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Veröffentlicht am 19.02.2022

Eindringlich und ungewöhnlich

Irmas Vormund
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„Irmas Vormund“ ist in mehrerlei Hinsicht ein ungewöhnliches Buch. Dies beginnt schon mit der Thematik – Arno Breslauer ist Vormund seiner psychisch erkrankten Mutter Irma und ringt in diesem autobiographisch ...

„Irmas Vormund“ ist in mehrerlei Hinsicht ein ungewöhnliches Buch. Dies beginnt schon mit der Thematik – Arno Breslauer ist Vormund seiner psychisch erkrankten Mutter Irma und ringt in diesem autobiographisch geprägten Roman sowohl mit sich selbst wie auch mit der Beziehung zu seiner Mutter. Eine schwierige, schmerzliche Situation, die kontemplativ beleuchtet wird. Der Autor verknüpft einige Tage einer ohnehin schwierigen Lebensphase Arno Breslauers mit dessen Betrachtungen der Familiengeschichte, seiner Spurensuche.
Auch der Schreibstil weist Ungewöhnlichkeiten auf, zum einen durch die innere Distanz, die sich allmählich auflöst, zum anderen durch den Stil selbst. Die innere Wandlung von Distanz zur Innigkeit ist faszinierend, wir sind bei dieser emotionalen Reise dabei und sie wird anschaulich geschildert. Man merkt die Tiefe der Gedanken und Gefühle. Der Schreibstil ist gewöhnungsbedürftig und hat mich nur teilweise überzeugt. Viele Formulierungen sind unbeholfen, die Angewohnheit, Teilsätze als Einzelsätze zu schreiben, irritierte mich häufig. Generell hätte m.E. ein Lektorat nicht geschadet. Andererseits finden sich aber auch ganz wundervolle Formulierungen und Sätze von solch emotionaler Wucht und Schönheit, daß ich sie mehrmals las. Insgesamt sticht der Schreibstil also schon durch diese Mischung heraus.
Die Familiengeschichte geht einige Generationen zurück und liest sich faszinierend. Es finden sich hier zahlreiche ungewöhnliche Ereignisse, die selbst schon Material für einen Roman ergeben würden. Sie sind leider etwas knapp geschildert, manche Fragen bleiben offen und vieles hätte ich gerne wesentlich ausführlicher gelesen, dies liegt aber, wie im Buch erwähnt wird, schlichtweg an fehlenden Informationen und ist nicht zu ändern. Das, was hier berichtet wird, ist jedenfalls vielseitig und lesenswert.
Die Lebenssituation Breslauers wird dafür ausgesprochen detailliert geschildert. Mir wurde die minutiöse Darstellung alltäglicher Details, bis hin zur Beschreibung der Mahlzeiten, oft zu viel, hier hätte einiges weggelassen werden können, was die Wirkung eher verstärkt hätte. Interessant sind die Einblicke in den Berufsalltag eines Pastors.
Ein wirklich bedauerliches – und leicht vermeidbares – Manko sind die zahlreichen Zeichensetzungs-, Formatierungs- und Tipp- bzw. Rechtschreibfehler. Der Buchsatz irritiert beim Lesen durch fast ständiges Zerschießen des Blocksatzes in der vorletzten Absatzzeile sowie Wortabstandsfehler und auch die willkürliche anmutende Zeichensetzung trübte mein Lesevergnügen ganz erheblich. Das ist gerade angesichts des lesenswerten Inhalts bedauerlich, hier sollte dringend nachgebessert werden.
Die Beziehung zwischen Breslauer und seiner Mutter berührt außerordentlich. Mit wohlgesetzten Worten wird deutlich gemacht, welche Verantwortung schon auf dem Kind ruhte, wie sehr alle Familienmitglieder unter der Krankheit Irmas litten und wie sehr sie auf sich allein gestellt waren. Bei der Beschreibung einer Spielszene aus der Kindheit schneidet ein Satz wie „Dann rannte der spätere Vormund auf seine Kind-Mutter zu“ ganz tief ins Herz, weil er die eigentlich so fröhliche Situation schon mit dem Schatten überlagert, der bald auf die Familie fallen wird. Auch Ausdrücke wie „Der kleine Vormund“ sagen sehr viel. Die Geschichte Irmas und Arnos berührt, macht traurig, zeigt aber auch Positives auf. Die philosophischen und religiösen Betrachtungen haben Tiefe und die innere Reise Breslauers verdient Bewunderung.

