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Veröffentlicht am 01.09.2019

Eintauchen ins Mittelalter - spannend und unterhaltsam

Der Gesang der Bienen
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"Der Gesang der Bienen" hat mich von der ersten Seite an in die Geschichte hineingezogen und diese Wirkung hat nie nachgelassen. Ich habe das Buch mit großem Vergnügen gelesen.

Wir sind im Jahr 1152, ...

"Der Gesang der Bienen" hat mich von der ersten Seite an in die Geschichte hineingezogen und diese Wirkung hat nie nachgelassen. Ich habe das Buch mit großem Vergnügen gelesen.

Wir sind im Jahr 1152, als der Stauferkönig Friedrich, später bekannt als Barbarossa, seine Regierungszeit gerade begonnen hat. Seine Zeitgenossin Hildegard von Bingen steht auch noch am Anfang eines neues Projektes: der Bau ihrer neuen Abtei bei Bingen ist in vollem Gange und durch das Fehlen finanzieller Mittel beeinträchtigt. Diese beiden sind einige der historischen Charaktere, denen wir im Buch begegnen, Hauptpersonen sind aber der Zeidler Seyfried und seine Familie, denen großes Unrecht geschieht und die sich in den Klauen der Willkür und des Aberglaubens finden.

Das Leben dieser Familie zu Beginn des Buches ist farbig, mit guten Details geschildert. Man sieht das gemütliche Zeidlerhaus an seinem idyllischen Waldflecken direkt vor sich. Gerade Seyfried ist ein sehr echt wirkender Charakter - ein von der Herkunft her einfacher Mann (woran man ihn im standesbewußten Mittelalter auch stets erinnert) mit großer Lebensklugheit und einem erfreulichen Selbstbewußtsein. Seine Frau Elsbeth lernen wir hauptsächlich im ersten Teil des Buches kennen und auch sie fand ich hervorragend beschrieben. Auch die latente Bedrohung, der sie als heilkundige, des Lesens fähige Frau, stets unterliegt, wird uns schnell und gut dargebracht. Überhaupt sind historische Fakten, Lebensumstände und Gedankenwelt jener Zeit hervorragend eingebunden. Sie werden Teil der Geschichte, sind nie lehrbuchartig dargebracht. Die historische Genauigkeit ist, soweit ich das beurteilen kann, gegeben. Hier ersteht die frühe Stauferzeit, das Kloster- und Burgleben wundervoll wieder auf.

Der Schreibstil ist gut zu lesen, recht einfach, er fiel mir weder angenehm noch unangenehm auf. Die wörtliche Rede ist manchmal der Zeit nicht angemessen, einige Sätze ließen mich den Kopf schütteln, weil sie sich eher nach 21. Jahrhundert als 12. Jahrhundert anhörten.

Der Spannungsbogen ist gut gestaltet, nur ganz vereinzelt gibt es ein paar Szenen, die sich etwas zu sehr in die Länge zogen. Seyfried hat vierzehn Tage Zeit, die drohende Hinrichtung seiner Frau abzuwehren, indem er ein entsprechendes Schreiben von Hildegard von Bingen einholt. Die noch verbleibenden Tage werden uns über jedem Kapitel angegeben, man merkt also, wie die Zeit drängt und natürlich geht die Reise Seyfrieds aus dem Schwarzwald nach Bingen nicht komplikationslos vor sich. Hildegard fand ich hier übrigens größtenteils ziemlich arrogant und recht unchristlich - eine interessante Abwechslung zu ihrer sonstigen Darstellung. Einige ihrer Entscheidungen fand ich nicht nachvollziehbar und schienen eher davon motiviert, weitere Spannung aufzubauen. Es gab Momente, in denen ich dachte "Ja, jetzt ist es langsam gut."

Der zweite Handlungsstrang neben Seyfrieds Reise sind die Nöte insbesondere seiner Tochter, die auf Burg Staufen als Geisel gehalten wird und ebenfalls viel zu fürchten hat. Auch dies ist teilweise sehr aufregend und ich las die Geschehnisse gebannt - schön waren hier auch die o.e. guten Einblicke in das Burgleben. Mit Seyfried und Hildegard besuchen wir dann sogar eine Kaiserpfalz und König Friedrich selbst. Ich habe mich sehr gefreut, daß er hier einen, wenn auch kurzen, "Auftritt" hatte. Auch hier wird der historische Hintergrund der Staufer-Welfen Fehde, der Rolle Friedrichs als Bindeglied und die vorsichtige Politik des Ausgleiches, die er betreiben mußte, gekonnt eingebunden und gut erzählt.

