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Veröffentlicht am 23.08.2020

Liebevoll beschriebene Touren

Rheingau/Taunus. Wanderungen für die Seele
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Das Buch enthält zwanzig Wanderungen in Taunus und Rheingau, deren Orte auf der übersichtlichen Karte vorne im Umschlag gut erkennbar sind. Die farbige, über zwei Umschlagseiten gehende Karte gibt schon ...

Das Buch enthält zwanzig Wanderungen in Taunus und Rheingau, deren Orte auf der übersichtlichen Karte vorne im Umschlag gut erkennbar sind. Die farbige, über zwei Umschlagseiten gehende Karte gibt schon einen Vorgeschmack der ausgezeichneten visuellen Gestaltung des Buches. Es finden sich zahlreiche Farbfotos, die fünf Kategorien der Touren (Auszeit-, Panorama-, Verwöhn-, Entschleunigung- und Erfrischungstouren) haben unterschiedliche farbliche Kennzeichnungen, was nicht nur übersichtlich praktisch, sondern auch ansprechend ist. Hier ist das Preis-Leistungsverhältnis absolut gelungen und ich habe mich an der Gestaltung häufig gefreut, auch das Papier ist hochwertig. Allerdings gibt es bei den Fotos auch einen kleinen, rein subjektiven, Kritikpunkt. Fast auf allen sind Familie und Freunde des Autors (nehme ich jedenfalls an) zu sehen und es gibt ziemlich viele ähnlich aussehende recht große Fotos von Leuten im Restaurant mit einem Teller Essen vor sich. Da hätte ich doch mehr Fotos der Wanderwege und der Natur den fast gleichen Fotos mit Unbekannten beim Essen vorgezogen und auch die Fotos der Gegend wären ohne die Leute im Bild für mich ansprechender gewesen. Es ist ja nun einmal kein privates Familienalbum, sondern ein Buch, in dem man sich über Wanderrouten informieren möchte. Erfreulich ist die gute Qualität der Fotos.
Die Touren sind gut ausgesucht, hier waren viele, die ich in meinen anderen Wanderführern der Gegend nicht stehen habe, so daß es sich wirklich gelohnt hat. Die Beschreibungen sind sehr persönlich, man fühlt sich, als ob man nebenher geht. Manchmal hätte ich mir neben den Wegbeschreibungen auch einige weitere Informationen darüber gewünscht, was man nun sieht, wenn man von Straße X auf Weg Y einbiegt, denn gelegentlich ist der „Wir gehen von x in Richtung y und dann nach z“-Teil doch sehr lang, ohne daß man etwas über das erfährt, wofür sich die Wanderung lohnt. Bei zwei Wanderungen habe ich nachher zwar alles über die Wegführung, aber doch recht wenig darüber erfahren, was mich auf der Strecke erwartet. Dem stehen allerdings auch viele gute Beschreibungen gegenüber. Manche Touren sind so gut beschrieben, daß ich am liebsten gleich losgezogen wäre. Sehr schön sind auch die kleinen Informationskästen neben dem Text, die weitere Informationen zu manchen Sehenswürdigkeiten und anderen Dingen geben. An anderen Stellen werden zwar viele Sehenswürdigkeiten entlang der Strecke aufgezählt, ohne daß allerdings erwähnt wird, was diese sind. Insofern hätte ich mir beim Lesen doch an mehreren Stellen mehr Information gewünscht, dafür hätte ich häufig darauf verzichten können, zu erfahren, an welcher Bank man sich hingesetzt oder wie vorsichtig man die Straße überquert hat, oder welche Gerichte und Getränke jedes Mal bestellt wurden. Das sind nette Informationen, wenn auf eine Besonderheit hingewiesen wird, aber hier war es oft allgemeiner Teil der Beschreibung, der m.E. besser für die o.g. mir fehlenden Informationen hätte genutzt werden sollen. Insgesamt haben mir die Routenbeschreibungen aber gut gefallen.
Schön fand ich, dass am Anfang jeder Tour eine Übersicht über Gesamtkilometer, Gesamthöhenmeter, Dauer und dem Vermerk, ob es ein Rundweg ist, steht. Am Ende jeder Tour gibt ebenfalls ansprechend und übersichtlich weitere Informationen hinsichtlich Wegarten, Anfahrts- und Einkehrtips u.a., sowie einer Routenkarte, auf der auch die besonderen Wegpunkte eingezeichnet sind. Ich hätte es noch vorgezogen, ein Höhenprofil jeder Wanderung dort zu finden, denn ich finde Gesamthöhenmeter wenig aussagekräftig. Gut gefallen hat mir, daß bei manchen Touren auch Alternativmöglichkeiten für eine längere oder kürzere Strecke genannt wurden.
So ist dieser Wanderführer gut durchdacht, ausgesprochen ansprechend gestaltet, bietet gute abwechslungsreiche Touren, auch wenn man sich in der Gegend schon ein wenig auskennt. Die sehr persönliche Schreibweise hat Vor- und Nachteile, was aber Geschmackssache ist. Empfehlenswert ist dieses Buch in jedem Fall.