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Veröffentlicht am 14.02.2022

Geruhsam und etwas blass

Gala und Dalí – Die Unzertrennlichen
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Von den ersten Seiten dieses Buches (mit gelungenem Einband!) über Salvador Dalí und seine Frau Gala war ich begeistert. Die Autoren schreiben bildhaft und eingängig, verstehen es, die Atmosphäre so zu ...

Von den ersten Seiten dieses Buches (mit gelungenem Einband!) über Salvador Dalí und seine Frau Gala war ich begeistert. Die Autoren schreiben bildhaft und eingängig, verstehen es, die Atmosphäre so zu schaffen, daß man alles vor sich sieht. Wir sind gleich mitten in der Handlung und es gibt schon genügend Andeutungen, die neugierig auf das weitere Geschehen machen - es ist das Jahr 1929, Gala steht kurz davor, Salvador kennenzulernen. Leider hielt das Buch nicht gänzlich, was der Anfang versprach.
Das Erzähltempo ist gemächlich, insgesamt begleiten wir das Paar nur bis 1931, was bedauerlich ist, da die interessantesten Entwicklungen und Geschehnisse keinen Eingang in das Buch finden. Während es zu Beginn noch angenehm ist, ein Gefühl für Charaktere und Atmosphäre zu bekommen, zieht sich die Geschichte leider schon bald sehr. Hier fand ich insbesondere das zweite Viertel des Buches anstrengend, das sich über etwa 90 Seiten fast wie ein Reiseführer liest und die Handlung so gut wie gar nicht voranbringt. Wir begleiten Dalí und Gala, so wie einige der leider sehr blassen Nebencharaktere, einige Tage lang auf Besichtigungstour und die Autoren scheinen den Wunsch gehabt haben, alles, was sie über die Gegend gelesen haben, dort hineinzupacken. Wenn das Lokalkolorit die Handlung aufhält und überlagert, ist das frustrierend.
Auch die Vorliebe für Beschreibungen wird zunehmend anstrengend. Wenn jedes Zimmer, in dem sich einer der Charaktere zehn Minuten lang aufhält, genau beschrieben wird, fehlt der Sinn und die Lektüre wird zäh. Gleiches gilt für die seitenlangen Gedankenbeschreibungen, bei denen ich öfter wünschte, die Autoren hätten die „zeigen, nicht erzählen“-Regel mehr berücksichtigt. Dem Leser wird viel beschrieben, viel erklärt, manche Sätze über Dalís Arbeit haben etwas Handbuchartiges. Dies führt dann leider auch dazu, daß man weder die Charaktere, noch ihre Gefühle und Motivationen spürt. Gerade Dalís etwas spezielle Art wird nur andeutungsweise lebendig. An manchen Stellen wirkte es wie die Geschichte eines beliebigen Künstlerpaars. Hier fand ich symptomatisch, daß die Autoren sich (wie im Nachwort erklärt) entschlossen, das etwas komplizierte Verhältnis Dalís zum Körperlichen außen vor zu lassen und „dem jungen Salvador die Freuden des Liebeslebens nicht vorzuenthalten“. Das ist nett, aber nicht unbedingt authentisch und nimmt einen weiteren ungewöhnlichen Aspekt aus der Betrachtung.
Allgemein stimmte für mich durchweg die Gewichtung nicht. Viel Nebensächliches wird ausführlich und wiederholt behandelt, viel Interessantes geht u.a. durch den knappen Zeitrahmen und die distanzierte Erzählweise unter. Über die Menschen Salvador und Gala habe ich weitaus weniger erfahren als erwartet und mich beim Lesen leider oft gelangweilt.
Positiv ist zu erwähnen, daß der eingängige Schreibstil beibehalten wird und es zwar viel zu viele Beschreibungen gibt, diese an sich aber schön bildhaft sind. Auch gibt es Stellen, an denen die Informationen gelungen vermittelt werden, besonders gut gefiel mir die Beschreibung eines von Dalís Bildern mittels eines Dialogs. Es gibt berührende Stellen und gute Informationen. Insgesamt ist der Eindruck aber leider durchwachsen.

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  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.01.2022

Gerät bei der Wanderung ständig auf Abwege

Der Wanderer
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Ich habe nun vier Bücher über Theodor Fontane gelesen. Dieses war am umfangreichsten, aber leider auch das, aus dem ich am wenigsten über Fontane erfahren habe. Der Anfang, in dem eine halbe Seite lang ...

