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Veröffentlicht am 07.09.2019

Der eindringliche Blick auf eine andere Kultur

Alles zerfällt
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In Chinua Achebes "Alles zerfällt" bekommen wir einen wohl einzigartigen Blick auf das vor- und frühkoloniale Nigeria aus Sicht der dort lebenden Igbo. Wir begleiten Okonkwo durch sein Leben in den 1890er, ...

In Chinua Achebes "Alles zerfällt" bekommen wir einen wohl einzigartigen Blick auf das vor- und frühkoloniale Nigeria aus Sicht der dort lebenden Igbo. Wir begleiten Okonkwo durch sein Leben in den 1890er, die, wie der Titel des Romanes schon zeigt, schreckliche Umwälzungen für die Igbo brachten.

Der erste Teil des Romanes ist eher ein Sittengemälde, es findet wenig Handlung statt, Achebe schildert die Gebräuche, den Glauben, den jährlichen Zeitlauf im Dorf Okonkwos. Dies tut er in klarer, teils recht einfacher, teils sehr poetischer Sprache. Das Buch läßt sich durchweg gut und leicht lesen. Anmerkungen hinten im Buch erklären einige Gebräuche oder Begriffe, teils auch die etymologische Bedeutung von Namen. Diese Anmerkungen waren teilweise informativ, zu manchen Aspekten fehlten mir Erläuterungen, dafür fand ich persönlich die etymologischen Erklärung nicht so interessant. Schade ist, daß einige Dinge, gerade was Rituale betrifft, nicht erklärt wurden, es gab hier mehrere Stellen, die einer Anmerkung oder einer Erklärung in einem Nachwort bedurft hätten. Aber insgesamt sind in diesem Buch so viele interessante Informationen und Einblicke enthalten, die eine mir bis dahin völlig fremde Kultur wundervoll erleuchteten und erklärten.

Okonkwo ist ein interessanter Protagonist. Er hat aus eigener Kraft viel erreicht, ist klug und ehrgeizig. Allerdings ist er kein unbedingter Sympathieträger - er ist jähzörnig, oft gewaltätig und in seiner Kultur so verhaftet, daß er einige kaum zu begreifende Dinge tut, um nicht als unmännlich zu gelten. Auf der andere Seite gibt es Momente, in denen positive Seiten durchscheinen, so eine gewisse Fürsorglichkeit und auch Dankbarkeit. Diese differenzierte Zeichnung Okonkwos ist gut gelungen. Anhand seiner Person können wir auch gut verstehen, wie stark die Kultur eine Gruppe Druck auf ihre Mitglieder ausüben kann.

Die Gesellschaft der Igbo rief ähnlich wie Okonkwo selbst sehr zwiespältige Gefühle in mir hervor. Einerseits gefiel mir der starke Gerechtigkeitssinn; die Methoden, Frieden zu bewahren. Andererseits gibt es viele mir grausam erscheinende Ausprägungen, gerade dann, wenn Religion und Aberglaube eine Rolle spielen. Es gibt zahlreiche Stellen in dem Buch, die für uns aus mitteleuropäischer und heutiger Sicht schwer zu verkraften sind, aber auch bei einigen Igbo jener Zeit Unbehagen hervorriefen. Auch hier ist die differenzierte Erzählweise Achebes wieder erfreulich, durch den Charakter Obierika, einem Freund Okonkwos, erfahren wir auch Standpunkte, die denen von Okonkwo wiedersprechen. Neben diesen beiden gibt es noch einige weitere Charaktere, die hier eine größere Rolle bekommen und dem Leser eine Facette der verschiedenen Schicksale und Positionen innerhalb des Dorfes schildern.

Nach dem auf die Schilderung des allgemeinen Dorflebens fokussierten ersten Teils nimmt dann auch die Handlung stärkeren Raum ein, die von Okonkwos ganz privater Tragödie allmählich zur Kolonisierung der Gegend führt. Missionare halten Einzug und auch hier erfreut wieder die Schilderung verschiedener Standpunkte. Die unausweichliche Entwicklung wird uns knapp und eindringlich berichtet und läßt mich nach Ende des Buches betroffen zurück. Okonkwo steht hier symbolisch für so viele Menschen und Völker, die von der Kolonialisierung überrannt und zerstört wurden.