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Veröffentlicht am 13.08.2020

Wieder anschaulich erklärt und herausragend illustriert

Chinas Geschichte im Comic - China durch seine Geschichte verstehen - Band 4
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Mit „Der Weg in die Moderne“ liegt jetzt der vierte Band der hervorragenden Reihe „Chinas Geschichte im Comic – China durch seine Geschichte verstehen“ vor und behandelt die Zeit von 1368 – 1912.

Erneut ...

Mit „Der Weg in die Moderne“ liegt jetzt der vierte Band der hervorragenden Reihe „Chinas Geschichte im Comic – China durch seine Geschichte verstehen“ vor und behandelt die Zeit von 1368 – 1912.

Erneut gelingt es Jing Liu, uns durch seine Zeichnungen viel mehr zu vermitteln, als es unzählige Worte könnten. Fast durchweg sind die Zeichnungen treffend, anschaulich, gelungen. Nur im letzten Teil („Revolution“) wirken sie fast unbeteiligt und vermitteln kaum die Gefühle und Dramatik der Situation. Ich war an vielen Stellen im Buch beeindruckt, wie ergreifend die Zeichnungen sind – hier finden sich zahllose kleine Kunstwerke, manchmal sogar mit passend humorvollen Nuancen. Oft wird auch durch klare und gut darstellende Übersichten vieles vermittelt, gerade die Vergleiche sind so bestens gelungen und zeigen Verhältnisse viel besser, als es reine Zahlen könnten.

Zu Beginn ist die Übersetzung holprig und ließ meine Erwartungen an den Text ziemlich sinken, aber das war tatsächlich nur im ersten Abschnitt der Fall. Danach gefielen mir die Texte vom Stil her besser als die in der vorherigen Aufgabe und es scheint auch wesentlich sorgfältiger Korrektur gelesen worden zu sein, denn mir fielen diesmal keine Tippfehler auf. Das ist erfreulich.

Inhaltlich war ich wieder sehr angetan, wie gut auch komplexe Sachverhalte vermittelt wurden. Getreu dem Motto „China durch seine Geschichte verstehen“ wird auch viel Wert darauf gelegt, zu erklären, warum manche Probleme entstanden oder manche Dinge geschahen. Das ist neben den herrlichen Zeichnungen ein weiterer absoluter Pluspunkt dieser Reihe. Wir erfahren nicht nur, daß etwas geschieht, sondern wir bekommen ein tieferes Verständnis dafür und erkennen auch, wie langfristig sich manche Dinge auswirkten. Allerdings fehlten an manchen Stellen durchaus relevante Informationen. Mir ist bewußt, daß es sich um einen Überblick handelt, aber es kam doch häufig vor, daß schon ein paar Worte oder höchstens zwei Sätze ausgereicht hätten, wesentliche Informationen zu geben, die für das allgemeine Verständnis wichtig wären. Das fand ich sehr schade.

In meiner Rezension zum dritten Band habe ich lobend erwähnt: „Der Inhalt ist angenehm ausgewogen zwischen geschichtlichen Ereignissen, kulturellen Entwicklungen und Alltagsleben.“ Leider kann ich das hier nicht schreiben. Über das Alltagsleben erfahren wir kaum etwas, über die kulturellen Entwicklungen viel zu wenig. Der Fokus liegt hier sehr stark auf politischen Ereignissen. Das fand ich bedauerlich und dieser Aspekt hat mir hier sehr gefehlt.

So haben wir mit „Der Weg in die Moderne“ wieder einen wundervoll gezeichneten Band über Chinas Geschichte, aus dem man auf unterhaltsame Weise eine ganze Menge lernen kann und in dem Komplexes gelungen einfach erklärt ist. Allerdings fehlen ein paar der Aspekte, die Band 3 so überragend gemacht haben. In jedem Fall ist es aber ein äußerst empfehlenswertes Buch.

