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Veröffentlicht am 10.04.2024

Als Einführung und bei leichten Schlafstörungen hilfreich

Schlaf - Das Elixier des Lebens
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Als jemand mit einer über zwanzigjährigen „Karriere“ im Bereich Schlafstörungen bin ich ständig auf der Suche nach hilfreichen Informationen. Die gängigen, für mich leider nicht hilfreichen, Ratschläge ...

Als jemand mit einer über zwanzigjährigen „Karriere“ im Bereich Schlafstörungen bin ich ständig auf der Suche nach hilfreichen Informationen. Die gängigen, für mich leider nicht hilfreichen, Ratschläge kann ich mittlerweile herunterbeten und habe sie auch alle ausprobiert. An diesem Buch zog mich nun das Versprechen einer „revolutionären Schlafformel“ an, sowie die Tatsache, daß es sich bei den Autoren um Schlafmediziner mit umfangreicher und langjähriger Erfahrung handelt.
Meine Hoffnung, hier neue und/oder etwas tiefergehende Erkenntnisse zu erlangen, wurde leider nicht erfüllt. Dieses Buch ist ein fundierter, angenehm geschriebener Schlafratgeber, aber eben leider einer wie unzählige andere auch. Der Schreibstil ist erfreulich, wenn man mal von den leseflussunfreundlichen Doppelnennungen wie „Patientinnen und Patienten“ oder etwas albern klingenden künstlichen Begriffen wie „Schnarchende“ anstelle von „Schnarcher“ absieht. Auch die optische Gestaltung ist ansprechend und legt Wert auf Übersichtlichkeit.
Den mit 61 Seiten mit Abstand längsten Abschnitt nehmen allgemeine Informationen über den Schlaf ein, die z.B. darlegen, warum wir schlafen, welche Hormone eine Rolle spielen, welche Schlafpositionen und welche Schlaftypen es gibt. Dies wird alles zugänglich und verständlich geschildert, aber von recht wenig praktischem Wert für Leute mit Schlafstörungen, die ohnehin aus ureigener, schmerzlicher Erfahrung wissen, wie wichtig Schlaf ist, und denen die Sicht auf Träume während der Renaissance oder das Persönlichkeitsprofil von Seitenschläfern bei ihrem Problem wenig hilft. Allerdings finden sich auch hier schon immer wieder kleine Hinweise und Tips eingestreut. An sich ist ein allgemeiner Teil eine gute Idee, nur ist er hier im Verhältnis zum restlichen Inhalt wesentlich zu ausführlich ausgefallen. Wer sich für derlei Grundlagen interessiert, wird sie hier anschaulich und fundiert dargelegt finden.
Der zweite Teil, mit knapp über 40 Seiten, geht dann auf die verschiedenen Schlafstörungen ein. Hier fanden sich einige Fallbeispiele, über die ich mich sehr gefreut habe, denn es war u.a. diese direkte Erfahrung der Autoren in ihrem Beruf, die mich neugierig gemacht hatte. Auch zum Thema Schlafmittel und Alkohol findet sich hier Informatives. Erneut erfreut der zugängliche Schreibstil, der nie von oben herab wirkt. Im Vergleich zu dem sehr umfangreichen ersten Teil wird hier aber vieles knapp gehalten. Mehr Fallbeispiele hätten weitergehende Einblicke aus Betroffenensicht und in Behandlungsmöglichkeiten geben können. Auch schwerere Fälle kommen hier so gut wie nicht vor – es wird zutreffend erwähnt, daß dann ein Schlafmediziner hinzugezogen werden soll, und natürlich erwartet niemand, daß ein Buch einen Schlafmediziner ersetzt, aber hier hätten die beiden Autoren schlichtweg mehr von ihren Erfahrungen mit schwereren Fällen berichten und die arg ausgetretenen Bahnen von „kein Handy und kein schweres Essen vor dem Schlafengehen, ein ruhiges Zimmer und Lavendelöl“ etwas erweitern können. So las ich letztlich das, was ich schon unzählige Male gelesen habe.
Der letzte Teil widmet sich auf etwa vierzig Seiten dann endlich der „revolutionären Schlafformel“. Diese ist durchaus fundiert und bei leichten Schlafstörungen sinnvoll, enthält aber nichts Revolutionäres. Für Schlafproblemerfahrene wird dieser Ratgeber m.E. kaum etwas Neues beinhalten. Das Enthaltene ist aber sehr erfreulich formuliert, fundiert und zudem mit Übersichten ansprechend präsentiert.
Weitergehende Probleme werden hier angesprochen, allerdings nur sehr kurz. Natürlich ist zu beachten, daß es sich bei dem Buch um einen Kompaktratgeber handelt, aber die Gewichtung stimmt hier für mich nicht. Der Großteil des Buches widmet sich Hintergrundinformationen, die für Betroffene keinerlei praktische Hilfe bieten, während der praktische Teil zu kurz kommt und zudem letztlich das darlegt, was man an vielen anderen Stellen erfahren kann. Hier wurde für mich die Chance verschenkt, durch zwei praxisorientierte Fachleute Erfahrungswerte, Fallbeispiele und Ratschläge zu bekommen, die ein wenig über das Übliche hinausgehen und Menschen mit schwereren Schlafstörungen mehr Handhabe und Orientierung liefern. Wenn der überlange erste Teil um zehn Seiten gekürzt und dieser Raum dafür genutzt worden, dann wäre das hier ein Buch geworden, das aus den üblichen Schlafratgebern heraussticht und das besondere Wissen der Autoren hervorragend genutzt hätte. Die Chance wurde nicht genutzt. So ist es ein verständlich geschriebener, gut gestalteter Ratgeber von vielen, mit einer Vielfalt von Informationen für Leute mit leichten Schlafstörungen oder Leute, die sich mit dem Thema noch nicht befasst haben.

