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Veröffentlicht am 06.11.2019

Toll ausgedacht, für meinen Geschmack zu langatmig erzählt

Der Lehrmeister (Faustus-Serie 2)
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Als große Verehrerin Goethes und seines Fausts lese ich immer gerne andere Faustadaptionen. Da mir der Schreibstil von Oliver Pötzsch im ersten "Henkerstochter"-Band ausnehmend gut gefallen hat, war ich ...

Als große Verehrerin Goethes und seines Fausts lese ich immer gerne andere Faustadaptionen. Da mir der Schreibstil von Oliver Pötzsch im ersten "Henkerstochter"-Band ausnehmend gut gefallen hat, war ich also sehr neugierig, wie er das Thema umsetzt.

Den ersten Band dieser Faust-Dilogie habe ich nicht gelesen, was aber dem Verständnis keinerlei Abbruch tat. Wenn Informationen aus dem ersten Band relevant waren, wurden sie hinreichend (wenn auch oft wiederholend - was "damals in Nürnberg" geschah, erfahren wir um die zwanzigmal) erläutert. Die Leser der zweiten Bandes so gut in die Geschichte einzuführen gelingt nicht jedem Autor und das hat mir gefallen.

Es sind als kleine Goethe-Hommage immer wieder Zitate aus Faust I und II eingestreut, die in einem Anhang auch noch einmal aufgelistet werden. Sonst fand ich - abgesehen von gewissen Grundstrukturen - weder den Goethischen noch den historischen Faust sehr in der Geschichte wieder. Das äußere Rahmenwerk paßt, aber dem Wesen Fausts fehlte mir meistens das Faustische. Er sagt auf Seite 605: "Ich bin der alte Johann, nicht der kluge Faustus." Das ist zwar nicht ernst gemeint, aber es ist doch ein wenig der Eindruck, den ich auch immer wieder hatte. Das war aber, sobald ich mich geistig von meiner Faust-Vorstellung gelöst habe, nicht störend oder unerfreulich, denn Oliver Pötzsch präsentiert hier eine ganz ausgefeilte Geschichte, die wahre Geschichte mit bekannten und unbekannten Theorien vermischt, historische und fiktive Personen aufeinander treffen läßt und dies alles zu einem im positiven Sinne komplexen Ganzen werden läßt.

Die historische Recherche, die in dieses Buch geflossen ist, läßt sich wohl nicht ansatzweise ausmalen. Hier steckt Arbeit und Herzblut drin und das merkt man. Soweit ich das beurteilen kann, ist die Recherche ausgezeichnet, ich fand mir Bekanntes gut beschrieben und habe Neues erfahren und teilweise auch nach dem Lesen weitere Informationen dazu gesucht. Die historischen Charaktere passen sich gut in diese fiktive Geschichte ein. Überhaupt ist die Charakterentwicklung im Buch durchweg gelungen. Die Charaktere sind vielschichtig, manche führen uns erfolgreich hinters Licht, anderer bleiben zwiespältig und es gibt manche Überraschung. Sogar absolute Nebenfiguren sind sorgfältig ausgearbeitet, selbst wenn sie nur in einer Szene auftauchen.

Die Beschreibungen sind detailreich, was einerseits dazu beiträgt, daß wir viel über diverse Orte und Lebensumstände erfahren. Andererseits führt diese Detailfreude auch oft zu Zähigkeit. Die Langatmigkeit des Buches hat mir das Lesevergnügen leider ganz erheblich beeinträchtigt. Es geht noch recht flott los, dann aber fließt die Geschichte wie ein schlammiger breiter Fluß oft träge dahin. Wir erfahren Grübeleien (gerne auch mehrfach), theoretische Diskussionen, ausufernde Beschreibungen oder Dialoge, die die Handlung nicht weiterbringen. Hatte ich am Anfang noch das "Oh, noch ein Kapitel, ich muß wissen, wie es weitergeht"-Gefühl, habe ich später oft mitten im Kapitel mit dem Lesen aufgehört. Richtig gebannt war ich nur selten und während mir sonst beim Lesen die Seiten immer zu schnell dahinschwinden, dachte ich hier oft "Oh, erst auf Seite x." Der erste Showdown nach etwa 2/3 des Buches brachte endlich Tempo in die Geschichte, wird aber leider dann von einem besonders zähen letzten Drittel abgelöst, in dem ich anfing, Seiten zu überfliegen. Am Ende folgt der finale Showdown, der mir teilweise zu überzogen, aber auch zu langatmig war. Insofern muß ich zugeben, daß ich trotz ausgefeilter Geschichte und toller Charaktere froh war, das Buch zu Ende gelesen zu haben.