Zwischendurch und gerade zum Ende hin benutzt der Autor das "Rettung in letzter Minute"-Werkzeug für meinen Geschmack etwas zu oft. Das wirkt dann ein wenig unglaubwürdig, ein wenig vorhersehbar und nicht sehr kunstvoll. Insgesamt ist "Der Gesang der Bienen" aber ein gelungener historischer Roman, in dem historische und fiktive Charaktere gleichermaßen Kontur gewinnen und in den man richtig schön eintauchen kann.

Veröffentlicht am 31.08.2019

Eine Grenze hat Tyrannenmacht

Die Stunde der Räuber
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In "Die Stunde der Räuber" geht Udo Weinbörner das ambitionierte Projekt an, uns Schillers frühe Jahre in Romanform zu schildern. Ich kann vorweg schon sagen, daß das Projekt gelungen ist.

Wir lernen ...

In "Die Stunde der Räuber" geht Udo Weinbörner das ambitionierte Projekt an, uns Schillers frühe Jahre in Romanform zu schildern. Ich kann vorweg schon sagen, daß das Projekt gelungen ist.

Wir lernen Schiller als Schuljungen kennen, kurz vor seinem erzwungenen Eintritt in die "militärische Pflanzschule" Karlsschule des despotischen Herzogs Carl Eugen. Das Erste Kapitel wirkt ein wenig verwirrend, aufgrund der Vielfalt der Namen und des nur vage erklärte Geschehens, in das wir hineingeraten. Ich habe beim Lesen an manchen Stellen gedacht, daß das Buch ohne ein wenig Hintergrundwissen sicher öfter schwer zu verstehen ist. Auch während Schillers Zeit in der Karlsschule erfolgt plötzlich ein Zeitsprung von drei Jahren, der nicht erwähnt wird, so daß man sich über das nicht altersgemäße Verhalten von Schiller und seinen Schulkameraden ziemlich wundert, bis man sich allmählich aus Hinweisen den Zeitsprung zusammenreimt. Gerade am Anfang des Buches wären hier und da ein paar Hintergrundinformationen hilfreich gewesen. Wenn man sich aber erst einmal eingefunden hat, kann man eine ganz ausgezeichnet recherchierte und lebhaft erzählte Reise durch Schillers Jugend und frühe Erwachsenenjahre genießen.

Der Schreibstil ist überwiegend sehr angenehm, der Zeit angemessen. Vokabular und auch Dialoge sind historisch korrekt, die Beschreibungen des Umfelds, der Kleidung und zahlreiche weitere Details lassen das späte 18. Jahrhundert vor unseren Augen farbig aufleben. Ich konnte mich beim Lesen hervorragend in diese Zeit hineinversetzen und freute mich an diesem fundierten historischen Hintergrund, den ich in manchen historischen Romanen vermisse. Wie bereits erwähnt, ist die Recherche außergewöhnlich gut und genau (auch hier könnten sich manche anderen Autoren einen Beispiel nehmen). Manchmal wird die Erzählweise für meinen Geschmack ein wenig zu detailfreudig, ein paar wenige Szenen sind dafür etwas zu vage, an zwei Stellen gibt es fast wortgleiche Wiederholungen, aber allgemein liest sich das Buch erfreulich und konnte mich bannen.

Bemerkenswert ist auch, wie lebensecht die Charaktere gestaltet sind. Schiller ist hier der Mensch Schiller, mit alle seinen Stärken und Schwächen, mit den weniger sympathischen Seiten, dem hochemotionalen Wesen, dem unzerstörbaren Drang nach Freiheit. Genau so habe ich ihn mir vorgestellt, er ist meines Erachtens hervorragend getroffen. Aber auch seine Familie, seine Freunde und Kollegen, sowie weitere Menschen seines Umfelds gewinnen hier an Kontur, werden von aus Biographien bekannten Namen zu echten Menschen. Über den kurzen Auftritt meines verehrten Goethe habe ich mich natürlich sehr gefreut, und auch er ist in der kurzen Szene mit wenigen Worten hervorragend getroffen.