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Veröffentlicht am 28.03.2024

Hervorragender Schreibstil, inhaltlich leider etwas kurz gehalten

Gussie
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Über die zweite Ehefrau Konrad Adenauers wußte ich bislang überhaupt nichts und auch über Adenauers Hintergründe beschämend wenig, also war ich auf dieses Buch sehr neugierig. Der ausgezeichnete Sprachstil ...

Über die zweite Ehefrau Konrad Adenauers wußte ich bislang überhaupt nichts und auch über Adenauers Hintergründe beschämend wenig, also war ich auf dieses Buch sehr neugierig. Der ausgezeichnete Sprachstil hat mich dann gleich gefangengenommen und so ging ich die Lektüre mit hohen Erwartungen an, die auch fast vollständig erfüllt wurden.
Die Gestaltung des Buches ist hinsichtlich Einband und Vor- sowie Nachsatz ansprechend. Auf dem Titel findet sich ein Portrait Gussie Adenauers, welches wir dann im Vor- und Nachsatz als größeres Gemälde sehen, wodurch die Leser gleich einen visuellen Eindruck erhalten. Im Buch fand ich das etwas raue Papier weniger angenehm, aber das ist letztlich zweitrangig.
Die Geschichte wird auf zwei Zeitebenen erzählt. 1948 liegt die sterbende Gussie in ihrem Krankenhausbett und blickt auf ihr Leben zurück, welches dann in der zweiten Zeitebene ab 1915 erzählt wird. Die 1948-Szenen sind ausgesprochen schmerzhaft. Dieses stille Sterben, die Resignation, die über allem hängt, das melancholische Ergeben ins Schicksal und auch die Trauer der Umgebung sind mit wenigen wohlgesetzten Worten einfach wundervoll erzählt. Ich sah mich geradezu mit in diesem Krankenzimmer und spürte Trauer über dieses zu früh endende Leben nach Jahren des Leids in der Nazidiktatur. Die rührenden Briefauszüge verstärken dieses schwermütige Gefühl und sind überhaupt hervorragend eingesetzt.
Vor jedem Kapitel findet sich ein solcher Auszug aus Briefen an oder von Gussie. Diese passen immer ausgezeichnet zum Kapitel und mir gefielen sie im Buch mit am meisten, weil man so einen direkten Zugang zu den Menschen bekam. Ich war enttäuscht, im Nachwort zu lesen, daß es sich gar nicht um echte Briefauszüge handelt. Sie sind laut Autor zwar dem Ton der wirklichen Briefe nachempfunden, aber es wäre wesentlich authentischer gewesen, dann auch die wirklichen Auszüge zu nehmen. Leider wird auch nicht erklärt, warum dies nicht getan wurde.
Die Kapitel über Gussies Leben sind vignettenhaft. Wir erhalten kurze Einblicke, zwischen denen oft recht viele Jahre liegen. Das hat mir von der Konzeption her weniger gefallen. Die Ehejahre vor 1933 werden ausgesprochen kurz abgehandelt. Das mag natürlich daran liegen, daß es vielleicht nicht so viel zu berichten gab, aber dieser Vignettenstil verhinderte es für mich, mich den Charakteren zu nähern, auch hätte ich gerne ein umfassenderes Bild erhalten. Abgesehen von Gussie blieben mir dann auch alle anderen Charaktere recht fremd, was ich bedauerlich fand. Ab 1933 werden die Kapitel länger und dichter, aber auch hier wurde vieles zu kurz abgehandelt, über das ich gerne mehr gelesen hätte. Auch dem Verständnis mancher Situationen wären etwas mehr Hintergründe hilfreich gewesen. Dagegen gab es einige langatmige Passagen, insbesondere das Privatleben der Krankenschwester Gussies fand ich in diesem Rahmen höchst entbehrlich – gerade weil ich so viel lieber mehr über Gussie und Konrad Adenauer gelesen hätte. Es gibt viele Bücher, die sich in sich selbst verlieren und denen 50 Seiten weniger guttun würden – „Gussie“ hätte mir mit etwa 50 Seiten mehr noch besser gefallen.
Der Schreibstil ist eine wahre Freude. Christoph Wortberg kann mit Worten umgehen. Er schreibt reduziert und gleichzeitig wortgewaltig. Alle Szenen sind sehr anschaulich, schaffen Atmosphäre, lassen die jeweiligen Orte vor unseren Augen auferstehen. Gerade das Atmosphärische ist ausgezeichnet gelungen. Die Bedrohung durch die Nazis, ihre perfiden, widerlichen Methoden, die immer lastende Angst werden so hervorragend dargestellt, daß das Lesen oft beklemmend wird. Man merkt auf jeder Seite, daß hier ein Autor mit Können am Werk ist.
Ich habe aus diesem Buch viel gelernt und mich an der gelungenen Sprache erfreut. Eine bereichernde Lektüre.