Ein weiterer Punkt, der mich richtiggehend geärgert hat, waren die zahlreichen Wiederholungen, die ich bei einem so versierten Autor und renommierten Verlag in dieser Fülle nicht erwartet hätte. Einige Beispiele:
1. Seite 186: "Die Stadt heißt Amboise." - Seite 198: "Die Stadt, in der Leonardo wohnte, hieß Amboise." - Seite 225: "...und das war Leonardo da Vinci, der in Amboise Wohnte."
2. Die Thematik der Kaiserwahl angesichts des Todes Kaiser Maximilians, die beiden Hauptkontrahenten und alles, was damit zusammenhängt, wird uns immer und immer wieder erklärt (sogar im Nachwort erfahren wir es erneut), oft fast gleichlautend.
3. Daß und wen Karl und Greta lieben, erfahren wir auch immer und immer wieder. Daß jemand, der die Charaktere zuerst enttäuscht, ihnen dann geholfen hat, wird uns auf wenigen Seiten vier oder fünfmal mitgeteilt, obwohl wir ohnehin dabei waren. Auch sonst wird uns das Geschehen oft noch einmal zusammengefaßt, manchmal sogar innerhalb von wenigen Seiten aus verschiedenen Gesichtspunkten. Das fiel mir insbesondere auf Seite 618 und 621 auf, als wir uns bekanntes Geschehen noch zweimal zusammengefaßt finden.
4. Das letzte Drittel des Buches findet zwei Jahre nach den vorherigen Geschehnissen statt. Daran erinnern uns die Charaktere dann auch unablässig. Dies sind nicht einmal alle Stellen. Seite 538: "der zwei Jahre lang gedauert hatte!", Seite 546: "Zwei Jahre lang war...", Seite 556: "In den letzten zwei Jahren...", "...das vor ungefähr zwei Jahren...", Seite 557: "Außerdem sind mittlerweile zwei Jahre vergangen.", S. 566: "In den letzten zwei Jahren war.", S. 589: "Zwei Jahre lang hatte er sie nicht gesehen", S. 621: "Über zwei Jahre war es nun her..." usw.

Ein wenig wiederholend fand ich auch die häufig mehr oder weniger unerwartet hervorbrechenden Feinde. Es gibt viele ähnliche Szenen von Kämpfen mit Banditen, Soldaten des Königs, Soldaten des Papstes, dunklen Wesen. Auch der heimtückische Überfall mit Bewußtloswürgung oder Betäubung eines oder mehrerer Protagonisten, der/die dann als Gefangene wieder zu Bewußtsein kommen, wurde mit drei-/viermal für meinen Geschmack zu oft genutzt.

Schlußfolgerungen über manche Charakterentwicklungen werden uns nicht selbst überlassen, sondern erklärt, obwohl sie aus der Handlung verständlich sind. Auch einfache Schlußfolgerungen werden uns erklärt, so zB wird an einer Stelle Lärmempfindlichkeit erwähnt, worauhin ein Protagonist auf die Idee kommt, einen Heidenlärm zu verursachen. Das ist einfach zu verstehen, liegt zeitlich auch nah beisammen, und trotzdem wird uns noch erklärt: "Der Gedanke war ihm gekommen, als die Lärmempfindlichkeit erwähnt wurde" (sinngemäß zitiert).

All dieses "Füllmaterial" fand ich unnötig und auch störend, es trug zudem auch zur o.e. Langatmigkeit bei. So ist die Geschichte zwar definitiv sorgfältig und intelligent ausgedacht, es gibt viele überraschende Wendungen. Es ist beeindruckend, wie nach und nach die einzelnen Puzzleteile zusammenfinden, wie geschickt kleine Hinweise eingestreut wurden, wie die vielen offenen Fragen alle aufgelöst wurden. Erfreulich finde ich auch, daß den Progatonisten keine bequemen Zufälle zur Hilfe kamen. Man merkt auf jeder Seite, wie viel Hingabe in das Buch geflossen ist, wie sorgfältig hier gearbeitet und konzipiert wurde. Ich hätte dieses so intelligent konzipiert Werk auch sehr gerne genossen, nur waren mir die bereits dargelegten Störfaktoren zu zahlreich und zu erheblich und haben mir die Lesefreude zu sehr beeinträchtigt.

