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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 03.10.2023

Von der Idee her ausgezeichnet

Dreieinhalb Stunden
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Der Gedanke des Buches gefiel mir ausgezeichnet, die Geschichte stellte die Protagonisten vor Entscheidungen, die sicher jeder Leser nachempfinden kann und bei denen sicher auch fast jeder überlegt: "Was ...

Der Gedanke des Buches gefiel mir ausgezeichnet, die Geschichte stellte die Protagonisten vor Entscheidungen, die sicher jeder Leser nachempfinden kann und bei denen sicher auch fast jeder überlegt: "Was würde ich tun?"

Wir begleiten diverse Personen auf der Fahrt des Interzonenzugs von München nach Berlin, und während dieser Fahrt sickert nun durch, daß in Berlin gerade die Mauer gebaut wird und man somit gerade die letzte Chance hat, der menschenverachtenden SED-Diktatur zu entfliehen. Die Entscheidung wird somit sehr plötzlich akut, es bleiben nur wenige Stunden bis zur Erreichung der Grenze. In wenigen Stunden über das ganze künftige Leben zu entscheiden - bei einem Verbleib im Westen so viel zurückzulassen, das setzt die Protagonisten unter erheblichen Druck.

Gelungen ist, daß hier sehr verschiedene Menschen unterwegs sind, die sich sowohl von ihrem Alter als auch von ihrer Vergangenheit und jetzigen Position unterscheiden. Jemand, der einen guten, regierungsnahen Posten in der DDR hat und bereits in einem regimetreuen Elternhaus aufwuchs, geht das Thema natürlich anders an als jemand, der nicht ganz in der Bild des angepaßten, gehorsamen DDR-Bürgers paßt und deshalb bereits Nachteile erlitten hat, oder jemand, dem dort seine berufliche Zukunft genommen wurde.

All diese Geschichten und Überlegungen lernen wir nun also kennen. Man merkt dem Buch m.E. an, daß es aus einem Drehbuch hervorgegangen ist. Die Szenenwechsel sind schnell, die einzelnen Szenen oft etwas oberflächlich, der Schreibstil eher einfach. Es liest sich leicht und nett weg, mehr aber auch nicht.

Für mich war ein großes Manko, daß es letztlich wenig Handlung gab und versucht wurde, die Geschichte langzuziehen. Vielleicht klappt das bei einem Film besser, aber im Buch war sehr viel Füllmaterial. So haben wir hier den Handlungsstrang zweier Polizisten, die für sehr viele blasse Füllszenen sorgen, in denen sie mehr oder weniger dasselbe oder eben gar nichts tun. Die Handlungsstrang wechselt zum Ende die Perspektive zu zwei anderen Charakteren, die mir aber viel zu blass geblieben sind, da der Fokus ihres Handlungsstrangs bei den beiden Polizisten lag. Dieser Handlungsstrang, der Potential gehabt hätte, wirkte dadurch unentschlossen und, wie gesagt, wie Füllmaterial. Wir lernen auch die Lokführerin kennen, welche aus dem Osten zur Grenze fährt, um den Zug nach der Grenze nach Berlin zu fahren. Sie wird von einem Jounalisten begleitet, der über ihre Arbeit berichten soll, und das Geplänkel und Geplauder der beiden zieht sich unendlich und trägt sehr wenig zur Geschichte bei, auch hier wirkt vieles wie Füllmaterial.

Im Zug geschieht auch recht wenig. Immer wieder wird betont, wie wenig Zeit noch bleibt, immer wieder kreisen die Gedanken der Protagonisten um dieselben Themen und alle von ihnen blicken plötzlich in ihre Vergangenheit zurück. Das ist teilweise interessant, weil wir so mehr über die Charaktere erfahren, aber auch hier ist vieles ausgewalzt, vieles unnötig und es ist auch etwas seltsam, daß diese Zugfahrt plötzlich bei mehreren Kriegserinnerungen freisetzt. Es wirkt alles etwas konstruiert. Vieles andere bleibt dagegen oberflächlich und viele wiederholt sich.