Veröffentlicht am 03.09.2019

Bleibt viel zu sehr an der Oberfläche, erzählt zu sprunghaft

Kastanienjahre
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Ich muß gestehen, daß ich erleichtert bin, dieses Buch hinter mich gebracht zu haben. Auf den letzten 100 Seiten habe ich viel nur noch überflogen, weil ich mich leider ziemlich gelangweilt habe.

Der ...

Ich muß gestehen, daß ich erleichtert bin, dieses Buch hinter mich gebracht zu haben. Auf den letzten 100 Seiten habe ich viel nur noch überflogen, weil ich mich leider ziemlich gelangweilt habe.

Der Klappentext ist eigentlich vielversprechend - die Geschichte des Dorfes Peleroich von der Gründung der DDR bis zur Nachwendezeit, dazu "eine fatale Dreieicksbeziehung voller Geheimnisse" (was sich als ziemlich übertriebene Beschreibung herausstellt). Ich lese sehr gerne über das Leben in der ehemaligen DDR, stelle oft fest, wie viel es darüber noch zu erfahren gibt und war sehr interessiert daran, wie diese Dorfgemeinschaft von Peleroich durch jene Jahrzehnte gekommen ist.

Während der Anfang des Buches uns noch eine liebevolle Einführung des Hauptcharakters Elise gibt und wir auch Peleroich im Jahre 1950 neugierigmachend kennenlernen, war ich schon direkt danach ziemlich enttäuscht. In kurzen Kapiteln fliegen wir durch die Jahre. Kaum haben wir die Schulkinder Karl und Christa 1950 kennengelernt, ist es auch schon 1960 und man ist mitten in ihrem Familienleben, nachdem sie in vorherigen kurzen Kapiteln sich rasch verliebt und geheiratet haben. Alles wird nur kurz angerissen, wir lernen die Charaktere nicht richtig kennen, erleben keine Entwicklungen mit. Das sehr interessante Thema der LPG-Gründungen und des Druckes auf die unabhängigen Bauern kommt auf. Darauf war ich gespannt, freute mich schon, etwas dazu zu lesen. Ein paar Seiten später war es in wenigen Sätzen abgehandelt und kam nicht mehr auf.

Und genau so geht es weiter. Während Naturbeschreibungen, Kindergeburtstage, banale Alltagsunterhaltungen in fast ermüdender Ausführlichkeit geschildert werden, finden die wichtigen Ereignisse nur am Rande statt. Die Charaktere bleiben größtenteils Namen für mich, weil wir keine Gelegenheit haben, sie kennenzulernen. Vorne im Buch ist eine Namensliste, die ich auch oft benötigt habe. Ich habe historische Romane mit an die tausend Seiten gelesen, mit 50-60 Charakteren, und brauchte die Namenslisten dort nie, weil die Charaktere so gut eingeführt worden waren, daß ich sie gleich zuordnen konnte. Hier, bei einer Handvoll Dorfbewohner, blieben sie mir größtenteils fremd. Während die Zubereitung von Bratkartoffeln detailliert besprochen wird, finden Unterhaltungen über die Unterdrückungen des DDR-Regimes, das durchaus gewichtige Trauma eines Grenzsoldaten (dazu hätte ich viel, viel mehr lesen wollen), rasch statt, vieles wird uns nur als Rückblick kurz geschildert. Es kam mir vor, als ob ich in einem Zug sitze und nur ab und zu einen raschen Blick in ein Zimmer erhasche - Momentaufnahmen, immer zu schnell, immer zu kurz. Irgendwann im Buch kam es Elise "vor, als wäre sie nicht dabei gewesen, als hätte sie etwas Wichtiges verpasst." So fühlte ich mich das ganze Buch hindurch. Fragen und Themen werden angerissen, bleiben aber, genau wie Charaktere, an der Oberfläche.