Veröffentlicht am 31.10.2019

Belanglos vor sich hinplätscherndes Sittengemälde

Agnes Grey
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"Agnes Grey" beruht auf eigenen Erfahrungen der Autorin Anne Bronte, die fünf Jahre als Erzieherin arbeitete. Das Buch ist, wie auch der von ihrer Schwester geschriebene berühmte Roman "Jane Eyre", in ...

"Agnes Grey" beruht auf eigenen Erfahrungen der Autorin Anne Bronte, die fünf Jahre als Erzieherin arbeitete. Das Buch ist, wie auch der von ihrer Schwester geschriebene berühmte Roman "Jane Eyre", in der Ich-Form gehalten, und auch hier geht es zu einem Großteil um eine junge Frau, die ihren Lebensunterhalt als Erzieherin verdient. Allerdings kann "Agnes Grey" mit "Jane Eyre" keinesfalls mithalten.

Die Geschichte plätschert dahin, der Schreibstil ist nicht bemerkenswert, liest sich recht einfach weg. Auch das Geschehen kommt ohne Überraschungen aus - nach etwa einem Drittel weiß man, wie es enden wird. Der Weg dahin ist für den Leser manchmal ein wenig mühselig, denn abgesehen vom bereits erwähnten Dahinplätschern mit zahlreichen sich ähnelnden Szenen gibt es immer wieder moralisierende oder theoretische Einschübe, die sich nicht interessant lesen. Agnes Grey betrachtet die Welt um sich herum ziemlich moralinsauer und während sie - zu Recht - tadelt, daß sie als Erzieherin wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt wird, blickt sie auf die wohlhabenden Menschen ebenfalls manchmal herab.

Die zwei Familien, bei denen sie arbeitet, sind ähnlich geschildert: die Kinder/Jugendlichen selbstsüchtig, unerziehbar, gedankenlos. Gerade für die kleineren Kinder der ersten Familie scheint der Ausdruck "Kackbratzen" geradezu erfunden worden zu sein. Die detailliert geschilderten geplanten und durchgeführten Tierquälereien dieser Kinder mußte ich überschlagen. In der zweiten Familie sind die jugendlichen Töchter ein klein wenig differenzierter geschildert, aber die Grundsituation in beiden Familien ähnelt sich dahingehend, daß die duldsame Agnes ungerecht behandelt wird, die Kinder/Jugendlichen machen, was sie wollen und die Mütter ihre Kinder für das strahlende Gold der Erde halten. Das brachte immerhin die interessante Erkenntnis, daß es auch schon im früheren 19. Jahrhundert die damalige Version der heutigen Latte-Macchiato-Mütter gab.

Unterhaltsam zu lesen ist die Beschreibung von Agnes' Elternhaus, der ungewöhnlichen Beziehung der Eltern, der formidablen Mutter, die mir von allen Charakteren am besten gefallen hat. Auch einige der Entwicklungen um Agnes' älteste Schülerin, die heiratet, um Titel und Anwesen zu erlangen, unterstützt von ihrer Mutter, und dann natürlich feststellt, daß Geld und Prunk nicht alles ist, bringt ein wenig Würze in die Geschichte.

Letztlich aber ist die Geschichte blaß, fesselt nicht, bleibt nicht sonderlich im Gedächtnis. Als etwas belangloses Sittengemälde Englands in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts taugt es allemal.

Veröffentlicht am 28.10.2019

Informative, teils etwas geschwätzige Kulturreise

Die Verfeinerung der Deutschen
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In "Die Verfeinerung der Deutschen" legt uns Erwin Seitz laut Unterteitel "Eine andere Kulturgeschichte" vor. Dieses Versprechen kann das Buch durchaus einhalten. Auf über 750 Seiten widmet sich der Autor ...