Es gibt berührende Momente und es wird gut dargebracht, wie grausam die gewaltsame Teilung Deutschlands und das Einsperren der Menschen in der DDR war, wie viel Leid es verursachte. Auch die Proteste in Berlin werden geschildert - ein wenig blass, da wir alles nur durch einen Polizisten in seinem Büro mitbekommen und nicht durch das tatsächliche Geschehen.

Letztlich überraschte mich keine der Entscheidungen. Jeder agierte so, wie es zuvor aufgrund Position, Alter, Lebenssituation zu vermuten gewesen wäre. Hier und da wurde zwar versucht, durch einige Wendungen oder Warten bis zur letzten Minute etwas Spannung zu erzeugen, und das gelang auch manchmal, aber letztlich merkt man dem Buch einfach an, daß es auf einem Fernsehfilm basidert, der unterhaltsam und gut verdaulich sein soll. Die Kniffe, die bei Drehbüchern funktionieren, lassen sich nicht auf Bücher übertragen. Man hätte diese Geschichte als Buch wesentlich besser, berührender und weniger auf Effekt gequält erzählen können. Als unterhaltsame Lektüre, die durchaus zwischendurch zum Nachdenken anregt, reicht es aber allemal.

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Veröffentlicht am 15.09.2023

Die Geschichte bewegt sich zäh im Kreis

Als wir an Wunder glaubten
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Nachdem ich Helga Bürsters „Luzies Erbe“ sehr genossen habe und es in vielerlei Hinsicht eines jener seltenen Bücher war, die einen ganz besonderen Eindruck hinterließen, war ich auf dieses neue Buch gespannt. ...

Nachdem ich Helga Bürsters „Luzies Erbe“ sehr genossen habe und es in vielerlei Hinsicht eines jener seltenen Bücher war, die einen ganz besonderen Eindruck hinterließen, war ich auf dieses neue Buch gespannt. Zu Beginn gefiel mir die geschilderte Moordorf- und Nachkriegsatmosphäre, die Leser werden allmählich in die Geschichte, das Dorf und seine Einwohner hineingeführt und es gab schon vielversprechende Ansätze, die neugierig machten. Allerdings trat das Buch dann schnell auf der Stelle. Die Geschehnisse im Dorf werden mit zäher Ausführlichkeit berichtet, jede kleine Handlung füllt Seite um Seite um Seite. Was anfänglich zur Einführung durchaus angenehm war, wurde dann bald langweilig, was auch an den vielen Wiederholungen lag. Wir beobachten die Dorfbewohner bei ihren Alltäglichkeiten und zwar immer und immer wieder.
Wesentlich interessanter fand ich anfänglich den Erzählstrang des Kriegsheimkehrers mit Amnesie, allerdings wird hier die überraschende Wendung bereits im Klappentext verraten. Es ist mir ein Rätsel, warum ein Verlag eine unerwartete Wendung, die erst nach etwa einem Drittel des Buches vorkommt, bereits im Klappentext verrät, somit einen wesentlichen Aspekt vorausnimmt und auch einen wesentlichen Teil der Spannung raubt. Das hat mich sehr geärgert.
Dieser Erzählstrang versickert dann auch bald im Dorfeinerlei. Ab der Hälfte des Buches merkte ich, daß mich weder die Geschichte noch die Charaktere noch interessierten. Einige der Charaktere hatten mich anfangs berührt und interessiert, aber sie wurden mit jeder Seite blasser. Die vielversprechenden Ansätze der Geschichte verloren sich in der zähen Erzählweise. Viele Szenen waren einander so ähnlich, daß ich ständig dachte: „Ja, das habe ich bereits mehrfach gelesen.“ Es mag Absicht gewesen sein, um das Eintönige hervorzuheben, aber ein Lesevergnügen ist es nicht, wenn die Geschichte langsam im Kreis dahintrottet. Auch die Entwicklungen am Ende, die im Gegensatz dann zu überzogen daherkamen, haben es für mich nicht mehr rausgerissen, weil das Buch mich schon längst verloren hatte.
Ich mag es durchaus, wenn atmosphärisch erzählt wird, in „Luzies Erbe“ ist dies sehr gelungen. Dort gab es aber auch mehr Handlung. Hier wird eine sehr handlungsarme Geschichte behäbig ausgewalzt und ich muß zugeben, daß ich mich beim Lesen sehr gelangweilt habe. Dabei ist die Idee an sich interessant. Auch die authentische Darstellung des Dorfes und der Hoffnungslosigkeit der Nachkriegszeit waren gelungen. Die Geschichte des Kriegsheimkehrers hatte viele berührende Facetten. Insgesamt aber konnte mich dieses Buch leider nur wenig überzeugen.