Besonders genossen habe ich die wundervoll geschilderten Szenen zwischen Schiller und seinen Freunden, zuerst im beklemmend-diktatorischen Umfeld der Schule, später in der Wildheit der zumindest teilweise erlangten Freiheit, dann bei der bemerkenswerten Unterstützung für Schiller in der Zeit seiner ersten Erfolge und Mißerfolge, die teilweise Hand in Hand gehen.

Auch Schillers Innerstes, seine Motivation, sein Leiden erfahren wir Leser unmittelbar und nachvollziehbar. Die Willkür des Herzogs, der sein Land ausblutete, um im Prunk zu leben, wird auf jeder Seite deutlich; das Leid, das seine Untertanen durch seine Macht- und Prachtgier durchleben mußten, wird uns schmerzlich bewußt, ebenso wie die Sprengkraft von Schillers Worten.

In diesem ohnehin erfreulichen Buch stechen dann einige Szenen durch ihre Intensität noch hervor. Schiller, der die erste Aufführung seiner Räuber erlebt - ich hatte das Gefühl, ich wäre dabei, so gut ist dies beschrieben. Der Besuch beim zehn Jahre lang eingekerkerten Dichter Schubart verströmt eine bemerkenswerte Mischung aus Gebrochenheit und Ungebrochenheit, aus Düsternis und Hoffnung.

Es hat Spaß gemacht, Schiller über diese Jahre hinweg zu begleiten, Udo Weinbörner hat Emotionen geweckt, Schiller lebendig gemacht, seine Welt für uns auferstehen lassen.

Veröffentlicht am 01.04.2019

Das 17. Jahrhundert ersteht neu auf - farbenprächtig und unterhaltsam

Die Henkerstochter (Die Henkerstochter-Saga 1)
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Oliver Pötzsch nimmt uns in "Die Henkerstochter" mit in eine aufregende Woche des Jahres 1659 und läßt die damalige Stadt Schongau vor unseren Augen auferstehen. Er tut dies ganz wundervoll. Pötzschs ...

Oliver Pötzsch nimmt uns in "Die Henkerstochter" mit in eine aufregende Woche des Jahres 1659 und läßt die damalige Stadt Schongau vor unseren Augen auferstehen. Er tut dies ganz wundervoll. Pötzschs Schreibstil ist lebendig, mitreißend. Es macht Spaß, das Buch zu lesen und man kann regelrecht eintauchen in seine Welt, sieht Patrizierhäuser, Markstände, Folterkeller und andere Orte vor sich. Durch über 500 Seiten schafft der Autor es, daß man nie vergißt, in welcher Zeit das Buch spielt, immer wieder flicht er unaufdringlich kleine Details ein, die einen daran erinnert: wir sind im Jahre 1659. Dies wirkt völlig mühelos, aber es muß eine unglaubliche Recherchearbeit dahinterstecken. Kompliment dafür, daß Pötzsch diese Vielzahl an historischen Informationen so elegant in die Geschichte einflicht, daß man die geschichtlichen Fakten beim Lesen einfach mitnimmt. Es gibt kein Infodumping, keine langatmigen Exkurse, die Geschichte lebt und die Handlung lebt durch sie. Ganz hinreißend ist dies und eine Freude zu lesen.

Genau wie die Schauplätze sind auch die Charaktere bemerkenswert konzipiert und erzählt. Allen voran Jakob Kuisl, der Henker. Ein Bär von einem Mann, rauhbeinig, aber auch warmherzig. Er hat einen wundervollen Humor, einen klaren Blick auf die Welt und ist von erfreulicher Gradlinigkeit. Als in Schongau Kinder ermordet werden und eine Hebamme unschuldig eingekerkert wird, mit dem Damokleschwert von Folter und Scheiterhaufen über ihr, geht Kuisl daran, die Wahrheit herauszufinden. Unterstützt wird er dabei von Simon, dem jungen Medicus. Dieser ist nun in fast allem das Gegenteil von Kuisl: klein, sensibel, unsicher, etwas eitel und zimperlich, aber ein grundanständiger Kerl, der erkennt, wie beengt die Welt jener Zeit ist. Kuisl und Simon zusammen sind ein göttliches Ermittlerpaar. Mit lakonischem Humor spielt Pötzsch mit den Gegensätzen der beiden Männer, schafft amüsante Situationen, zeigt aber auch, daß die beiden ihr Streben nach Wahrheit und Wissen zusammenhält und sie sich wohlgesonnen sind. Die Szenen zwischen ihnen gehören zu den besten Momenten dieses an tolle Szenen so reichen Buches.