Die DDR-Themen kommen vor, sind gut ausgewählt, interessant, aber es hätte so unglaublich viel mehr daraus gemacht werden können. Ich habe in anderen Büchern wesentlich mehr über das Leben in der DDR erfahren. Nach knapp 300 Seiten sind 30 Jahre DDR-Geschichte abgehandelt, rasch, oberflächlich, garniert mit vielen Banalitäten des dörflichen Alltagslebens. Oft werden mehrere Jahre übersprungen und wir bekommen nur einen kurzen Überblick, was geschehen ist. Immer wieder werde ich so aus der Handlung herausgerissen. Um das "große Geheimnis", das Elise nach zwanzig Jahren zurück ins Dorf führt, wird mehr Drumherum veranstaltet, als notwendig gewesen wäre.

Der rote Faden des Dorfes war an sich gut gewählt, wenn es mal um die DDR geht, sind die Einzelheiten gut und glaubhaft dargebracht. Der Schreibstil ist durchschnittlich, liest sich recht leicht. Bei einer (für meinen Geschmack) besseren Gewichtung der Themen und Schwerpunkte hätte ich dieses Buch genossen, aber so war ich leider enttäuscht. Ich habe noch "Kranichland" der Autorin hier liegen und hoffe, daß es besser sein wird.

Veröffentlicht am 01.09.2019

Eintauchen ins Mittelalter - spannend und unterhaltsam

Der Gesang der Bienen
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"Der Gesang der Bienen" hat mich von der ersten Seite an in die Geschichte hineingezogen und diese Wirkung hat nie nachgelassen. Ich habe das Buch mit großem Vergnügen gelesen.

Wir sind im Jahr 1152, ...

"Der Gesang der Bienen" hat mich von der ersten Seite an in die Geschichte hineingezogen und diese Wirkung hat nie nachgelassen. Ich habe das Buch mit großem Vergnügen gelesen.

Wir sind im Jahr 1152, als der Stauferkönig Friedrich, später bekannt als Barbarossa, seine Regierungszeit gerade begonnen hat. Seine Zeitgenossin Hildegard von Bingen steht auch noch am Anfang eines neues Projektes: der Bau ihrer neuen Abtei bei Bingen ist in vollem Gange und durch das Fehlen finanzieller Mittel beeinträchtigt. Diese beiden sind einige der historischen Charaktere, denen wir im Buch begegnen, Hauptpersonen sind aber der Zeidler Seyfried und seine Familie, denen großes Unrecht geschieht und die sich in den Klauen der Willkür und des Aberglaubens finden.

Das Leben dieser Familie zu Beginn des Buches ist farbig, mit guten Details geschildert. Man sieht das gemütliche Zeidlerhaus an seinem idyllischen Waldflecken direkt vor sich. Gerade Seyfried ist ein sehr echt wirkender Charakter - ein von der Herkunft her einfacher Mann (woran man ihn im standesbewußten Mittelalter auch stets erinnert) mit großer Lebensklugheit und einem erfreulichen Selbstbewußtsein. Seine Frau Elsbeth lernen wir hauptsächlich im ersten Teil des Buches kennen und auch sie fand ich hervorragend beschrieben. Auch die latente Bedrohung, der sie als heilkundige, des Lesens fähige Frau, stets unterliegt, wird uns schnell und gut dargebracht. Überhaupt sind historische Fakten, Lebensumstände und Gedankenwelt jener Zeit hervorragend eingebunden. Sie werden Teil der Geschichte, sind nie lehrbuchartig dargebracht. Die historische Genauigkeit ist, soweit ich das beurteilen kann, gegeben. Hier ersteht die frühe Stauferzeit, das Kloster- und Burgleben wundervoll wieder auf.

Der Schreibstil ist gut zu lesen, recht einfach, er fiel mir weder angenehm noch unangenehm auf. Die wörtliche Rede ist manchmal der Zeit nicht angemessen, einige Sätze ließen mich den Kopf schütteln, weil sie sich eher nach 21. Jahrhundert als 12. Jahrhundert anhörten.