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Veröffentlicht am 28.08.2023

Eine sprachliche Freude

Eigentum
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„Eigentum“ hat mich von der ersten Seite an aufgrund des wundervollen Umgangs mit Sprache gepackt. Wolf Haas teilt seine Gedanken und Beobachtungen mit einem herrlich trockenen Humor mit, ohne daß die ...

„Eigentum“ hat mich von der ersten Seite an aufgrund des wundervollen Umgangs mit Sprache gepackt. Wolf Haas teilt seine Gedanken und Beobachtungen mit einem herrlich trockenen Humor mit, ohne daß die Sensibilität des Themas darunter leidet. Wir begleiten nämlich Wolf Haas‘ Mutter auf ihren letzten beiden Lebenstagen und von dort aus durch Teile ihres Lebens. Es ist eine harte, entbehrungs- und enttäuschungsreiche Lebensgeschichte, welche die Mutter laut Aussage eine Dorfbewohnerin zu einer „schwierigen Person“ macht, während ihr eigener Sohn sie als „verrückt“ bezeichnet. Die Geschichte wird uns in allerlei Zeitsprüngen erzählt, die ausgezeichnet miteinander verwoben sind.
Die Leser sitzen mit dem Autor neben seiner Mutter, gehen mit ihm an Orte seiner und ihrer Vergangenheit, haben teil an seinen gelegentlich mäandernden Überlegungen. Diese resultieren in manchmal sprunghaften Themenwechseln, die interessant zu lesen sind und dafür sorgen, daß der Text wie eine Wundertüte wirkt, bei der man nie weiß, was als nächstes kommt. Es ist vor allem diese Sprachvirtuosität, welche das Buch so überzeugend macht, denn auch wenn die Lebensgeschichte der Mutter nicht uninteressant ist, so ist sie keineswegs so außergewöhnlich, daß sie an sich schon spannende Lektüre ausmacht. Das merkt man insbesondere in den Passagen, in denen Haas‘ Mutter direkt erzählt, wir also ihre eigenen Worte lesen. Es bringt eine persönliche Note in das Buch, die Stimme der Frau zu lesen, von welcher das Buch handelt, aber hinsichtlich des Lesevergnügens fielen diese Passagen vom Stil und den detailreich berichteten Nebensächlichkeiten her ziemlich ab.
Auch der Autor selbst verlor sich oft in weniger interessanten Details und Überlegungen, setzt zudem gerne Wiederholungen als Stilmittel ein (worauf er im Text selbst Bezug nimmt). Letztere schwächten den Text für mich häufig. Auch fehlte mir in der Geschichte ein wenig die spätere Entwicklung der Mutter, hier wird vieles angedeutet und hinterläßt Fragen.
Das Leitthema „Eigentum“, welchem die im Jahr der Hyperinflation Geborene jahrzehntelang trotz harter Arbeit erfolglos hinterherrennt, um schließlich resigniert aufzugeben und das so ersehnte Stück Land erst mit der eigenen Grabstelle zu erlangen, ist ausgezeichnet gewählt und zeigt die Tragik dieses Lebens. Es liegt eine Melancholie über dem Buch, immer wieder kurz aufgehellt von dem lakonischen Humor. Trotz mancher langatmiger Passagen ist „Eigentum“ eine überzeugende und erfreuliche Leseerfahrung, die einen sprachlich und vom Aufbau her elegant konzipierten Einblick in das Leben der Mutter und die Gedanken des Sohnes bietet.