Die Henkerstochter Magdalena ist zwar im Buchtitel verewigt, hat aber von ihrem Charakter und ihrer Involvierung in die Geschichte weit weniger Eindruck auf mich gemacht als Jakob Kuisl und Medicus Simon. Aber auch sie ist sehr gut konzipiert, strahlt lebendig von den Seiten. Die Nebencharaktere snd ebenfalls fühlbar, echt. Selten konnte ich Geschriebenes so deutlich vor Augen sehen wie in diesem Buch.

Die Geschichte wird recht gemächlich erzählt - über 500 Seiten für eine knappe Woche sagen ja schon einiges aus. Das paßt aber zu diesem Roman, der von seiner Umgebung genauso lebt wie von der Handlung. Es ist sehr spannend und es gibt viele überraschende Entwicklungen. Die Bedrohung, die nicht nur der gefangengenommenen Hebamme, sondern den Schongauer Frauen allgemein durch den Hexenwahn entsteht, wird eindringlich und gut dargestellt, ebenso wie die Ausweglosigkeit eines Menschen, der erst einmal in die Hände der Gerichtsbarkeit fällt. Wer würde unter der Folter nicht irgendwann alles zugeben, ganz gleich, ob schuldig oder nicht? Auch schön die Erwähnung der Wasserprobe für Hexen: geht die gefesselte Frau im Fluß nicht unter, dann ist sie eine Hexe und wird verbrannt. Geht sie unter, dann ist sie unschuldig, aber eben ertrunken und tot. Das macht laut der Ratsherren dann auch weniger Arbeit. Diese Rechtlosigkeit der Menschen, der geringe Wert eines menschlichen Lebens werden dadurch eindringlich illustriert, ebenso wie durch die gelegentlichen Rückblicke auf den Dreißigjährigen Krieg, während dem es zu unaussprechlichen Grausamkeiten kam und dessen ehemalige Soldaten noch lange mordend und plündernd durch die Lande zogen.

Der Schongauer Hexenprozeß, der siebzig Jahre vor dem hier geschilderten Geschehen tatsächlich in Schongau stattfand, liegt angesichts der geschehenen Morde drohend über Stadt und Roman. Man spürt, wie schnell es gehen kann, daß Frauen als Hexen denunziert und verbrannt werden. Die Hinweise auf diesen Prozeß wiederholen sich im Roman leider zu häufig. Bestimmt sechs- oder siebenmal warnen sich die Charaktere davor, daß ein solcher Prozeß wieder droht und irgendwann ist man diese Wiederholungen etwas leid. Das geht auch mit einigen anderen Themen so, die zu oft wiederholt werden.

Zum Ende des Buches hin wurde das Erzähltempo für mich leider nicht mehr so erfreulich. Bis dahin hätte das Buch glatte fünf Sterne bekommen, aber im letzte Teil erfolgt eine Art Showdown, der sich mehr als siebzig Seiten hinzieht und streckenweise zäh wirkt, wieder einiges wiederholt. Leider kommt er auch nicht ohne die so überbenutzte Szene aus, in der der Bösewicht seinem Verfolger brav alle Fragen beantwortet und alle Pläne darlegt, wodurch der Verfolger dann Zeit gewinnt. Da Pötzsch sonst so erfrischend neu und abwechslungsreich geschrieben hat, war es etwas enttäuschend, daß er auf dieses 08/15-Werkzeug zurückgegriffen hat. Auch werden zum Ende hin die Auflösungen der Morde und ihres Drumherums etwas zu oft wiederholt.