Der Spannungsbogen ist gut gestaltet, nur ganz vereinzelt gibt es ein paar Szenen, die sich etwas zu sehr in die Länge zogen. Seyfried hat vierzehn Tage Zeit, die drohende Hinrichtung seiner Frau abzuwehren, indem er ein entsprechendes Schreiben von Hildegard von Bingen einholt. Die noch verbleibenden Tage werden uns über jedem Kapitel angegeben, man merkt also, wie die Zeit drängt und natürlich geht die Reise Seyfrieds aus dem Schwarzwald nach Bingen nicht komplikationslos vor sich. Hildegard fand ich hier übrigens größtenteils ziemlich arrogant und recht unchristlich - eine interessante Abwechslung zu ihrer sonstigen Darstellung. Einige ihrer Entscheidungen fand ich nicht nachvollziehbar und schienen eher davon motiviert, weitere Spannung aufzubauen. Es gab Momente, in denen ich dachte "Ja, jetzt ist es langsam gut."

Der zweite Handlungsstrang neben Seyfrieds Reise sind die Nöte insbesondere seiner Tochter, die auf Burg Staufen als Geisel gehalten wird und ebenfalls viel zu fürchten hat. Auch dies ist teilweise sehr aufregend und ich las die Geschehnisse gebannt - schön waren hier auch die o.e. guten Einblicke in das Burgleben. Mit Seyfried und Hildegard besuchen wir dann sogar eine Kaiserpfalz und König Friedrich selbst. Ich habe mich sehr gefreut, daß er hier einen, wenn auch kurzen, "Auftritt" hatte. Auch hier wird der historische Hintergrund der Staufer-Welfen Fehde, der Rolle Friedrichs als Bindeglied und die vorsichtige Politik des Ausgleiches, die er betreiben mußte, gekonnt eingebunden und gut erzählt.

Zwischendurch und gerade zum Ende hin benutzt der Autor das "Rettung in letzter Minute"-Werkzeug für meinen Geschmack etwas zu oft. Das wirkt dann ein wenig unglaubwürdig, ein wenig vorhersehbar und nicht sehr kunstvoll. Insgesamt ist "Der Gesang der Bienen" aber ein gelungener historischer Roman, in dem historische und fiktive Charaktere gleichermaßen Kontur gewinnen und in den man richtig schön eintauchen kann.

Veröffentlicht am 31.08.2019

Eine Grenze hat Tyrannenmacht

Die Stunde der Räuber
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In "Die Stunde der Räuber" geht Udo Weinbörner das ambitionierte Projekt an, uns Schillers frühe Jahre in Romanform zu schildern. Ich kann vorweg schon sagen, daß das Projekt gelungen ist.

Wir lernen ...

In "Die Stunde der Räuber" geht Udo Weinbörner das ambitionierte Projekt an, uns Schillers frühe Jahre in Romanform zu schildern. Ich kann vorweg schon sagen, daß das Projekt gelungen ist.

Wir lernen Schiller als Schuljungen kennen, kurz vor seinem erzwungenen Eintritt in die "militärische Pflanzschule" Karlsschule des despotischen Herzogs Carl Eugen. Das Erste Kapitel wirkt ein wenig verwirrend, aufgrund der Vielfalt der Namen und des nur vage erklärte Geschehens, in das wir hineingeraten. Ich habe beim Lesen an manchen Stellen gedacht, daß das Buch ohne ein wenig Hintergrundwissen sicher öfter schwer zu verstehen ist. Auch während Schillers Zeit in der Karlsschule erfolgt plötzlich ein Zeitsprung von drei Jahren, der nicht erwähnt wird, so daß man sich über das nicht altersgemäße Verhalten von Schiller und seinen Schulkameraden ziemlich wundert, bis man sich allmählich aus Hinweisen den Zeitsprung zusammenreimt. Gerade am Anfang des Buches wären hier und da ein paar Hintergrundinformationen hilfreich gewesen. Wenn man sich aber erst einmal eingefunden hat, kann man eine ganz ausgezeichnet recherchierte und lebhaft erzählte Reise durch Schillers Jugend und frühe Erwachsenenjahre genießen.