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Veröffentlicht am 09.08.2020

Detailreiche, warmherzige Geschichte mit vielen Themen

Die Wunderfrauen
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"Die Wunderfrauen" begleitet vier Frauen in Starnberg durch die Jahre 1953 und 1954. Es handelt sich um Frauen mit gänzlich verschiedenen Hintergründen und Charakteren - die bodenständige, aus der Gegend ...

"Die Wunderfrauen" begleitet vier Frauen in Starnberg durch die Jahre 1953 und 1954. Es handelt sich um Frauen mit gänzlich verschiedenen Hintergründen und Charakteren - die bodenständige, aus der Gegend stammende Luise; die materiell privilegierte Annabelle, durch ihre Ehe aus Münster hierher verschlagen; Helga, die rebellische Tochter aus gutem Hause und Marie, aus Schlesien vertriebene Gutbesitzertochter. Diese Vielfalt bietet Potential für zahlreiche Themen und Gesichtspunkte, und an Themenvielfalt mangelt es im Buch wirklich nicht.

Der Gedanke, diese unterschiedlichen Protagonistinnen zu nutzen, gefiel mir und es ist auch gut gemacht, daß sich ihre Blickwinkel abwechseln. Jedes Kapitel berichtet abwechselnd aus der Sicht einer anderen Frau und so erfahren wir manches Geschehnis auch aus verschiedenen Perspektiven. Das ist größtenteils gut gemacht, so wirkt manche Situation plötzlich ganz anders, wenn wir die zweite Perspektive erfahren, neue Hintergrundinformationen bekommen. Wir lernen so auch die Protagonistinnen auf verschiedene Art kennen, was ihr Bild oft abrundet. Manchmal führt diese Erzählweise zu Wiederholungn (die sich aber im Rahmen halten) und zu leichten Irritationen hinsichtlich des Zeitablaufs. An einer Stelle ist der Zeitablauf leider nicht plausibel, aber insgesamt finde ich diese Erzählweise gelungen und angenehm ungewöhnlich.

Auch der Schreibstil liest sich gut und leicht weg. Ein paar lokale Begriffe und Dialektwörter werden eingestreut, das passt gut. Nicht ganz mein Geschmack waren Erzähltempo und Gewichtung. Das Erzähltempo ist überwiegend gemächlich und detailverliebt. Gerade den Alltagsthemen und kleinen Anekdoten wird viel Zeit gewidmet. Das ist liebevoll gemacht und natürlich reine Geschmackssache, aber es ist nicht ganz mein Fall. Seitenweise Unterhaltungen über das Kuchenbacken, Musiktitel, Kaffeeklatschtratsch und ähnlichem, die für die Handlung nicht wirklich von Bedeutung sind und diese nicht weiterführen, finde ich persönlich zu viel. Ich habe mich doch leider an vielen Stellen gelangweilt, auch wenn anzuerkennen ist, wie viele lokale und historische Details die Autorin einarbeitet. Im letzten Drittel des Buches steigt das Erzähltempo ein wenig an, was mir besser gefallen hat.
Während also diese Alltagsthemen sehr viel Raum einnehmen, kommen viele relevante Themen für meinen Geschmack wesentlich zu kurz. Lebensverändernde Entscheidungen werden plötzlich und schnell getroffen, an einer Stelle habe ich sogar zurückgeblättert, weil ich dachte, ich hätte etwas übersehen. Ernste Themen, wie die Traumata aus den Kriegs-/Nachkriegserfahrungen werden in einem Bruchteil des Raumes abgehandelt, der Küchenvorgängen gewidmet wird. Ich war tatsächlich bei allen für mich interessanten Themen enttäuscht, wie kurz diese behandelt wurden.
Auch Probleme lösen sich für mich zu leicht, zu schnell. Es muß an keiner Stelle jemand wirklich etwas tun oder bewältigen, um ein Problem zu lösen, sondern es klärt sich immer von selbst, ob nun durch eine zur richtigen Zeit kommenden Erbschaft, einer plötzlichen kompletten charakterlichen Änderung oder jemandem, der unerwartet hilft. Als eine potentielle Entscheidung zwischen zwei Männern ansteht, bestimmt einer davon sich so plakativ schlecht, daß es auch hier keinen Konflikt gibt, sondern die Entscheidung sich praktisch von selbst trifft. Es gab keinen Punkt, an dem ich mir ernstlich Sorgen um jemanden oder eine Situation machen, mitfiebern mußte und damit nahm auch meine innere Beteiligung ab.