Die sind aber nur kleine Mankos in einem wundervoll farbenprächtigen Buch, das Geschichte auferstehen läßt und uns mit herrlichen Charakteren beglückt. Ein sehr persönliches Nachwort gibt Hintergrundinformationen zu den Kuisl, die tatsächlich zu Pötzschs Vorfahren gehören. Wenn Pötzsch in diesem Nachwort die uralten Stammbäume und Dokumente beschreibt, auf die er Zugriff hat, wird mein Ahnenforschungs- und geschichtsaffines Herz ein klein wenig neidisch. Er hat die ihm vorliegenden Informationen jedenfalls absolut brillant genutzt und mir viele erfreuliche Lesestunden bereitet. Das nächste Buch von ihm werde ich mir sehr bald kaufen.

Veröffentlicht am 15.03.2019

Ein historisch bemerkenswert dokumentierter Einblick

Abgehört
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„Abgehört“ ist ein ungewöhnliches und schwieriges Buch. Zugrunde liegen ihm Protokolle, die die Briten von abgehörten Gesprächen kriegsgefangener deutscher Generäle (und einiger anderer hochrangiger Wehrmachtsangehöriger) ...

„Abgehört“ ist ein ungewöhnliches und schwieriges Buch. Zugrunde liegen ihm Protokolle, die die Briten von abgehörten Gesprächen kriegsgefangener deutscher Generäle (und einiger anderer hochrangiger Wehrmachtsangehöriger) machten. Diese Gespräche wurden geführt, ohne daß die Deutschen sich der Abhörung bewußt waren, so sind sie von einer Unbefangenheit, die man in offiziellen Memoiren, Interviews und anderen Texten nie finden würde. Dadurch, daß wir in den Protokollen die direkte wörtliche Rede lesen, gewinnen diese Gesprächsausschnitte auch noch einmal eine starke Unmittelbarkeit.

Der erste Teil der Buches erklärt die Situation, in der die Protokolle erstellt wurden und teilt die Gespräche in vier Themenschwerpunkte auf (Meinungen zur Kriegslage, Kriegsverbrechen, 20. Juli, Kollaboration/Mitwirkung beim Neuaufbau). Hier werden die Gesprächsprotokolle zusammengefaßt, ein wenig erklärt, es gibt Hintergrundinformationen. Die eigentlichen Gesprächsprotokolle, ebenfalls in Kapiteln zu jenen Themenschwerpunkten aufgeteilt, finden sich dann auf rund 350 Seiten in der Mitte des Buches. Anschließend folgen Kurzbiographien der Gesprächsführenden, die auch eine Einschätzung des jeweiligen Charakters sowohl durch Wehrmachtsvorgesetzte wie auch Briten oder Amerikaner beinhaltet. So werden uns die Personen über den reinen Lebenslauf hinaus nähergebracht. Leider fehlten hier meistens Informationen zum Werdegang nach dem Krieg. Ein umfangreicher (über 100 Seiten) Fußnotenteil erklärt viele Punkte der Gesprächsprotolle, gibt Hintergrundinformationen, rückt manche Information in den historischen Kontext oder auch ins richtige Licht, denn auch unter sich sind die Herren nicht immer ganz ehrlich oder neigen manchmal zur Schönfärberei.

Vor dieser ausführlichen Bearbeitung, insbesondere den in den Biographien und Fußnoten zusammengetragenen Hintergrundinformationen, kann man nur höchsten Respekt haben. Das ist eine bemerkenswerte Historikerleistung. Die Fußnoten sind sehr ausführlich und wurden von mir häufig zu Rate gezogen. Da oben auf jeder Seite vermerkt ist, auf welche Seitenabschnitte sich die jeweiligen Fußnoten beziehen, ist die richtige Seite auch immer rasch gefunden - es entfällt das zähe Suchen nach Kapitelnummer und Fußnotennummer. Solch eine Benutzerfreundlichkeit ist so einfach, und trotzdem in Sachbüchern selten.

