Interessante Geschichte, die stilistisch aber nicht überzeugt
Flucht durch SchwabenDie Thematik des Buches hat mich sofort angesprochen, weil diese interessante Zeit bisher nur äußerst selten literarisch behandelt wurde und ich mich freute, mehr darüber zu lernen. Auch der auf reduzierte ...
Die Thematik des Buches hat mich sofort angesprochen, weil diese interessante Zeit bisher nur äußerst selten literarisch behandelt wurde und ich mich freute, mehr darüber zu lernen. Auch der auf reduzierte Weise gelungene Einband hat mich sofort angesprochen. Dieser ist ausnehmend schön gestaltet. Sehr schön fand ich auch, daß wir vorne im Buch zwei Übersichtskarten der Gegend finden, in der die Handlung stattfindet. Direkt dahinter ist ein ausführliches Glossar, das bereits viele nützliche und interessante Hintergrundinformationen bietet. Es hat mir gefallen, daß es vorne im Buch war. Was den erhofften Lerneffekt angeht, wurden meine Erwartungen absolut erfüllt. Der Autor ist Historiker und man merkt, wie viel Wissen und Recherche in die Geschichte eingeflossen sind. Gelungen ist es auch, daß er die damals gebräuchlichen Ortsnahmen verwendet. So wird der Bodensee Bodamansee genannt, das Allgäu Albgau, etc. Dank des Glossars und der Karte ist man auch bei einem nicht geläufigen damaligen Namen gleich gut informiert, um welchen Ort es sich handelt.
Stilistisch aber hat mich das Buch nicht überzeugt. Hier war mein Hauptkritikpunkt die viel zu modernen Dialoge. Niemand erwartet authentische Sprache des 9. Jahrhunderts oder verkrampft auf "alt" getrimmte gestelzte Dialoge. Aber hier benutzen die Charaktere häufig Ausdrücke, die erst etwa seit den 1970ern/80ern Eingang in den Sprachgebrauch fanden. "Euch ist schon klar", "möchte gerade einen Spruch loswerden", "Da hatten wir echt noch mal Glück" oder "Komm zum Punkt" - das sind Dialoge, die schon in einem 1926 spielenden Buch viel zu modern wären. In einem 926 spielenden Buch sind sie absolut fehl am Platz. So kann man nicht in die Atmosphäre jener Zeit eintauchen und es war beim Lesen höchst irritierend.
Auch sonst ist der Schreibstil eher einfach gehalten, es kommt selten Atmosphäre auf, die Sprache vermittelt die Informationen, erfreut aber - abgesehen von einigen Passagen - nicht. Hinzu kommen mehrere grammatikalisch unbeholfene oder falsche Sätze, wie z.B. "Anna dreht sich voller Freude um, wird dabei jedoch derart mahnend angeschaut, sodass sie ihre Stimme dämpft." Ein Fünfzehnjähriger fängt einige Seiten lang an, plötzlich überallhin zu "schreiten". Das würde passen, wenn der Fünfzehnjährige ein Prinz o.ä. wäre, hätte aber selbst dann durch die häufigen Wiederholungen dieses Verbs in einem kurzen Abschnitt unpassend gewirkt. Zwischendurch schreitet er sogar gutgelaunt. Gutgelauntes Schreiten kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. An einer Stelle wird von der "vertrauten Stimme" eines Charakters berichtet, der bisher nur einen Satz gesagt hat und dem Erzähler vorher nicht bekannt sind. Eine Passage wird einige Seiten später fast wortgleich wiederholt. Diese Dinge kommen häufig genug vor, um das Lesevergnügen zu stören und hätten durch ein gutes Lektorat vermieden werden können. Auch Tippfehler kamen häufiger vor und mittendrin wird der Bodamannsee plötzlich mehrfach "Bodensee" genannt.
Wir erfahren die Geschichte durch Marcus, der als Ich-Erzähler fungiert und in der Gegenwartsform erzählt. Das fand ich angenehm ungewöhnlich. Durch die subjektive Perspektive und die Gegenwartsform bekommt das Geschehen eine gelungene Unmittelbarkeit. Interessant ist auch, daß Marcus über seine eigene Herkunft wenig weiß und sich im Laufe des Buches hier und da ein paar neue Informationen ergeben, die zu seinem Bild beitragen. Da ist man beim Lesen schon gespannt, was man noch über ihn erfahren wird. Leider bleibt die Charakterzeichnung aber überwiegend oberflächlich. Während sich Marcus etwas entwickelt und wir auch ein wenig über seine Gedanken erfahren, fehlt es den Charakteren allgemein an Tiefe. Marcus begegnet der jungen Anna, ist nach einem einzigen kurzen Blickaustausch schon überzeugt, ohne sie nicht leben zu können, ohne daß es dem Leser nachvollziehbar geschildert wird. Anna hat Potential, ist eine interessante Protagonistin, wird aber auch nicht wirklich entwickelt. Dann tauchen zahlreiche Nebencharaktere auf, die sich fast nur durch ihre Namen unterscheiden. Man kann sie kaum zuordnen, sie hinterlassen keine Eindruck und das führte zumindest bei mir dazu, daß sie mich auch nicht anrührten. Die zu moderne Sprache, der eher einfache Stil und die fehlende Tiefe wären für ein Jugendbuch vielleicht gut geeignet, bei einem historischen Roman können sie zumindest mich nicht überzeugen.
Im ersten Drittel sind auch die Geschehnisse ohne große Tiefe geschildert. Wir sind direkt mitten im Geschehen, was gut und interessant ist, aber dann folgen rasch zahlreiche kurze Szenen, denen wichtige Details fehlen, welche den Leser in das Geschehen eintauchen lassen, die sich oft auch ähneln. Man rast durch dieses erste Drittel, bekommt lauter kurze Einblicke. Fehlende Leerzeilen zwischen zeitlich auseinanderliegende Szenen führen auch manchmal zu Verwirrung. Dies bessert sich allerdings ab dem zweiten Drittel, dort kommen wir ein wenig zur Ruhe - es passiert zwar weiterhin viel, aber der Autor nimmt sich mehr Zeit, Szenen zu schildern und Atmosphäre zu schaffen. Wir bekommen recht vielfältige Einblicke in das Leben jener Zeit, hier hat das Lesen Spaß gemacht, davon hätte ich auch gerne noch mehr gelesen. Historische Informationen sind überwiegend gut eingebunden und auch was die Handlung betrifft, hat sich der Autor viel einfallen lassen. Langweilig wird es nicht und gut gefallen hat mir auch der Realismus - es läuft nicht immer alles glatt, es kommen keinen glücklichen Zufälle zur Hilfe.
Mit mehr Tiefe, besser ausgearbeiteten Charakteren und mehr stilistischer Sorgfalt gerade bei den Dialogen hätte es ein Buch sein können, das mich begeistert. So hat es mich leider nicht berührt.