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Veröffentlicht am 11.03.2024

Fundierte, menschlich berührende und ausgewogene Betrachtung

Zeit der Schuldigen
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In „Zeit der Schuldigen“ greift Markus Thiele den Mord an Frederike von Möhlmann auf, der durch eine Ende Oktober 2023 erfolgte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wieder neue Aktualität erlangte. ...

In „Zeit der Schuldigen“ greift Markus Thiele den Mord an Frederike von Möhlmann auf, der durch eine Ende Oktober 2023 erfolgte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wieder neue Aktualität erlangte. Die menschlichen Auswirkungen dieser durchaus fragwürdigen Entscheidung und eines manchmal ungerechten Rechtssystems zeigt Thiele in diesem Buch sehr nachdrücklich und vielfältig auf. Während der Autor sich hinsichtlich der Entwicklung des Falles und dessen juristischer Betrachtung eng an den wahren Fall hält, hat er alles andere fiktionalisiert. So entspricht auch die Beziehung zwischen Mordopfer und Täter der Fiktion, auch die Ermittler sind fiktive Personen.
Thiele entwickelt diese fiktiven Charaktere sehr ausführlich, was einerseits von Sorgfalt zeugt, andererseits für mich viele Szenen aber auch zu langatmig wirken ließ und zudem den Fokus manchmal zu sehr vom eigentlichen Fall wegnimmt. Gerade der Handlungsstrang der emotional instabilen Ermittlerin Anne, die den unbestraften Täter Jahrzehnte später entführt, ist im letzten Drittel des Buches sehr dominant, war für mich etwas zu übertrieben und behandelte dann zudem auch noch Annes Beziehungsleben, was ich überflüssig und teils auch etwas zu klischeehaft fand. Auch sonst waren mir manche privaten Hintergründe und philosophischen Betrachtungen zu ausführlich. Am besten fand ich den Mittelteil des Buches, der sich auf das Wesentliche konzentriert und die Geschichte für sich selbst sprechen läßt.
Insgesamt liest sich der Schreibstil aber erfreulich fundiert, flüssig und farbig. Der Autor ist Jurist, das macht sich angenehm bemerkbar. Er bietet uns einen sehr unmittelbaren Blick in die Ermittlungsarbeit und insbesondere die rechtliche Behandlung. Thiele hat nicht nur die Erfahrung und das Wissen zu dieser Thematik, er vermittelt sie zudem gekonnt und unterhaltsam. Dabei zeigt er stets Respekt für das Mordopfer und die Angehörigen, stellt einfühlsam deren Leid dar und macht auch deutlich, welche Härten die notwendigerweise versachlichten Prozesse in Ermittlungen und Rechtsprechung für Verbrechensopfer und ihre Angehörigen darstellen. Gleichzeitig bemüht er sich um eine ausgeglichene Betrachtungsweise und die Erklärung, warum manches, das menschlich grausam wirkt, juristisch durchaus seinen Sinn hat. Er verzichtet auf künstliche Dramatik, berichtet ruhig, realistisch und vermischt das Sachliche gekonnt mit dem Menschlichen.
Auch atmosphärisch weiß der Autor zu überzeugen. Gerade die Szenen mit dem Täter sind oft so farbig geschildert, daß man das Gefühl hat, dabei zu sein. Eine der Begegnungen zwischen dem späteren Mordopfer Nina und dem Täter Volker zeigt sein manipulatives und ihr jugendlich unsicheres Verhalten so gelungen auf, daß einem beim Lesen ganz unbehaglich zumute wird. Auch eine Verhörszene veranschaulicht das Feingefühl des Autors für menschliche Nuancen. Mit geschickt eingesetzten Details schafft Thiele die jeweiligen Atmosphären. Manchmal sind mir diese zu geballt genutzt, so hat die unablässige Erwähnung von allerlei 80er-Liedtiteln in den entsprechenden Szenen etwas Listenartiges, auch einige Leitmotive und das Stilmittel der Wiederholung werden etwas übertrieben.
Der Umgang mit den verschiedenen Zeitebenen ist dagegen durchweg gelungen, auch die Erzählstimmen klingen gekonnt unterschiedlich. Wir verfolgen den Fall über mehr als vierzig Jahre, der Autor wechselt die Zeitebenen stetig, dies aber immer sinnvoll und deutlich. Trotz der Zeitwechsel wirkt die Geschichte kontinuierlich und wie aus einem Guss, auch hier erkennt man wieder die Sorgfalt, die in dieses Buch geflossen ist.