Ich habe nun vier Bücher über Theodor Fontane gelesen. Dieses war am umfangreichsten, aber leider auch das, aus dem ich am wenigsten über Fontane erfahren habe. Der Anfang, in dem eine halbe Seite lang atmosphärisch und eher inhaltsleer der Anblick des Fontane-Denkmals an einem trüben Januartag heutiger Zeit geschildert wird, ist nicht nur eine ausschweifende Einleitung, sondern entspricht symptomatisch dem restlichen Buch. Der Autor verliert sich ständig in Wetterberichten, poetischen Landschaftsbeschreibungen und Allgemeinplätzen wie: „Mögen die nötigen Opfer und Verlust auch noch so groß sein – so läuft es in der Welt.“
Über Fontanes Leben erfährt man wesentlich weniger als der Umfang des Buches erwarten lässt, ich könnte mir sogar vorstellen, daß Leser ohne Vorkenntnisse hier eher verwirrt werden können. Das Buch geht nicht chronologisch durch Fontanes Leben, was an sich nicht schlimm wäre, aber die meisten Stationen seines Lebens werden so gut wie gar nicht behandelt, viele oft nur in Nebensätzen eingestreut, es gibt schmerzlich wenig richtige Informationen, die sich zudem noch im Kreis drehen. Zeitlich und thematisch wird wild hin- und hergesprungen. Insgesamt fehlt viel, wird viel kurz abgehandelt, während anderes ständig wiederholt wird.
Die Erzählweise erinnert mich ein wenig an meinen Großvater, der im höheren Alter Probleme hatte, beim Thema zu bleiben und sich auf Nebenschauplätzen verlor, die nur wenig mit dem eigentlichen Thema zu tun hatten. Der Text mäandert ziellos vor sich hin, die abrupten Themenwechsel sind nicht nachvollziehbar, der Autor verliert sich ständig in irrelevanten Betrachtungen. Bezeichnend ist hier eine ausführliche Beschreibung der Stadt Memel, in der Fontane nie war, die in seinen Büchern und in seinem Leben keine Rolle spielt, wie uns der Autor auch selbst kundtut. Historische Exkurse weichen weit von dem ab, was für das Verständnis Fontanes relevant gewesen wäre, ein einmaliger Besuch einer Kirche durch Fontane führt zu seitenlangen Abhandlungen über die Lebensgeschichten der dort Begrabenen. Keine Möglichkeit einer Abschweifung wird ausgelassen und so geht Fontane in diesem Buch manchmal unter.
Sehr gerne verliert sich der Autor auch seitenweise in philosophischen Exkursen, die sich zwar mit Fontane beschäftigen, aber trotz vieler Worte wenig aussagen. Wenn sich das Buch dann endlich mal Fakten zuwendet, ist das interessant und gut geschrieben, lässt erahnen, wie viel man hier auf angenehme Weise über Fontane hätte erfahren können, wenn der Autor auf seiner Wanderung durch Fontanes Leben nicht jeder irrelevante Abzweigung eingeschlagen hätte. Auch die Abbildungen sind interessant und anschaulich. Diese guten Anteile muss man aber in dem Fabulier-Dickicht leider suchen und so bin ich insgesamt enttäuscht.

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Veröffentlicht am 03.01.2022

Oberflächlich, unstrukturiert und flapsig

Die Frauen der Diktatoren
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Das Buch wirft einen Blick auf das Eheleben und/oder erotische Leben von achtzehn Diktatoren. Wer durch den Titel erwartet, einen tieferen Einblick in die Gemüter der Frauen an deren Seite zu bekommen, ...