In "Die Verfeinerung der Deutschen" legt uns Erwin Seitz laut Unterteitel "Eine andere Kulturgeschichte" vor. Dieses Versprechen kann das Buch durchaus einhalten. Auf über 750 Seiten widmet sich der Autor der Entwicklung der Lebensart in Deutschland und das von der Germanen bis in die heutige Zeit. Seinen Hauptfokus legt er auf das Kulinarische, aber auch Kunst, allgemeine Lebensart, sich ändernde Meinungen finden hier ihren Platz.

Die Ausstattung des Buches gefällt mir außerordentlich. Es ist gebunden, mit einem dezent-ansprechenden Titelbild. Das Papier fühlt sich angenehm hochwertig an, mehrere schwarz-weiß Abbildungen in guter Qualität finden sich im Buch, zwei Bereiche mit ebenfalls qualitativ guten Farbabbildungen vervollständigen die ansprechende Gestaltung.

Der Text liest sich überwiegend gut, manchmal etwas zu langatmig. Insbesondere die ersten beiden Kapitel (die immerhin 86 Seiten einnehmen), die eine Einführung und einen Gesamtüberblick geben, sind oft zäh und ein wenig geschwätzig. Als ich diese las, bereute ich meine Entscheidung für das Buch ein wenig, weil es nicht zum Punkt kam und nicht die Informationen bot, die ich erwartete. Solche geschwätzigen Passagen ohne wirklichen Inhalt gab es im Laufe des Buches auch leider immer wieder. Da werden dann thematisch nicht relevante Gedankengänge vor sich hingeplaudert oder schwärmerische Spaziergänge durch Venedig beschrieben - alles etwas zu wortreich, zur substanzlos. Auch die längeren philosophischen Exkurse waren nicht ganz mein Fall.

Größtenteils aber bietet "Die Verfeinerung der Deutschen" eine unterhaltsame Mischung aus Informativem und Unterhaltsamem. Der Autor stellt uns einige kulinarische Besonderheiten vor, wie den Moselwein, das Bamberger Rauchbier, berichtet von deren Geschichte, stellt heutige Menschen vor, die diese Traditionen pflegen. Das ist oft sehr interessant, auch wenn ich die Verzückung über die barbarisch gewonnene Gänsestopfleber in einem Buch über Verfeinerung ziemlich fehl am Platze finde. Manchmal, gerade im letzten Kapitel über das heutige Berlin, verliert sich der Autor aber auch zu sehr in seinen Restaurantbeschreibungen. Ich muß nicht unbedingt en detail wissen, wie jedes Feinschmeckerrestaurant in Deutschland eingerichtet ist, welche Farbe die Sitzbezüge haben, und auch Auflistungen von Speisekarteninhalten sind nicht unbedingt informativ, wenn man nicht ein Restaurant in der beschriebenen Stadt sucht.

Der geschichtliche Teil ist gut lesbar und schafft es, viele Informationen angenehm zu präsentieren. Wir bekommen einen geschichtlichen Überblick, der dann mit den kulturellen, lebensartlichen Entwicklungen verbunden wird. Das klappt hervorragend, man kann viele Entwicklungen durch den geschichtlichen Zusammenhang besser einordnen, erfährt unterhaltsame Details, die in geschichtlich orientierten Büchern oft nicht enthalten sind. Auf die ausführlichen Listen von Lebensmitteln, die in einer bestimmten Epoche gegessen wurden, hätte ich verzichten könnten, denn wer liest schon eine halbe Seite Lebensmittelauflistungen? Manchmal hätte dem Autor ein wenig Neutralität wohl getan, gerade im Kapitel über Preußen mußte ich öfter den Kopf schütteln, weil der Autor keine Gelegenheit ausläßt, zu urteilen und tendenziös zu schreiben. Auch bei Punkten, bei denen ich inhaltlich zustimmen würde, fand ich den teils polemischen Schreibstil unpassend. Seine persönliche Abneigung gegen Christopher Clarks Buch über Preußen sei ihm unbenommen, muß aber nicht bei jeder Gelegenheit erwähnt werden. Einem Sachbuch steht Sachlichkeit wesentlich besser.