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Veröffentlicht am 03.08.2023

Sehr informativ und gut recherchiert, wenn auch stilistisch nicht gänzlich überzeugend

Marie Curie und ihre Töchter
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Die Idee, Marie Curie und ihren Töchtern eine gemeinsame Biographie zu widmen, finde ich hervorragend und ich kann vorab sagen, daß ich aus diesem Buch eine ganze Menge gelernt habe. Aus der Autobiographie ...

Die Idee, Marie Curie und ihren Töchtern eine gemeinsame Biographie zu widmen, finde ich hervorragend und ich kann vorab sagen, daß ich aus diesem Buch eine ganze Menge gelernt habe. Aus der Autobiographie Marie Curies war mir ihr Leben schon bekannt und ich freute mich darauf, hier in einer Romanbiografie die von ihr sehr sachlich geschilderten Fakten mit Leben gefüllt zu finden. Diese Erwartung wurde leider nicht erfüllt (dafür aber die Erwartung, mehr über sie und ihre Töchter zu erfahren). Das Buch nennt sich Romanbiografie, aber es hat nichts von einem Roman. Beginnt es noch vielversprechend mit einer intensiven Episode aus der Kindheit Marie Curies, wird es doch sehr schnell zu einem sachlichen, faktengefüllten Bericht. Die Bezeichnung „Romanbiografie“ weckt falsche Erwartungen und ist m.E. nicht zutreffend. Die Übersetzung ist dafür fast durchgehend ausgezeichnet.

Der Schreibstil ist ausgesprochen sachlich. Das wirkt zu Beginn noch erfreulich klar, aber es ist ein Stil, der eher zu einem Artikel oder Bericht gepasst hätte. Die vielen kurzen Sätze haben teilweise etwas Abgehacktes und es mangelt ihnen an Charme, wenn sich auch zwischendurch schöne Formulierungen finden. Die Autorin ist keine Romanschriftstellerin und das merkt man deutlich. Bei Emotionen ist das Ausdrucksspektrum recht klein, meistens ist jemand „bewegt“, auch zahlreiche Wiederholungen trüben das Lesevergnügen. Marie Curies jüngere Tochter Eve wird bei jeder Gelegenheit als elegant beschrieben, bis man sich fragt, ob es sonst keine Adjektive für sie gab. Auch „die zweifache Nobelpreisträgerin“ oder „die Nobelpreisträgerin“ findet sich als Beschreibung sehr wiederholend. Manche Dinge werden so oft wiederholt, daß ich mich wunderte, warum ein Lektorat hier nicht ein wenig eingegriffen hat. Ein Beispiel von mehreren:

„Ihr größter Wunsch ist es, etwas Nützliches zu tun, so wie ihre Mutter und ihre Schwester im Ersten Weltkrieg." (S. 219)
"Eve findet ihren Weg im aktiven Handeln (...), ebenso wie ihre Mutter und ihre ältere Schwester zwanzig Jahre zuvor." (S. 235/36)
"Sie war im Krieg, ebenso wie ihre Mutter und ihre Schwester, die zwischen 1914 und 1918 so vielen Menschen das Leben gerettet haben." (S. 255)

Noch extremer ist dies bei dem Thema Frauenrechte. Dieses liegt der Autorin überaus offensichtlich am Herzen und so versucht sie, es unablässig unterzubringen. Das hat angesichts des Lebens der drei Curie-Frauen auch durchaus seine Berechtigung, aber die Autorin übertreibt es sehr und manchmal hatte ich das Gefühl, ein feministisches Manifest zu lesen. Sie wiederholt einige Punkte ständig, schreibt bei diesem Thema stets mindestens drei Sätze, wenn einer gereicht hätte, bewegt sich in manchen Formulierungen auf dem Grat zum Unsachlichen und schreibt mehrere seitenlange Abhandlungen zu Frauenrechtsthemen, die mit den Curies nichts oder allerhöchstens am Rande zu tun haben. Da wird dann z.B. als eher konstruierter Zusammenhang zum eigentlichen Sujet des Buches noch dazugeschrieben: „Diesen Punkt fand möglicherweise auch Irène Joliot-Curie irritierend“ oder ein ähnlich wackliger Bezug hergestellt. Einmal findet sich eine solche Abhandlung mitten in der Beschreibung des Todes von Irène, was unpassend ist. So überlagern die politischen Neigungen der Autorin manchmal das Buchthema und das ist nicht sonderlich professionell und beim Lesen sehr enervierend.