Das Buch wirft einen Blick auf das Eheleben und/oder erotische Leben von achtzehn Diktatoren. Wer durch den Titel erwartet, einen tieferen Einblick in die Gemüter der Frauen an deren Seite zu bekommen, wird zumindest teilweise enttäuscht werden. Tiefgängig ist hier sehr wenig und es geht auch nicht primär darum, diese Frauen kennenzulernen und genauer zu betrachten. Jedes der achtzehn Kapitel ist einem Diktator gewidmet. Eine Unterteilung in fünf Bereiche (Faschisten, Kommunisten, historisch weiter zurückliegend, Asien, Entwicklungsländer) ist keine schlechte Idee, damit hat es sich mit der Struktur aber auch weitgehend. Juan Perón, dessen Geschichte hier hervorragend hineingepasst hätte, fehlt seltsamerweise.
Die Kapitel sind vom Stil, Informationswert und Inhalt sehr unterschiedlich. Manche sind flach, kolportieren Klatschgeschichten oder gleichen einer persönlichen Abrechnung (professionelle Distanz oder sachlich geäußerte Kritik ist keine Stärke des Autors). Andere liefern historisch interessante Informationen. Fast alle verzichten darauf, die Lebensdaten der erwähnten Frauen zu nennen, ihre Herkunft zu schildern oder zu berichten, wo sie „ihre“ Diktatoren kennenlernten oder mit ihnen zusammenfanden. Meistens sind die Frauen einfach plötzlich da oder es gibt zur ersten Begegnung Informationen wie beim Paar Marcos: „Sie befanden sich in der Kantine.“ Wann, in welcher Kantine, wie alt sie waren, welche politische Phase es in Marcos’ Leben war – all das wird nicht erwähnt. Das ist einer der beiden Hauptkritikpunkte an diesem Buch: es fehlen ständig Informationen, Zusammenhänge werden kaum oder nicht erklärt, es gibt irritierende Zeitsprünge in beide Richtungen, häufig wirkt der Text ungeordnet, als ob der Auto einfach seine Notizen schnell heruntergeschrieben hätte. Manche Kapitel behandeln nur einzelne Episoden. So ist das Kapitel über Assad fast ausschließlich den Shopping-Mails seiner Frau gewidmet, im Kapitel über Gaddafi kommt dessen zweite Ehefrau, mit der er über vierzig Jahre verheiratet war, nur in einer Nebenbemerkung vor. Lieber wird in aller Ausführlichkeit sowohl bei Gaddafi wie auch bei Kim jeweils ein einziges Interview über ihre Ausschweifungen nacherzählt. Das wirkt häufig unprofessionell, ebenso wie viele der Quellenverweise. Besonders enttäuschte mich, dass wir vom Charakter der Frauen so gut wie nie etwas erfahren und genau das wäre doch interessant gewesen. Der Autor genießt es zwar, unpassende oder grausame Handlungen zu berichten (gerne auch mal mit dem Hinweis: „Sie war so dumm, dass ...“), seelische Einblicke aber gibt es kaum. So hat das Ganze etwas von einem Boulevardmagazin. Dass in den Quellenverweisen auch meistens nur auf eine Quelle pro Kapitel verwiesen wird, erweckte in mir zudem den Eindruck eines reinen Nacherzählens anstatt sorgfältiger Recherche. Bei vielen Kapiteln war ich über den geringen Informationsgehalt enttäuscht (auch der Werdegang der jeweiligen Diktatoren sollte einem besser vorher bekannt sein, hier erfährt man dazu nicht viel) und in den meisten Fällen hätte ich aus einem Wikipedia-Eintrag zur Person mehr erfahren (das kann ich sicher sagen, weil ich offene Fragen dort dann oft nachsehen musste).

Die andere Schwachstelle ist der Schreibstil. Der Autor schreibt betont flapsig, wirft gerne gewollt „witzige“ Bemerkungen in Klammern ein (für ein Sachbuch völlig fehl am Platz), bedient sich Begriffen wie „supernett“ (Beschreibung eines Botschaftsmitarbeiters) oder Ausdrücken wie „Sie war zu allen eklig“ (über Elena Ceaușescu), so dass man denkt, man würde gerade den Blogeintrag eines Teenagermädchens lesen. Die Übersetzung hält mit dem schlechten Schreibstil mit, es gibt zahlreiche falsche Begriffe und Satzstellungen. Ob nun Autor oder Übersetzerin den Unterschied zwischen Antisemit und Rassist sowie zwischen weltgewandt und raffiniert nicht kennen, erschließt sich mir nicht, jedenfalls wurden sowohl „Rassist“ wie auch „raffiniert“ im falschen Zusammenhang benutzt. Interessanterweise gibt es aber auch zahlreiche wirklich schön geschriebene Passagen (und Kapitel mit etwas mehr Tiefe), die zeigen, dass das Buch Potential gehabt hätte. Hier wurde eine gute Idee verschenkt.

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Veröffentlicht am 02.12.2021

Mehr Lust als Liebe, mehr Klatsch als Tiefe

Liebe in Zeiten des Hasses
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Florian Illies zeichnet das Leben unzähliger Menschen zwischen den Jahren 1929-39 unter dem Leitmotiv „Liebe“ nach. Sie ist sehr weit gefasst, quer durch alle Geschlechter und Konstellationen, körperlich ...