Im Großen und Ganzen enthält "Die Verfeinerung der Deutschen" aber viel Lesenswertes, viel unterhaltsam Dargebrachtes, viel Informatives. Mit hat diese Reise durch die deutsche Kulturgeschichte trotz einiger Wermutstropfen Spaß gemacht und ich habe auf vergnügliche Weise Neues gelernt und Bekanntes neu gelesen.

Veröffentlicht am 27.10.2019

Lebhafte, berührende Geschichte im gewöhnungsbedürftigen Schreibstil

Der Besuch des Leibarztes
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"Der Besuch des Leibarztes" erzählt die wahre Geschichte des Johann Friedrich Struensee, der Ende des 18. Jahrhundert bemerkenswerte Reformen in Dänemark einführte, letztlich aber den Machtspielen am dänischen ...

"Der Besuch des Leibarztes" erzählt die wahre Geschichte des Johann Friedrich Struensee, der Ende des 18. Jahrhundert bemerkenswerte Reformen in Dänemark einführte, letztlich aber den Machtspielen am dänischen Königshof zum Opfer fiel. Als ich zum ersten Mal über diese tragischen Geschehnisse las, war ich geradezu erschrocken über die Zustände am Königshof, die Skrupellosigkeit einiger der Agierenden und die Ereignisse, die sich als Material für einen opulenten Roman geradezu anbieten. So war ich auf die Umsetzung dieses Romans natürlich sehr gespannt.

Diese Ausgabe ist Teil der Fischer Taschenbibliothek, die ich aufgrund ihrer ansprechenden Gestaltung generell sehr erfreulich finde. Auch "Der Besuch des Leibarztes" ist gelungen - im ungewöhnlich kleinen Buchformat der Reihe, mit einem hochwertigen festen Einband und einem dezenten Titelbild. Haptisch angenehmes Papier und ein Lesebändchen vervollständigen die schöne Ausgabe.

Der Schreibstil Per Olov Enquists ist gewöhnungsbedürftig, einige Aspekte fand ich nicht sehr angenehm. Er beginnt das Buch mit der Phase zehn Jahre nach Struensees Hinrichtung, beschreibt uns Personen und Geschehnisse lebendig, greift hierzu auch auch zeitgenössische Quellen zurück. Das geschieht im Buch häufig - inwiefern diese Quellen authentisch sind, läßt sich mangels Quellenangaben für mich nicht nachvollziehen, ich gehe aber davon aus, daß sie authentisch sind, und letztlich ist es ein Roman, kein Sachbuch. Sie komplementieren den Romantext sehr gut, wenn sie auch teilweise zu ausführlich wiedergegeben werden. Diese lebendige Schilderung am Buchanfang wird dann allerdings von recht langatmigen theoretischen Exkursen und Überlegungen abgelöst. Auch dies zieht sich durch das Buch. Einerseits sind wir durch farbige Erzählungen und gut dargestellte Charaktere ganz nah am Geschehen dabei, ich fühlte mich beim Lesen oft regelrecht in die Schauplätze hineinversetzt. Andererseits ergeht sich der Autor nur zu gerne in lange theoretische Passagen, die oft langweilig sind und das Geschehen zäh unterbrechen.

Nach jenem ersten Teil geht der Autor in der Geschichte zurück und berichtet ab dann chronologisch von der Kindheit des dänischen Königs Christian bis zur Hinrichtung Struensees. Es gelingt hier sehr gut, Christian, der geisteskrank war und so zur Marionette der Machtgierigen am Hofe wurde, eindringlich und echt darzustellen. Wir erleben einen Jungen, später einen jungen Mann, der an der erbarmungslosen Erziehung bei Hofe unbeschreiblich leidet, der so gerne alles richtig machen möchte, aber das Rüstzeug dafür nicht hat und der trotz seiner Krankheit - die allen wohl bekannt ist - in die Rolle des von Gott gesandten absoluten Herrschers gesteckt wird. Sein Leid wird beeindruckend vermittelt und wirft ein klares Licht darauf, wie all diese Ereignisse möglich waren. Auch seine Frau Caroline Mathilde, eine englische Prinzessin, die Opfer der machtpolitischen Heiratsentscheidungen europäischer Königshäuser wird, wird von Enquist zum Leben erweckt. Ihre Ängste, ihre Einsamkeit und Sehnsüchte, stellen sich deutlich dar. Die seltsame Beziehung dieser beiden gezwungenen Eheleute ist ebenfalls sensibel dargestellt. Es ist meines Erachtens die größte Stärke dieses Buches, uns diese historischen Persönlichkeiten so menschlich nahezubringen. Struensee schließlich, der zum verhängsnisvollen Dritten in dieser unglücklichen Konstellation werden wird, gewinnt ebenfalls farbige Kontur, die - soweit ich das ermessen kann - mit der historischen Person gut übereinstimmt.