Dem Thema selbst widmet sich die Autorin allerdings auch mit großer Kenntnis und Hingabe, man merkt die sorgfältige Recherche. Sie berichtet detailliert, zwischendurch finden Auszüge aus Briefen oder anderen Texten der Curies und mancher Zeitgenossen Eingang in den Text, was immer gelungen war. Hintergründe werden erklärt und der Respekt, den die Autorin für alle drei Curie-Frauen und einige der Männer in ihrem Umkreis empfindet, wird immer wieder angenehm deutlich. Oft bleiben die Menschen hinter den Fakten etwas zurück, aber es gibt auch Passagen, in denen die Leser unmittelbar berührt werden, in denen leise und eindringlich die Gefühle zum Vorschein kommen – oft jene der Trauer, aber auch der Enthusiasmus während der USA-Reise der drei Frauen in den 1920ern, die stille Freude, welche Marie Curie angesichts ihrer Enkelkinder empfand, oder die Energie Eves. Vom Informationsgehalt ist das Buch enorm und es hat auch mein Interesse an den beiden Töchtern geweckt, die mir vorher kaum ein Begriff waren. Auch wenn mich die Lektüre stilistisch nicht überzeugt hat, hat es sich gelohnt, das Buch – und somit auch Marie, Irène und Eve Curie – kennenzulernen.

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Veröffentlicht am 17.07.2023

Sympathisch und originell, Gewichtung nicht ganz mein Fall

Tobis Städtetrip
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Der Untertitel zu „Tobis Städtetrip“ verspricht: „Hessen ganz besonders entdecken“ und das ist durchaus kein leeres Versprechen. Hier wurde eine hr-Serie in Buchform umgesetzt. Ich kannte die Serie nicht ...

Der Untertitel zu „Tobis Städtetrip“ verspricht: „Hessen ganz besonders entdecken“ und das ist durchaus kein leeres Versprechen. Hier wurde eine hr-Serie in Buchform umgesetzt. Ich kannte die Serie nicht und habe mir erst danach eine Folge angesehen, was mir geholfen hat, einige der Dinge, die mir im Buch nicht zusagten, besser zu verstehen. Das erwähne ich deshalb, weil es hilfreich sein kann, das Konzept der Fernsehsendung zu kennen, um nicht mit falschen Erwartungen an das Buch heranzugehen.

Das Buch nimmt seinen Text letztlich aus den in der Sendung gesprochenen Texten und versieht diese mit vielen Fotos aus den Folgen. Alle Fotos sind in Farbe, fast durchweg gut gelungen, überhaupt ist die visuelle Gestaltung ansprechend. Kleine, zusammenfassende Bemerkungen in blauen, kreisförmigen Feldern lockern den Text noch zusätzlich auf. Der Text liest sich überwiegend gut, teilweise wurde mir die Lesefreude ein wenig beeinträchtigt, wenn es betont locker mit Begriffen wie „Style“, „Tattoo“ oder „Location“ zugange ging, die Leser geduzt werden oder die Lesbarkeit durch die Unterwerfung unter das Gender-Diktat (wenigstens nicht mit grausigen Sonderzeichen) litt. Allgemein aber macht das Lesen Spaß.
Jedes Städtekapitel beginnt mit einer kleinen Einführung und endet mit einem Fazit. Letztere fand ich besonders erfreulich und habe mich immer darauf gefreut. Sie sind sehr persönlich, fassen alles gelungen zusammen und haben Pfiff. Auch der Text selbst ist oft sehr persönlich gehalten. Das hat mir beim Lesen sehr gefallen, denn Tobi läßt uns immer wieder an seinen Gedanken teilhaben. Und wenn man dann zur Unionskirche in Idstein liest, daß Tobi ein paar Klänge auf der Orgel spielen darf und er schlicht berichtet: „Bis in die letzte Reihe klingt der Ton und macht mir eine kleine Gänsehaut. So schön ist das“, dann haben wir wirklich daran teil und empfinden es weit besser als bei jeder kunstvollen, aber unpersönlichen Beschreibung. In einem Luftschutzbunker in Kassel schildert Tobi: „Hier gibt es keinen Komfort, nur raue Steinwände und Stehplätze für Hunderte, dicht gedrängte Menschen. Körper an Körper warteten sie hier, bis das Schlimmste vorbei war. Bei dem Gedanken daran schnürt sich mir die Kehle zu.“ Diese Unmittelbarkeit der Gedanken ist eine große Stärke des Buches und macht den Text ungemein sympathisch.