An einer Stelle im Buch sagt ein Fernsehhändler: "Stellen Sie sich vor, der Starnberger See und seine Geschichten in so einem Fernseher drin. Wäre das nicht pfundig?" und ein wenig kam mir das Buch auch wie eine öffentlich-rechtliche Vorabendserie vor: Alltagsgeschichten, keine tiefgehenden Probleme, rasche Lösung der kleinen Probleme. Das ist an sich nichts Schlechtes und es ist auch gut gemacht, nur hatte ich mir einfach etwas mehr Realismus und Tiefe erwartet.

Die Themenvielfalt habe ich schon erwähnt, man lernt hier eine ganze Menge über die 50er Jahre und auch über Starnberg. Es steckt viel Recherche in dem Buch, das merkt man auf jeder Seite angenehm. Viele der Themen sind gelungen in die Geschichte eingewoben, einige eher um ihrer selbst willen erwähnt, was sich beim Lesen auch bemerkbar macht. Es finden sich sowohl Themen zum Alltag und der Entwicklung der 50er, wie auch welche, die die Nazizeit betreffen. Durch diese Vielfalt fehlte mir dann aber die Tiefe ein wenig. Vielleicht wäre hier weniger mehr gewesen, dann hätten gerade die von Natur aus tiefgehenderen Themen auch die ihnen angemessene Beachtung erfahren können.

Die Atmosphäre ist gut getroffen - Luises Laden ist der Dreh- und Angelpunkt, hier finden fast alle wesentlichen Entwicklungen statt und so wächst er einem ans Herz, ebenso wie einem Starnberg immer vertrauer wird. Und auch die vier Frauen lassen einen beim Lesen nicht kalt. Manche mag man mehr, manche weniger, was auch für ihre jeweiligen Partner gilt, alle entwickeln sich weiter. Es ist gut gemacht, wie diese Personen uns Stück für Stück bekannter werden. Die für mich interessanteste Person, Marie, fand leider wenig Raum, aber ihre Szenen gehören dafür für mich zu den besten den Buches. Eine davon habe ich sogar mehrfach gelesen, weil sie in ihrer Schlichtheit so eindringlich war.

So sind "Die Wunderfrauen" ein mit Hingabe geschriebenes Buch mit großer thematischer Vielfalt und einem gewissen "Zuhausewohlfühlfaktor", dessen Erzählweise und Gewichtung mir persönlich leider nicht uneingeschränkt zusagte und bei dem mir auch die Tiefe etwas fehlte, das aber sicher viele Leser mit seiner Warmherzigkeit erfreuen kann.

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Veröffentlicht am 20.07.2020

Ausgezeichnet geschriebener Blick in eine DDR-Familie

Ab jetzt ist Ruhe
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„Ab jetzt ist Ruhe“ hat mich von der ersten Seite in seinen Bann gezogen, was an dem so lebendigen und gelungenen Schreibstil liegt. Ich hatte beim Lesen fast das Gefühl, bei Braschs im Wohnzimmer zu sitzen. ...

„Ab jetzt ist Ruhe“ hat mich von der ersten Seite in seinen Bann gezogen, was an dem so lebendigen und gelungenen Schreibstil liegt. Ich hatte beim Lesen fast das Gefühl, bei Braschs im Wohnzimmer zu sitzen. Marion Brasch erweckt ihre Familiengeschichte, ihre Eltern und Geschwister wirklich zum Leben. Ich muß gestehen, daß ich vor dem Buch noch nie von der Familie gehört habe, so daß ich recht unbedarft an die Geschichte heranging.
Der erste Teil des Buches findet während Marion Braschs Kindheit statt und der Familienverband spielt hier eine sehr starke Rolle. Ich fand gerade die Geschichten der Eltern faszinierend. Beide wurden während der Nazizeit von ihren jüdischen Eltern nach England geschickt, der Vater wurde im Laufe der Jahre zum überzeugten Kommunisten und ging nach dem Krieg in die DDR; seine Frau folgte ihm mit recht wenig Begeisterung und fühlte sich in dem bedrückenden, einengenden Land nie wohl. Diese Dynamik zwischen den Eltern und auch das Festhalten des Vaters an der herrschenden Ideologie, obwohl er deren dunkle Seiten immer wieder am eigenen Leib erlebt, sind ausgesprochen interessant. Die Lebenswege der Eltern sind so ungewöhnlich, so vielseitig und in vielem auch sehr tragisch. Auch kurze Rückblicke auf die Großeltern lesen sich spannend – gelebte Zeitgeschichte!

