potential ging in Nebensächlichkeiten unter.

Insofern muß ich leider sagen, daß mir abgesehen von dem wundervollen Einband fast nichts an diesem Buch zugesagt hat.

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Veröffentlicht am 28.02.2024

Interessantes Sujet, distanzierte, manchmal zu langatmige Erzählweise

Elyssa, Königin von Karthago
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Mir gefiel der Gedanke eines Romans, der im alten Karthago spielt – eine angenehme Abwechslung von den üblichen Romansujets. Irene Vallejo erzählt hier den Mythos von Elyssa und Aeneas, bekannt durch Vergil, ...

Mir gefiel der Gedanke eines Romans, der im alten Karthago spielt – eine angenehme Abwechslung von den üblichen Romansujets. Irene Vallejo erzählt hier den Mythos von Elyssa und Aeneas, bekannt durch Vergil, neu. Mir war dieser Mythos vor der Lektüre des Buches nicht bekannt, das war aber beim Lesen keineswegs hinderlich, was sicher auch daran lag, daß ich mit den historischen Hintergründen hinreichend vertraut war. Notwendige Hintergrundfakten werden ausreichend eingebunden. Der Einband erfreut mit einem schlichten, klassischen Motiv und ansprechender Goldprägung.
In Vallejos Sachbuch „Papryrus“ fand ich ihren blumigen, abschweifenden Stil unpassend und brach das Buch deshalb ab. Für einen Roman wie „Elyssa“ ist der Schreibstil dagegen wesentlich besser geeignet. Vallejo erzählt poetisch, mit vielen Beschreibungen und zahlreichen geschilderten Gedankengängen. Das paßt zum antiken, mythologischen Thema, wirkt allerdings auf Dauer auch etwas steif und leblos.
Sie erzählt die Geschichte multiperspektivisch – hauptsächlich durch Elyssa und Aeneas, aber auch die junge Anna trägt ihre Sicht bei. Annas Kapitel fand ich fast durchweg langatmig und nur selten interessant. Bedauerlicherweise klingen außerdem alle Erzählstimmen gleich – wenn man multiperspektivisch erzählt, dann sollten die Leser das nicht nur am Namen über dem Kapitel merken.
Ein origineller Kniff ist dagegen, auch den Liebesgott Eros seine Sicht berichten zu lassen. Diese Vermischung von menschlicher und göttlicher Welt bringt eine frische und ansprechende Perspektive in die Geschichte. Eros‘ Gedanken und Aktionen sind unterhaltsam und bringen die Lebendigkeit hinein, welche diese oft zu gemessen daherkommende Geschichte dringend braucht.
Ein verzichtbares Element wären dagegen die Einschübe über Vergil gewesen. Eigentlich ist es eine hervorragende Idee, Autor und Werk im Zusammenspiel zu erleben. Das hätte viel Potential gehabt, doch leider nutzt die Autorin es erst ganz am Ende in einer wundervollen kurzen Szene, in der Vergil – gewissermaßen als Schemen aus der Zukunft – in Karthago erscheint. Zuvor erleben wir Vergil in drei Einschüben, welche am Rahmenhandlungssyndrom leiden: in ihnen passiert so gut wie nichts. Vallejo läßt Vergil fast ausschließlich durch die Gegend schlendern und stopft alle erdenklichen historischen Hintergrundinformationen in diese Abschnitte. Auch wenn die Informationen über den Alltag in Vergils Rom an sich interessant sind, ist diese geballte, um ihrer selbst willen geschehende Auflistung in handlungsarmen Abschnitten plump und enervierend. Vergils Kapitel sind schlichtweg Infodumping, tragen somit nichts zur Geschichte bei, sondern schwächen das Buch erheblich. Wie schade, daß diese Idee derart verschenkt wurde.
In der eigentlichen, in Karthago spielenden Geschichte sind die historischen Details dagegen gut und passend eingebunden. Die Geschichte selbst ist interessant, krankt aber an der langatmigen, getragenen Erzählweise. Weder das Geschehen noch die Charaktere konnten mich wirklich berühren, man ist als Leser nicht drin, es bleibt eine Distanz. Die Gefühle werden berichtet, man spürt sie aber nicht. Zwischendurch mußte ich mich zwingen, weiterzulesen. Normalerweise hätte ich dem Buch drei Sterne gegeben, dann aber kommt das Ende, das zeigt, wie fulminant diese Geschichte hätte sein können. Hier schwindet urplötzlich die Distanz, die Charaktere werden von mythologischen Figuren zu echten, fühlenden Menschen. Ich war gebannt, ich war berührt, ich klebte an den Seiten. Man spürt die Gefühle, man leidet unter den Missverständnissen, man fürchtet das, was geschehen wird. Hier schreibt Vallejo farbig und echt. Wäre das ganze Buch so gewesen, hätte es Perfektion erreicht. Das Sujet ist gut gewählt, Vallejo kann absolut mit Sprache umgehen, sie kennt ihr Thema bestens. So bleibt die Frage: warum springt der Funke erst am Ende über? Aber immerhin tut er es überhaupt und mein Interesse an der mythologischen Erzählung und ihren Hintergründen ist definitiv geweckt.

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