Die Vorbemerkungen sind hilfreich, aber sie nehmen schon vieles aus den Gesprächsprotokollen vorweg. Die Protokolle selbst sind ausgesprochen interessant, man bekommt hier sonst nicht mögliche Einblicke. Einige der Protokolle wiederholen sich im Inhalt ziemlich, gerade wenn es um die Kriegslage geht. Hier hätte einiges ausgelassen werden können, ohne daß der inhaltliche Eindruck beeinträchtigt worden wäre. Wie die Kriegslage gesehen wurde, welche Überlegungen man zur Zukunft anstellte, ist natürlich gerade mit heutigem historischen Wissen faszinierend zu lesen. Auch die inneren Einblicke in Gespräche mit führenden Köpfen der Diktatur waren lesenswert, manchmal - sofern man das in diesem Kontext überhaupt sagen kann - aufgrund der flapsigen Ausdrucksweise in den Protokollen fast amüsant. Ein Bericht behandelt ein vertrauliches militärisches Gespräch mit Göring, der wie ein chinesischer Mandarin in farbenfrohe Seide gekleidet und reichlich mit Juwelen behängt ist, das verwöhnte Töchterchen Edda spielt im Zimmer und unterbricht die Besprechung, weil ihr Perlenkettchen kaputt gegangen ist - das ist alles so grotesk und lächerlich, dazu so locker erzählt, daß man trotz allem schmunzeln muß.

Ein entsetzlicher Gegensatz dazu das Kapitel über Kriegsverbrechen. Hier konnte ich nur in ganz kleinen Abschnitten lesen. Man kennt die dort berichteten Verbrechen gegen die Menschlichkeit und doch ist es immer wieder furchtbar, darüber zu lesen. Aufschlußreich aber die Haltungen der sich Unterhaltenden hier. Es gibt einige wenige, die sich generell gegen diese Verbrechen aussprechen. Andere subsumieren es unter militärischer Notwendigkeit, oder empören sich gegen die Art und Weise, nicht aber dagegen, daß unzählige unschuldige Menschen, vom Baby bis zum Greis, qualvoll ermordet wurden. Besonders interessant - und erschreckend - ist es, daß sogar jene, die gegen die Nazidiktatur einstellt sind, häufig einen starken Antisemitismus zeigen und Verbrechen gegen ihre jüdischen Mitmenschen durchaus gerechtfertigt finden.

Eindringlich sind auch viele der Protokolle über den 20. Juli. Einer der Gesprächsführenden ist nach diesem Attentat verhaftet worden und berichtet darüber. Es krampft einem beim Lesen das Herz. Diese persönlichen Komponenten spielen auch eine Rolle, wenn diskutiert wird, inwieweit man sich aus der Gefangenschaft am Widerstand beteiligt (zB durch Radio- oder Zeitungsaufrufe). Hier ist allen sich in England in Sicherheit befindlichen Männern klar, daß sie dadurch ihre Familien in Gefahr bringen würden. Auch die Aussichtslosigkeit des Krieges wird sehr klar formuliert: „Man kann ja nichts weiter machen als nur sterben, denn wenn man zurückgeht, wird man ja erschossen. (…) Denn wenn sie vorne nicht totgehen, werden sie hinten totgemacht.“ Tod an der Front oder Tod durch die eigene Regierung, das war für die Soldaten die Realität.

Die unterschiedlichen Meinungen sind interessant zu lesen. Es gibt jene, die bis zum Ende jedes Wort gegen die Diktatur als Verrat ansehen. Jene, die den Nationalsozialismus als Idee weiterhin gut finden, nur an der Umsetzung hätte es eben gehapert. Und jene, die, entweder von Anfang an, oder durch ihre Kriegs- oder Gefangenschaftserfahrungen, wissen, welch verbrecherisches Regime da agiert. „Wir haben uns ja versündigt, nicht Sie und nicht ich, aber wir auch als Repräsentanten dieses Systems, indem wir gehaust haben gegen alle sittlichen Gesetze auf der ganzen Welt.“

Veröffentlicht am 04.03.2019

Eine Geschichte voller Sprachkunst, psychologischer Raffinesse und Verstörendem

Nada
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"Tief in der Nacht krochen dunkle Gewitterwolken wie endlos lange Finger über den Himmel. Schließlich erdrosselten sie den Mond."

Das oben wiedergegebene Zitat zeigt nicht nur die herrliche Sprachgewalt ...

"Tief in der Nacht krochen dunkle Gewitterwolken wie endlos lange Finger über den Himmel. Schließlich erdrosselten sie den Mond."