Ein Teil der Tragik ist das Verhältnis zu den drei Söhnen, Marion Braschs Brüdern, die sich alle gegen das System DDR wenden, obwohl sie das Land DDR durchaus lieben. Wenn der Vater den eigenen Sohn anzeigt und das Verhältnis des Vaters zu seinen Söhnen einem ständigen Auf und Ab unterliegt, weil er seine Söhne zwar liebt, aber diese Gefühle seiner Ideologie unterordnet, dann ist das tief berührend, oft schmerzhaft, gerade auch, wenn man dann den Lebensweg dieser drei Söhne betrachtet, die alle drei Alkohol- und teilweise Drogenmissbrauch betrieben und früh starben. Wir erfahren diese Konflikte durch Marion Braschs Augen, die all dies anfänglich als Kind wahrnimmt und uns deshalb auch entsprechend vage und oft unvollständig berichtet, manches klingt fast harmlos, weil sie als Kind die ganze Wucht nicht erfassen konnte. Das ist einerseits eine authentische Herangehensweise, andererseits fehlten mir dadurch einige Aspekte, war mir manches zu vage. Doch gelingt es der Autorin durchaus, uns tief in die Familiendynamik hineinzuführen und uns den Schmerz, das Unausgesprochene, den Konflikt zwischen Politik und familiärer Zuneigung spüren zu lassen. Das habe ich selten so gut gelesen. Die innerfamiliären Momente sind die stärksten Stellen dieses Buches.

Der Schreibstil ist, wie erwähnt, ansprechend, wechselt gekonnt zwischen Tragik und Humor; sogar in eigentlich herzzereißenden Situationen lockert eine trockene Bemerkung die Szene oft auf. Diese Familie wirkt eben so lebendig, weil wir sie in all ihren Facetten erleben. Das Buch liest sich leicht, fast wie im Plauderton, so, wie Marion Brasch ihre Geschichte vielleicht an einem Abend einigen Freunden erzählen würde. Ein wenig irritierend fand ich ihre Angewohnheit, Namen zu vermeiden. Das klappt bei den Brüdern (die hier nur als jüngster, mittlerer und ältester Bruder auftreten) gut, wirkt sonst aber oft verkrampft. So spielt die Ausbürgerung Biermanns eine durchaus wichtige Rolle, er wird aber beharrlich als „Sänger mit dem Schnurrbart“ bezeichnet, wie auch sonst Personen oft nur als „Gitarrist mit der großen Nase“, „Schauspielerin mit der kindlichen Stimme“ etc. bezeichnet werden. Auch Filme werden nie beim Namen genannt und das führt dort zu etwas verkrampften Formulierungen, z.B. wenn Katharina Thalbach davon berichtet, daß sie eine Rolle in „Die Blechtrommel“ gespielt hat, und sich das im Buch dann so liest: „Die Freundin meines Bruder (…) erzählte (…) mir von dem Film, in dem sie eine Hauptrolle gespielt hatte und der jetzt einen Preis nach dem anderen gewann. Der Preis erzählt die Geschichte (…). Der Junge hieß Oskar, genauso wie der Preis, für den der Film nominiert werden sollte.“ Ich weiß nicht, ob Marion Brasch um jeden Preis Namedropping vermeiden wollte oder es ihr darum ging, ihre kindliche Sichtweise zu schildern (obwohl sie bei vielen diesen Szenen schon längt erwachsen ist) oder ob es einen anderen Grund hatte, aber mir gingen diese Vermeidung von Namen und die damit einhergehenden umständlichen Formulierungen ein wenig auf die Nerven.

Während die erste Hälfte des Buches mich absolut gebannt hat, gab es in der zweiten Hälfte doch mehrere für mich langatmige Passagen. Die Autorin will auch ihre Geschichte erzählen, das ist verständlich, aber ihre Geschichte ist nicht sonderlich interessant, da sie sich nicht viel von denen anderer junger Leute unterscheidet. Erste Wohnung, Trampurlaube, Parties, Liebeleien – das wirkt im Vergleich zur faszinierenden Familiendynamik blass, oberflächlich und eben auch langatmig, insbesondere weil sie solche banalen Szenen minutiös berichtet. Auch ihre diversen Männergeschichten werden recht uninspiriert heruntererzählt, die jeweiligen Männer bleiben konturlos und tragen überhaupt nichts zur Geschichte bei. Da hätte ich mir viel mehr Raum für die Schilderung der Familienverhältnisse gewünscht, die an der Stelle ein wenig zurücktreten. Immer, wenn die Autorin zu Vater und Brüdern zurückkehrt, gewinnt das Buch die alte Eindringlichkeit zurück.