Der Schreibstil ist überwiegend sehr angenehm, der Zeit angemessen. Vokabular und auch Dialoge sind historisch korrekt, die Beschreibungen des Umfelds, der Kleidung und zahlreiche weitere Details lassen das späte 18. Jahrhundert vor unseren Augen farbig aufleben. Ich konnte mich beim Lesen hervorragend in diese Zeit hineinversetzen und freute mich an diesem fundierten historischen Hintergrund, den ich in manchen historischen Romanen vermisse. Wie bereits erwähnt, ist die Recherche außergewöhnlich gut und genau (auch hier könnten sich manche anderen Autoren einen Beispiel nehmen). Manchmal wird die Erzählweise für meinen Geschmack ein wenig zu detailfreudig, ein paar wenige Szenen sind dafür etwas zu vage, an zwei Stellen gibt es fast wortgleiche Wiederholungen, aber allgemein liest sich das Buch erfreulich und konnte mich bannen.

Bemerkenswert ist auch, wie lebensecht die Charaktere gestaltet sind. Schiller ist hier der Mensch Schiller, mit alle seinen Stärken und Schwächen, mit den weniger sympathischen Seiten, dem hochemotionalen Wesen, dem unzerstörbaren Drang nach Freiheit. Genau so habe ich ihn mir vorgestellt, er ist meines Erachtens hervorragend getroffen. Aber auch seine Familie, seine Freunde und Kollegen, sowie weitere Menschen seines Umfelds gewinnen hier an Kontur, werden von aus Biographien bekannten Namen zu echten Menschen. Über den kurzen Auftritt meines verehrten Goethe habe ich mich natürlich sehr gefreut, und auch er ist in der kurzen Szene mit wenigen Worten hervorragend getroffen.

Besonders genossen habe ich die wundervoll geschilderten Szenen zwischen Schiller und seinen Freunden, zuerst im beklemmend-diktatorischen Umfeld der Schule, später in der Wildheit der zumindest teilweise erlangten Freiheit, dann bei der bemerkenswerten Unterstützung für Schiller in der Zeit seiner ersten Erfolge und Mißerfolge, die teilweise Hand in Hand gehen.

Auch Schillers Innerstes, seine Motivation, sein Leiden erfahren wir Leser unmittelbar und nachvollziehbar. Die Willkür des Herzogs, der sein Land ausblutete, um im Prunk zu leben, wird auf jeder Seite deutlich; das Leid, das seine Untertanen durch seine Macht- und Prachtgier durchleben mußten, wird uns schmerzlich bewußt, ebenso wie die Sprengkraft von Schillers Worten.

In diesem ohnehin erfreulichen Buch stechen dann einige Szenen durch ihre Intensität noch hervor. Schiller, der die erste Aufführung seiner Räuber erlebt - ich hatte das Gefühl, ich wäre dabei, so gut ist dies beschrieben. Der Besuch beim zehn Jahre lang eingekerkerten Dichter Schubart verströmt eine bemerkenswerte Mischung aus Gebrochenheit und Ungebrochenheit, aus Düsternis und Hoffnung.

Es hat Spaß gemacht, Schiller über diese Jahre hinweg zu begleiten, Udo Weinbörner hat Emotionen geweckt, Schiller lebendig gemacht, seine Welt für uns auferstehen lassen.

Veröffentlicht am 29.08.2019

Dunkler, intensiver Blick auf unsere schlimmste Zeit

Zeit zu leben und Zeit zu sterben
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Remarque entwickelt sich immer mehr zu meinem Lieblingsschriftsteller. Auf unnachahmliche Weise berichtet er in seinen Romanen über das Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Stil ...

Remarque entwickelt sich immer mehr zu meinem Lieblingsschriftsteller. Auf unnachahmliche Weise berichtet er in seinen Romanen über das Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Stil ist schnörkellos, ohne Pathos und dadurch besonders eindringlich. "Zeit zu leben und Zeit zu sterben" befasst sich mit der dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte. 1944 ist der Krieg so gut wie verloren, was die fanatische menschenverachtende Diktatur nicht davon abhält, weiterhin Millionen zu opfern.