Während also Charakterzeichnung und Atmosphäre stilistisch gelungen sind, stören nicht nur die oben erwähnten theoretischen Exkurse das Lesevergnügen. Auch die zahlreichen Wiederholungen haben mir gar nicht zugsagt. Sie sind als Stilelement beabsichtigt, das merkt man, aber sie sind kein erfreuliches Element, sind überflüssig, anstrengend. Auch die Faszination des Autors mit dem männlichen Unterleib nimmt manchmal überhand. Inwieweit es zur Geschichte beiträgt, wenn man bei manchen Szenen genauestens über jede Bewegung des männlichen Geschlechtsorgans informiert wird und die Notwendigkeit der ständigen Auslebung des Geschlechtstriebs des Königsvaters, des Fortpflanzungsaktes des Königs ausführlich und immer wieder besprochen und erwähnt wird, bleibt dahingestellt. Ich fand es so detailliert eher ermüdend und unnötig.

So war ich beim Lesen hin- und hergerissen. Einige Szenen sind so tiefgehend berührend, daß ich ganz begeistert war. Viele Szenen sind so zäh und überflüssig, daß ich nur den Kopf schütteln konnte. Insgesamt ist der Schreibstil nicht unbedingt mein Fall. Allerdings ist die Geschichte um Struensee, Christian und Caroline so lebhaft geschildert, wird uns so nahegebracht, ist historisches Geschehen so farbig echt geworden, daß ich froh bin, das Buch gelesen zu haben.

Veröffentlicht am 27.10.2019

Teils sehr berührend, teils verzettelt und stereotyp

Altes Land
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Vom ersten Teil dieses Buches war ich begeistert. Der Schreibstil ist ansprechend und bildhaft, dabei trotzdem nordisch zurückhaltend. Wir begegnen gleich zu Beginn dem Mädchen Vera und ihrer Mutter, die ...

Vom ersten Teil dieses Buches war ich begeistert. Der Schreibstil ist ansprechend und bildhaft, dabei trotzdem nordisch zurückhaltend. Wir begegnen gleich zu Beginn dem Mädchen Vera und ihrer Mutter, die als Flüchtlinge aus Ostpreußen im Alten Land ein Zimmer auf einem Bauernhof zugewiesen bekommen und - wie leider die Flüchtlinge jener Zeit überhaupt - feindselig empfangen werden. "Flüchtlingspack" sind diese Menschen, die so Schreckliches erlebt haben. Am Ende des Buches wird dies so schlicht und doch so eindringlich geschildert - die Mütter, die nach einer solchen Flucht keine richtigen Mütter mehr sein konnten, die sprachlos wurden, die das Erlebte in sich vergruben. Die Kinder, die bei einem vereisten Fluß nicht mehr ans Eislaufen denken, sondern an Menschen und Pferde, die auf der Flucht von Tieffliegern beschossen werden, erfrieren, im eisigen Meer qualvoll ertrinken. Dieser Teil der Geschichte wird uns ganz hervorragend geschildert und hat in heutiger Zeit, in der wieder Flüchtlinge diffamiert und teils dämonisiert werden, erschreckende Aktualität. Wie sehr das Trauma der Flucht aus Ostpreußen fortwirkt, über Jahrzehnte und Generationen hinweg, das zeigt uns "Altes Land", und als Enkelin einer aus Ostpreußen geflüchteten Großmutter berührte mich dieses Thema auch ganz persönlich. Die Eindringlichkeit geschieht gänzlich ohne Pathos, ebenso wie die Schilderung des Kriegstraumas des aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Karl, dessen Leiden bis zum Ende seines langen Lebens immer wieder in die Geschichte einflochten werden.