Bei einer Fokussierung auf diese Thematik wäre das Buch für mich ein 5-Sterne-Buch mit Sternchen geworden, denn die Autorin hat die ungemein interessante Thematik gekonnt umgesetzt. Aber auch so war es trotz einiger Längen eines der erfreulichsten Bücher, die ich dieses Jahr gelesen habe und das mir in herrlichem Schreibstil viele Informationen über das Leben einer solchen Familie, die Generations- und Ideologiekonflikte in der DDR gegeben hat.

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Veröffentlicht am 09.07.2020

Durch falsche Gewichtung leider belanglos

Die Welt war so groß
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Das Buch beginnt recht eingängig mit vier ehemaligen Collegestudentinnen, die nach 20 Jahren zum Klassentreffen nach Radcliffe kommen. Es gibt einige Andeutungen, was sich im Leben der vier Frauen seit ...

Das Buch beginnt recht eingängig mit vier ehemaligen Collegestudentinnen, die nach 20 Jahren zum Klassentreffen nach Radcliffe kommen. Es gibt einige Andeutungen, was sich im Leben der vier Frauen seit ihrem Colleabschluß getan hat, und obwohl sie selbst noch etwas blaß bleiben, wird man neugierig.

Schon nach wenigen Seiten führt uns die Autorin zurück ins Jahr 1957, als diese vier jungen Frauen ihre Collegzeit beginnen. Das liest sich unterhaltsam, gerade auch die Beschreibungen des Wohnheim- und Soziallebens jener Zeit war interessant. Einige junge Männer aus Harvard tauchen im Leben unserer vier Protagonistinnen auf und dann wird es leider etwas langweilig. Fast die Hälfte des Buches über lesen wir detailliert, wer mit wem ausging, wo man hinfuhr, was wer trank - es gibt unwahrscheinlich viele Einzelheiten, die schnell anfangen, sich zu ähneln, als eine Verabredung der anderen folgt. Während die alltäglichen Details uns ausführlich und wiederholend geschildert werden, bleibt die Charakterentwicklung zurück. Das Buch verwendet sehr wenige Dialoge, das Geschehen wird meistens einfach erzählt, und das "einfach" bezieht sich auch auf den Schreibstil. Dieser liest sich leicht weg, hinterläßt überhaupt keinen Eindruck. Er ist nicht schlecht, aber eben auch nicht gut. Die Charaktere bleiben mir größtenteils fremd, was meiner Meinung nach auch daran liegt, daß es zu wenig Dialoge gab. Man erlebt sie nicht, man liest einen Bericht über sie. Auch viele Motivationen werden nicht hinreichend dargelegt. Ich habe mich oft gefragt: "Um warum macht er/sie das nun?"

Nach dem Collegeabschluß führt uns die Autorin vergleichsweise rasch durch die folgenden 20 Jahre. Eine der Protagonistinnen bekommt so wenig Raum und Handlung, daß ich ihre gesamte Geschichte etwas unbefriedigend fand. Im Leben der drei anderen Protagonistinnen und ihrer Ehepartner gibt es durchaus interessante Themen und diese sind auch erfreulich vielfältig und einfallsreich. Leider gehen auch sie sehr in der Schilderung alltäglicher Details unter. Ich habe wirklich nicht verstanden, warum die interessanten Themen, die so viel Potential hatten, so stiefmütterlich behandelt wurden, während jedes irrelevante Detail endlos ausgewalzt wird. Hier hat die Gewichtung überhaupt nicht gestimmt und dadurch ist die Geschichte dann leider auch sehr belanglos, obwohl sie viel Tiefe hätte haben können, wenn man nur anders gewichtet hätte. Im Epilog treffen diese drei Protagonistinnen mal eben nebenei wichtige Lebensentscheidungen und keine braucht mehr als eine halbe Seite dafür. Wieder eine Chance verschenkt.

Bis zur letzten Seite berührten mich die Charaktere so gut wie nicht und auch hier merkte ich das verschenkte Potential, denn einige von ihnen hätten - anders geschildert - sehr mitreißend sein können.

So ist "Die Welt war so groß" leider nur eine leicht lesbare, etwas zäh dahinfließende Geschichte, die ihr Potential fast völlig brach liegen läßt und somit die Möglichkeit versäumt hat, ein wirklich gutes Buch zu sein.

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