Die Auswahl der Einträge hat mir oft weniger zugesagt. Da half es, sich auf das Konzept der Sendung zu besinnen und darauf, daß dieses Buch kein Reiseführer im herkömmlichen Sinne ist. Viele herrliche Aspekte der Orte, über die hier berichtet wird, kann man in den Sendungen sehen, ohne daß viele Worte gemacht werden müssen – die Bilder sprechen dann bei malerischen Altstädten oder prächtigen Burgen für sich. Bei der Umsetzung in die Buchform hätte man daran denken sollen, daß sich dies nicht ohne weiteres in die Schriftform transportieren läßt. So war ich bei den Beschreibungen oft befremdet, wenn die wesentlichen Schönheiten eines Ortes gar nicht erwähnt oder mit ein, zwei lapidaren Sätzen abgetan wurden, während man lauter Cafés, Restaurants oder Geschäfte beschrieben bekommt. Bei manchen Orten dachte ich: „Gut, jetzt weiß ich, was ich essen und kaufen kann, aber was kann ich sehen?“ Auch die Geschichten von Leuten, die sich mit ihrem Restaurant/Geschäft o.ä. ihren Traum verwirklicht haben, ähnelten sich irgendwann zu sehr, um so geballt interessant zu sein – das funktioniert in einem Fernsehformat einfach besser. Hier hätte man bei der Übertragung von Fernseh- auf Buchformat etwas besser auf die Stärken und Schwächen jedes Mediums achten und den Inhalt entsprechend anpassen können. Die zeigt sich exemplarisch am Kapitel zu Königstein/Kronberg. So wird im Text die Königsteiner Burg recht ausführlich bedacht, die absolut sehenswerte Kronberger Burg aber mit keinem einzigen Wort erwähnt, während sie in der Fernsehsendung den – wenn auch sehr kurzen – Auftakt bildet. In diesem Kapitel zeigt sich leider auch ein ziemlich dicker Schnitzer: das für Kronberg erwähnte „Sofias Cafe“ gibt es dort gar nicht mehr. Ein solches Café befindet sich weiterhin in Königstein (und es ist auch dieses, welches in der Fernsehsendung besucht wird), in Kronberg wird der Besucher aber etwas enttäuscht vor einer Physiotherapiepraxis stehen. Nicht mehr existierende Lokalitäten sollten in einem gerade erst erschienenen Buch nicht vorkommen, hier wäre mehr Sorgfalt angebracht gewesen.

Sehr oft hatte ich aber auch viel Freude an den kleinen Geschichten und historischen Hintergründen zu diversen Sehenswürdigkeiten. Es wird anschaulich und vielfältig berichtet, immer mit dieser persönlichen Note, die das Buch so angenehm macht. Ich habe hier einiges Bekannte unterhaltsam gelesen und viel Neues erfahren. Es gab zahlreiche Anregungen, was man in Hessen alles entdecken kann und auch wenn mir persönlich insgesamt die Gewichtung nicht zusagte, ist bemerkenswert, welche originellen Orte hier vorgestellt werden und wie unterschiedlich diese sind. Hier und da hätte die Umsetzung von Fernsehsendung auf Buch besser gestaltet werden können, aber „Tobis Städtetrip“ ist eine sympathische Reise durch Hessen, auf dem man dieses Bundesland wirklich „ganz besonders“ entdecken kann.

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