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Veröffentlicht am 01.01.2024

Spannend, atmosphärisch, aber etwas konstruiert

Waiseninsel
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Waiseninsel beginnt mit einem ungemein spannenden und gruseligen Prolog der gleich neugierig macht. Was die Spannung betrifft, hält die Geschichte das, was der Prolog verspricht; langatmig wird es nie, ...

Waiseninsel beginnt mit einem ungemein spannenden und gruseligen Prolog der gleich neugierig macht. Was die Spannung betrifft, hält die Geschichte das, was der Prolog verspricht; langatmig wird es nie, nur auf den Privatkram der Ermittler und Jessicas Rückblicke hätte ich gerne verzichtet. Das ist aber etwas, das man bei Serien in Kauf nehmen muß. Störender fand ich, daß der Autor die Halluzinationen der Protagonistin Jessica benutzt, um es sich bequemer zu machen. Jessica hat Schizophrenie und dazu noch allerlei Vorbelastungen, die ich zu geballt fand und welche die Handlung gerade am Anfang häufig unterbrachen. Vorbelastete Ermittler sind ein überbenutztes Stilmittel des Genres, auch sonst greift der Autor immer wieder zu überbenutzten Versatzstücken. Abgesehen davon, daß ich es unglaubwürdig finde, daß Jessica im Polizeidienst arbeiten kann, erhält sie durch ihre Halluzinationen immer praktische Eingebungen, da hat der Autor es sich leicht gemacht. Auch manche zuerst gruselige oder spannende Momente entpuppen sich dann als Halluzination – so wird Spannung auf Kosten der Plausibilität erzeugt und ich fühle mich als Leser verulkt. Allerdings kann der Autor auch ohne derlei Hilfsmittel Spannung schaffen und eine gute Geschichte erzählen.

Die Atmosphäre ist das ganze Buch hindurch hervorragend geschildert. Der Großteil der Handlung findet auf einer Insel statt, auf welcher auch die Morde geschahen, und Seeck weiß diese Elemente zu nutzen. Der abgelegene Gasthof mit teils seltsamen Leuten, die ansonsten menschenleere Insel, ein verlassenes Kinderheim, eine gruselige Legende – all dies wird gekonnt verwebt, immer herrscht leichte Beklemmung und jeder scheint ein Geheimnis zu haben. Der historische Hintergrund ist ebenfalls ausgezeichnet ausgesucht und geschildert – hier sind wir im Jahr 1946 in einem Kinderheim, mit einer Gruppe Kinder, die zuerst vor dem Krieg evakuiert wurden und anschließend in einem tragischen Unfall ihre Eltern verloren. Hier rührt die Geschichte der kleinen Maija, die so eindringlich und gefühlvoll erzählt wird, daß es einem beim Lesen das Herz bricht. Man leidet mit ihr und die Erzählweise hat etwas ungemein Sensibles – auch hier zeigt sich wieder das Gespür des Autors für Atmosphäre.