Florian Illies zeichnet das Leben unzähliger Menschen zwischen den Jahren 1929-39 unter dem Leitmotiv „Liebe“ nach. Sie ist sehr weit gefasst, quer durch alle Geschlechter und Konstellationen, körperlich ebenso wie philosophisch, umfasst aber auch die Liebe zu Eltern/Kindern, zur Kunst, zu sich selbst. An sich ein schöner Gedanke, die Liebe in all ihren Facetten zu demonstrieren. Allerdings fand ich die Gewichtung nicht sonderlich gelungen. Nachdem Titelbild und der Untertitel „Chronik eines Gefühls“ mir den Eindruck vermittelten, hier würde ich tiefgründige Einblicke zu Menschen bekommen, die ihre Liebe in der dunkelsten Zeit des letzten Jahrhunderts leben mussten, hatte ich bei dem Buch leider zu oft das Gefühl, die Klatschspalten zu lesen. Der Fokus liegt hier sehr stark auf körperlicher Liebe. Die „wer mit wem“-Informationen und ständiges „Verlieben“ auf ersten Blick nahmen den Großteil des Buches ein und gingen über „X schlief mit Y, welche die Verlobte von Z war, woraufhin Z eine Beziehung mit Xs Ehefrau begann“ inhaltlich oft nicht hinaus.
Die meisten der im Buch erwähnten Personen sind Künstler, die 1920er Jahre waren zudem eine ungewöhnlich freigeistige Zeit, da ist es nur natürlich, wenn selten traditionelle Ehen gelebt werden. Allerdings stellte sich mir die Frage, warum der Autor nicht eine repräsentative Auswahl getroffen hat, denn diese Geschichten ähneln sich alle sehr. Das ging so weit, dass ich manchmal am Anfang eines Absatzes schon wusste, was in den nächsten Sätzen stehen wird. Illies arbeitet mit Vignetten, wir reisen schnell von einem Schicksal zum anderen und wenn man sehr häufig Dinge liest, die wie eine Endloswiederholung wirken, dann verschwimmt alles und ist auch nicht mehr sonderlich interessant, gerade weil kaum in die Tiefe gegangen wird. Im Vergleich zu den vielen Kreuz-und-Quer-Affairen gehen dann interessante, tiefgründige Schicksale wie z.B. das von Victor Klemperer und seiner Frau völlig unter. Hier und da werden ein paar Sätze aus seinem Tagebuch eingeworfen, kaum Hintergrundinformationen, dabei hätte die Geschichte von ihm und seiner Frau eine wesentlich ausführlichere Behandlung verdient und wäre auch um einiges interessanter als der 27. herumschlafende Künstler.

Die Vignettenform ist an sich originell und abwechslungsreich. Allerdings waren es mir einfach zu viele Personen. Als ich auf Seite 100 war und immer noch mit jeder Vignette jemand Neues auftauchte, war es mir zu viel. Ich hätte mich gerne weniger Schicksalen gewidmet, diesen dafür eingehender. Das Personenverzeichnis hat neun Seiten, pro Seite etwas 60 Namen, also kann man sich vorstellen, wie voll es auf den Seiten des Buches wird. Manche werden leider nur einmal kurz erwähnt, in einer Vignette eingeworfen und gehen ebenso unter wie der o.e. Klemperer. Es ist ein wenig wie auf einer Party, bei der die lauteste Gruppe die meiste Aufmerksamkeit bekommt, obwohl die ruhig in einer Ecke Stehenden viel Aufschlussreicheres zu erzählen hätten, wenn man ihnen nur zuhören würde. Ich fühlte mich mit Namen und Schicksalen überschüttet und konnte immer nur zehn bis zwanzig Seiten am Stück lesen. Einerseits ist bewundernswert, welche Recherche und Hingabe in ein solches Werk gesteckt wurde, und man bekommt wohl selten einen so kondensierten Blick auf derart viele Schicksale. Wer nichts gegen schnelle Wechsel hat, mit kurzen Einblicken zufrieden ist und sich nicht daran stört, sehr häufig sehr Ähnliches zu lesen, wird hier eine Vielzahl interessanter Personen finden und manche von ganz neuen Seiten kennenlernen. Deshalb möchte ich gar nicht sagen, mir hätte das Buch nicht gefallen. Es war unterhaltsam, es hat mir viele neue Informationen geliefert und - gerade in den letzten Abschnitten - einige Beispiele dessen, was ich von dem Buch erwartet hatte: Liebe, die sich in dunkelsten Zeiten beweist.

Die Sprache ist eine wahre Freude. Illies geht mit ihr so gekonnt um, daß ich viele Formulierungen mehrfach las und gerne darin eintauchte. Ich war immer wieder beeindruckt. Ich habe aber auch immer wieder gedacht, wie herrlich es wäre, wenn diese Sprachvirtuosität mit der Einsicht „weniger ist mehr“ hinsichtlich der Vielzahl an Schicksalen und einem somit ermöglichen tieferen Einblick verbunden worden wäre. So blitzt die Tiefe nur ab und zu durch und geht inmitten von zu viel „Wer mit wem“ unter.

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