Von allen Büchern Remarques, die ich bisher gelesen habe, inklusive des bereits sehr beklemmenden "Im Westen nichts Neues" ist dies hier das Dunkelste. Remarques zielsicherer trockener Humor, der in den anderen Büchern manchmal eine Atempause vom Geschehen gibt, oder die Inflation in "Der schwarze Obelisk" teilweise fast sarkastisch-heiter darstellt, fehlt hier ganz. Es gibt keine Atempausen vom Schrecken, keinen Ausweg und genau das paßt zu der Zeit, zum Erzählten. Wir begleiten den 23jährigen Ernst Graeber, bereits in jungen Jahren ein Kriegsveteran, der den Feldzug auf Frankreich mitmachte, in Afrika verwundet wurde und nun in der Hölle auf Erden festsitzt: an der Ostfront, die sich gerade im Rückzug befindet. Sehr gut gelingt es Remarque bei den Szenen des Frontlebens zu zeigen, wie vielfältig die Soldaten der Wehrmacht waren. Da ist der überzeugte Nazi, gerade 20, stolz darauf, wie viele Menschen er bei der SS schon brutal ermordet hat, mit gieriger Freude am Töten und einem genau durchdachten arischen Fortpflanzungsprogramm mit der so perfekt arisch-blütigen Verlobten. Es gibt den Kommunisten, der von einem Strafbatallion kam und im Gegensatz zu den anderen kein Blatt vor den Mund nimmt. Zum Ende des Buches eine treffende Bemerkung von Graeber, daß der Kommunismus genau so menschenverachtend ist. "Alles, was ich im Leben einmal möchte, ist denken, was ich will, sagen, was ich will, und tun, was ich will. Aber seit wir Messiasse von rechts und links haben, ist das ein weit größeres Verbrechen als jeder Mord.".
Der Großteil der Soldaten sind aber ganz normale Männer, die einfach nach Hause zu ihren Familien wollen, die hoffe, irgendwie zu überleben, und die immer mehr merken, daß sie für nichts verheizt werden.

Der dreiwöchige Heimaturlaub, den Graeber dann erhält, bringt ihm auch nicht die erhoffte Atempause und hier merkt man den Unterschied zu "Im Westen nichts Neues". In beiden Fällen können die Soldaten ihren Gedanken zwar nicht entkommen, aber Graeber bemerkt zudem schnell, daß er sich in seiner Heimatstadt immer noch im Feindesland befindet - die Diktatur verfolgt ihre eigenen Bürger, alle haben Angst, denunziert wird rasch. Dazu kommen ständige Bombenangriffe, alle paar Tage wird die Stadt angegriffen, Sicherheit gibt es nirgendwo. "Drohend und hoffnungslos stand die Dunkelheit um ihn herum, und es schien kein Entkommen zu geben." Man spürt diese Ausweglosigkeit auf jeder Seite, in jedem Satz, ganz hervorragend kann Remarque diese Atmosphäre darstellen. Graeber erkennt auch allmählich die Schuld, die fast jeder auf sich geladen hat, die Monumentalität des Bösen, der Grausamkeit, die hier stattfindet. So gerne möchte er anders sein, aber er ist letztlich auch Gefangener des Systems. Der Gedanke an Desertion kommt öfter auf, bei seiner Rückkehr nach dem Urlaub wird er von anderen Soldaten sogar ganz offen gefragt, warum er überhaupt zurückgekommen ist. Graeber weiß aber, daß Desertion nicht erfolgreich wäre, in einem Land eifriger Denunzianten würde er gefunden werden und selbst, wenn er es in die Schweiz schaffen würde, würde die ihn gleich zurückschicken oder ausliefern. Selbstverstümmelung wird ebenfalls schnell entdeckt...auch hier gibt es keinen Ausweg, er muß wieder an die Front, muß für eine Diktatur kämpfen, deren Grausamkeiten ihn erschrecken und anwidern.

Die Thematik und diese allumfassende Dunkelheit machen das Buch an manchen Stellen schwer zu lesen, weil man ein fast zu gutes Gefühl für die Ausweglosigkeit und die allenthalben vorhandene Grausamkeit bekommt und auch weiß - das ist nicht ausgedacht, das ist tatsächlich so passiert. Das Buch ist ein eindringlicher, schonungsloser Blick in diese Zeit und unbedingt lesenswert.