Der Fall selbst ist dann verwickelt und geht in vielerlei Hinsicht in die Tiefe. Die Ermittlungen bringen zahlreiche neue Rätsel und der Autor versteht es, falsche Fährten zu legen. In einem Fall geschah mir das etwas zu plump, aber es gelang jedes Mal, mich zu überraschen, und man merkt, daß hier sorgfältig überlegt und konzipiert wurde. Die Auflösung fand ich leider nicht gänzlich plausibel und sie zeigt auch rückblickend, daß die Geschichte insgesamt zu konstruiert ist. Einen Großteil dieser Auflösung erfahren wir übrigens durch das albernste Stilmittel, auf das fast jeder Krimiautor zurückgreift, obwohl es überbenutzt und komplett unrealistisch ist: im unvermeidlichen Showdown berichtet der Täter seinem künftigen Opfer und/oder anwesenden Ermittlern erst einmal ausführlich von all seinen Taten, Motiven und Vorgehensweisen. Es ärgert mich, daß den Lesern diese lächerliche Szene immer noch in fast jedem Roman dieses Genres vorgesetzt wird, das schwächt eine Autorenleistung ganz erheblich. Seeck beweist in dem Buch zwar, daß er kreative Wege gehen kann, macht es sich aber eben auch oft zu einfach.

So hatte „Waiseninsel“ für mich durch Jessicas diverse persönliche Probleme, die konstruierte Geschichte, die teilweise fehlende Plausibilität und die überbenutzten Krimiklischees mehrere Mankos, allerdings bot das Buch auch prächtige und gekonnte atmosphärische Schilderungen, interessante Einblicke in das finnische Leben und eine überaus gelungene historische Komponente, die sowohl thematisch spannend als auch ausgezeichnet geschildert war. Ich konnte in die Geschichte eintauchen, spannende und leicht gruselige Szenen genießen und wurde überwiegend ausgezeichnet unterhalten.

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Veröffentlicht am 16.11.2023

Herrlich bebilderte, etwas summarische Reise durch Berlins Dörfer

Idyllisches Berlin
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Auf den ersten Blick mag man denken, daß „idyllisch“ und „Berlin“ ein Gegensatz ist, und so war ich besonders neugierig auf die angekündigten „schönsten Dörfer der Stadt“. Nachdem ich dieses Buch mit Freude ...

Auf den ersten Blick mag man denken, daß „idyllisch“ und „Berlin“ ein Gegensatz ist, und so war ich besonders neugierig auf die angekündigten „schönsten Dörfer der Stadt“. Nachdem ich dieses Buch mit Freude gelesen habe, kann ich sagen, daß Gary Schunacks Bestreben, seinen Lesern ein fast unbekanntes Berlin zu zeigen, absolut gelungen ist. Ich habe Berlin hier von einer unerwarteten Seite kennengelernt und diese leserischen Ausflüge genossen.

Das Buch ist liebevoll gestaltet. Das beginnt schon beim Titelbild, bei dem ein Huhn, ein Reiher, ein Schmetterling und ein Gartenzwerg als zeichnerische Elemente eingebaut sind, und setzt sich im Buch fort. Die 45 Kapitel (ja, so viele dörfliche Oasen gibt es in Berlin!) haben originelle Titel, die neugierig machen und die wesentlich gelungener sind als sterile Ortsangaben. Jedes Kapitel beginnt mit einigen relevanten Angaben und einem kleinen Umriss von Berlin, in welchem der entsprechende Ort mit einem Punkt eingezeichnet ist. Sehr erfreulich übersichtlich. Hinten im Buch findet sich auf einer Doppelkarte eine größere Ansicht von Berlin, in welche die Lage aller 45 Orte mit nummerierten Kreisen verzeichnet ist, so hat man gleich einen nützlichen Gesamtüberblick. Schade finde ich, daß die Nummern nicht gruppiert sind, so steht hier die 11 neben der 37, die 9 neben der 24, die 2 neben der 22 usw. Für eine Ausflugsplanung fände ich es sinnvoller, die Kapitel nach Lage zu ordnen, auch ein thematischer Grund für die Reihenfolge ist für mich nicht ersichtlich, so daß es etwas sprunghaft wirkt. Allerdings ist das kein erhebliches Manko.