Vera und Karl sind aber nur zwei der recht vielen Personen, denen wir in "Altes Land" begegnen, ihre Traumata nur ein Fokus dieser Geschichte, die viele Themen aufgreift und sie deshalb manchmal nicht ganz vollständig erzählt. Einerseits ist das Buch bemerkenswert konzipiert - die Autorin wechselt geschickt zwischen verschiedenen Zeitebenen und zahlreichen Charakteren, schildert diverse Perspektiven, und dies auf weniger als 300 Seiten. Dadurch kommt aber eben auch mancher Charakter, manche Geschichte zu kurz.

Laut Klappentext sind Vera und Anne, "zwei Einzelgängerinnen", die Hauptpersonen. Sie bilden auch den roten Faden, gehen aber manchmal in der Vielzahl der Personen unter. Gerade Anne ist meines Erachtens keine gut gewählte Protagonistin. Fast eigenschaftslos selbstmitleidet sie sich durch das Buch. Anne sagt wenig, tut wenig, ist eine Art Schatten im Hintergrund der Geschichte, mit permanent mißmutig zusammengepressten Lippen - so erschien sie mir beim Lesen jedenfalls. Ich konnte für sie deshalb weder Interesse noch Mitgefühl aufbringen - wobei sie das Mitgefühl ja schon reichlich für sich selbst hat und die meisten in ihrem Umfeld nicht mag. In Anne findet sich das zweite Hauptthema des Romans - das Aufeinanderprallen von Stadt- und Landleben. Wir begegnen ihr zu Beginn in der Welt der Latte-Macchiato-Übermütter. Diese sind herrlich treffend geschildert, ich habe an manchen Stellen lachen müssen angesichts der mit beißendem Humor dargestellten Mütter, für die ihr Nachwuchs das Zentrum des Universums darstellt und die erwarten, daß das restliche Universum das gefälligst auch so sieht. Allerdings entwickelt sich hier dann wenig weiter - wir lernen im Laufe des Buches fast nur noch Menschen kennen, die allesamt Vorurteile gegen die anderen haben. Was am Anfang also noch amüsant ist, nutzt sich dann rasch ab, weil immer wieder mit den gleichen Werkzeugen gearbeitet wird und man irgendwann schon weiß, jetzt kommt wieder eine bissige Beschreibung einer Gruppe von Menschen und ihrer Lebenseinstellung. Das funktioniert meines Erachtens, wenn es ein Element einer facettenreichen Geschichte ist, aber nicht, wenn es überbenutzt wird.

So sind die aufs Land gezogenen oder zu Landpartien kommenden Städter alle ein wenig dümmlich-überheblich, idealisieren das Landleben, verstehen die Strukturen nicht und blicken auf die Bauern herab. Die Bauern sind alle ein wenig starrsinnig, gehen das Landleben mit der unsentimentalen, manchmal naturzerstörenden, Art jener an, die hier seit Generationen ihren Lebensunterhalt verdienen und blicken auf die Städter herab, auf Vegetarier, auf weniger traditionelle Erziehungsarten. Die Landkindergärtnerin blickt auf die Stadtmutter herab, die Stadtmutter auf die Landkindergärtnerin, usw. Da hier kaum Weiterentwicklung erfolgt und so viel mit Stereotypen gearbeitet wird, wurde das, was anfänglich noch unterhaltsam war, rasch langweilig.

Nachdem das erste Drittel ein gutes Erzähltempo hat und ich es fast in einem Rutsch durchlas, folgten dann viele langatmige Passagen und zahlreiche Wiederholungen. Gerade letztere wurden zunehmend ärgerlich. Während viele interessante Aspekte unerzählt bleiben, wird viel Nebensächliches ausführlich dargestellt. Es gibt auch hier noch interessante und berührende Momente, gerade die fast wortlose Zuneigung zwischen Vera und ihrem Nachbarn, die unaufdringliche Art, in der sie einander beistehen, ist hervorragend geschildert. Aber leider nahm das Lesevergnügen aufgrund der genannten Punkte immer weiter ab, erlebte mit der Rückbesinnung auf das Thema der Ostpreußenflucht und -herkunft zum Ende hin wieder einen Aufschwung. Insgesamt war "Altes Land" also ein gemischtes Vergnügen für mich.