Das oben wiedergegebene Zitat zeigt nicht nur die herrliche Sprachgewalt dieses Buches, sondern faßt auch die herrschende Atmosphäre der Geschichte gut zusammen. Es ist ein ausgesprochen düsteres Buch, eine Welt voller Gewalt, Frustration, gestohlener Chancen, Grausamkeit und Depression. Wir begleiten die 18jährige Andrea, die voller Hoffnung auf neue Unabhängigkeit und ein interessantes Leben zu ihrem Studium nach Barcelona kommt, wo sie bei ihrer Familie leben wird. Es ist 1944, der Spanische Bürgerkrieg ist noch frisch in der Erinnerung und den Nachwirkungen, Francos brutale Diktatur in ihrer unnachgiebigsten Phase, Hunger und Mangel herrschen allenthalben (etwa 200.000 Spanier verhungerten in den 1940er Jahren aufgrund schlechter Rationen).

Carmen Laforet schrieb dieses Buch 1945, laut einiger Quellen ist es semibiographisch, auch wenn die Autorin dies abstritt. In jedem Fall kennt sie diese düstere Zeit aus eigener Erfahrung, studierte zudem ebenfalls in Barcelona und kennt auch die Stadt und ihre Situation in den 1940ern. Sie schrieb in einem Regine mit strenger Zensur, was erklärt, daß vieles im Buch ungesagt bleibt oder symbolisch verbrämt wird. Daß das Buch überhaupt veröffentlicht wurde, liegt daran, daß die Zensoren davon ausgingen, daß es kaum jemand kaufen würde und somit seine Wirkung unterschätzten. Wer es also mag, daß die Fäden der Geschichte am Ende verknüpft, die offenen Fragen geklärt sind, für den ist dieses Buch nicht das Richtige.

Andreas Optimismus schwindet schnell dem, was sie "Alptraum" nennt - ihrer zutiefst psychologisch auffälligen Familie, die in einer heruntergekommenen, vor Dreck starrenden Wohnung haust und sich beständig verbal und körperlich attackiert. Die Schilderungen von Wohnung und Familie sind ausgesprochen verstörend - und zugleich faszinierend. Kurze Rückblicke, Momentaufnahmen aus besseren Zeiten, zeigen uns, daß zumindest der soziale Status der Familie einmal ein ganz anderer war und es dort gepflegter und kulturell reicher zuging. So sind Wohnung und Familie symptomatisch für das, was auch Spanien in dieser Zeit erlebte - der Verlust der alten Werte, der Hoffnung, der Schönheit. Stattdessen das Leben als Überlebenskampf, der Einzug von Gewalt in den Alltag. Nach und nach erfahren wir mehr über die einzelnen Familienmitglieder und ich konnte das Buch kaum niederlegen, so gespannt war ich darauf, was sich als nächstes offenbaren würde, was wir über die Familie und ihr Trauma erfahren würden.

Kontrastierend dazu sind Andreas Erfahrungen an der Universität, mit der hübschen Ena aus gutem Hause, einer Gruppe Bohemiens, einigen jungen Männern, die an ihr bzw Ena interessiert sind. Sie sucht eine Welt außerhalb ihrer ver- und gestörten Familie und merkt, daß sie so richtig nirgendwo dazupaßt. Hier gab es im Buch einige Längen, im Mittelteil wurde mir zu viel von diesen Kontakten Andreas mit den diversen Gruppen geschildert. Mir fehlte das, was dieses Buch so außerordentlich machte - diese grenzenlose Abscheulichkeit der Familie und ihrer Wohnung. Auch sind manche Szenen des Buches zu überzeichnet und surreal für meinen Geschmack.

Zuletzt finden sich aber Verbindungen, manches zuvor belanglos Erscheinende ergibt Sinn (anderes nicht) und die letzten Kapitel sind fulminant, mit schockierenden Ereignissen und Entwicklungen. Es bleiben Rätsel, unbeantwortete Fragen, Unklarheiten, und das ist frustrierend, aber wie oben geschrieben muß man den Kontext beachten, in dem dieser Roman geschrieben wurde.

Das, was dieses Buch aber ganz besonders hervorhebt, was auch bei den weniger interessanten Passagen wie ein Geschenk war, ist der Schreibstil. Hier auch ein Kompliment an die Übersetzerin, die diese Sprachgewalt aus dem Spanischen so gut ins Deutsche gebracht hat. Selten habe ich so viele traumhaft schöne Sätze gelesen, so ein gelungenes Malen mit Worten erlebt, solche Sprachkunst genossen. Alleine dafür lohnt es sich, das Buch zu lesen.