Jedes Kapitel besteht aus einem ganzseitigen Foto, einer Textseite, einer Seite mit mehreren Fotos und einer Übersichtsseite mit Informationen zur nächsten Haltestelle, dem nächsten Parkplatz, einem Einkehrtip und drei Highlights, welche mit einem weiteren Foto abschließt. So sind auch die Kapitel übersichtlich und optisch ansprechend gestaltet. Die vielen Fotos – alle in Farbe – waren eine wahre Freude. Abgesehen von einem stammen alle vom Autor selbst und zeigen damit, welche Hingabe hier einfloss. Die Fotos sind gelungen und fangen die jeweilige Atmosphäre hervorragend ein, sind dazu noch ein visuelles Vergnügen. Es hat Spaß gemacht, auf diese Weise fotografisch durch Berlin zu reisen.

Etwas enttäuscht hat mich der geringe Textanteil. Gerade am Anfang war ich immer irritiert, wenn der Text schon zu Ende war, als ich mich gerade in das jeweilige Kapitel eingelesen habe. Auch wenn ich mich beim Lesen schließlich an die knappen Überblicke gewöhnt habe, blieb es ein Wermutstropfen. Die Texte liefern durchaus gelungene Zusammenfassungen des jeweiligen historischen Hintergrunds, der Atmosphäre und sehenswerter Punkte, auch erfahren wir immer wieder unterhaltsame Fakten wie das Vorhandensein einer noch in Nutzung befindlichen Telefonzelle von 1934, die Herkunft eines ungewöhnlichen Ortnamens oder der sich in einem Fisch an einer Kirchenwetterfahne manifestierende Stolz eines Fischerdorfes – es sind genau solche Informationen, die ein Buch charmant machen und aus der Masse herausheben. Insgesamt sind es aber eben Zusammenfassungen und ich merkte immer wieder, daß ich zu diesem und jenem viel mehr hätte lesen wollen. Schon die Übersichtsseite mit viel weißer Fläche hätte durchaus Raum für eine weitere halbe Textseite gegeben, ohne das Format zu beeinträchtigen. Dem Summarischen fallen dann auch manche notwendigen Informationen zum Opfer, die ohne großen Aufwand hätten eingefügt werden können. So wird im Kapitel über Nikolskoe erwähnt, „die Tochter des Königs von Preußen“ hätte „den Sohn von Großfürst Nikolai“ geheiratet. Welche Tochter es war oder in welchem Jahr das geschah, um welchen König von Preußen es ging – kein Wort. Googlen ergab, daß es sich um die 1817 erfolgte Eheschließung zwischen Charlotte von Preußen und dem künftigen Zar Nikolaus I handelte (der übrigens der Sohn von Zar Paul I war – also ist die Angabe „Sohn von Großfürst Nikolai“ zudem falsch). Auch bei den drei angegebenen Highlights pro Kapitel hätte ich manchmal sehr gerne gewusst, warum dieses Highlight denn nun ein Highlight ist. Hier hätte es schon einen gewaltigen Unterschied gemacht, anstatt von knappen Stichpunkten einfach ein oder zwei Sätze zu jedem Highlight zu schreiben – genug freie Fläche ist auf den entsprechenden Seiten durchaus vorhanden und ich lese ein Buch ja, um die Fakten dort zu erfahren, nicht um Stichworte googlen zu müssen. Auch hätte ich mir gelegentlich eine Bildbeschriftung gewünscht – die Bilder geben einen Gesamteindruck und sprechen meistens für sich selbst, doch hier und da wäre es hilfreich gewesen, zu wissen, was dort abgebildet ist.

Zusätzlich zu dem inhaltlichen Fehler fielen mir auch häufig grammatikalische Fehler, insbesondere beim Satzbau, auf, in einem Fall gleich drei auf einer Seite. So angenehm und flüssig der Text auch geschrieben ist, diese Fehler waren ärgerlich und beeinträchtigten das Lesevergnügen.

Insgesamt lesen sich die Texte aber gut und das Buch enthält eine Menge interessanter und nützlicher Informationen, vier themenbezogene Kapitel komplettieren die ortsbezogenen Informationen anschaulich. Zusammen mit den ansprechenden Bildern kann man auf eine herrlich idyllische Reise gehen, tolle erste Eindrücke gewinnen und Orte kennenlernen, die sogar vielen Berlinern unbekannt sind. Die persönliche Hingabe des Autors für sein Thema ist spürbar und trägt erheblich zu diesem erfreulichen Buch bei.

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