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Veröffentlicht am 01.01.2024

Spannend, atmosphärisch, aber etwas konstruiert

Waiseninsel
7

Waiseninsel beginnt mit einem ungemein spannenden und gruseligen Prolog der gleich neugierig macht. Was die Spannung betrifft, hält die Geschichte das, was der Prolog verspricht; langatmig wird es nie, ...

Waiseninsel beginnt mit einem ungemein spannenden und gruseligen Prolog der gleich neugierig macht. Was die Spannung betrifft, hält die Geschichte das, was der Prolog verspricht; langatmig wird es nie, nur auf den Privatkram der Ermittler und Jessicas Rückblicke hätte ich gerne verzichtet. Das ist aber etwas, das man bei Serien in Kauf nehmen muß. Störender fand ich, daß der Autor die Halluzinationen der Protagonistin Jessica benutzt, um es sich bequemer zu machen. Jessica hat Schizophrenie und dazu noch allerlei Vorbelastungen, die ich zu geballt fand und welche die Handlung gerade am Anfang häufig unterbrachen. Vorbelastete Ermittler sind ein überbenutztes Stilmittel des Genres, auch sonst greift der Autor immer wieder zu überbenutzten Versatzstücken. Abgesehen davon, daß ich es unglaubwürdig finde, daß Jessica im Polizeidienst arbeiten kann, erhält sie durch ihre Halluzinationen immer praktische Eingebungen, da hat der Autor es sich leicht gemacht. Auch manche zuerst gruselige oder spannende Momente entpuppen sich dann als Halluzination – so wird Spannung auf Kosten der Plausibilität erzeugt und ich fühle mich als Leser verulkt. Allerdings kann der Autor auch ohne derlei Hilfsmittel Spannung schaffen und eine gute Geschichte erzählen.

Die Atmosphäre ist das ganze Buch hindurch hervorragend geschildert. Der Großteil der Handlung findet auf einer Insel statt, auf welcher auch die Morde geschahen, und Seeck weiß diese Elemente zu nutzen. Der abgelegene Gasthof mit teils seltsamen Leuten, die ansonsten menschenleere Insel, ein verlassenes Kinderheim, eine gruselige Legende – all dies wird gekonnt verwebt, immer herrscht leichte Beklemmung und jeder scheint ein Geheimnis zu haben. Der historische Hintergrund ist ebenfalls ausgezeichnet ausgesucht und geschildert – hier sind wir im Jahr 1946 in einem Kinderheim, mit einer Gruppe Kinder, die zuerst vor dem Krieg evakuiert wurden und anschließend in einem tragischen Unfall ihre Eltern verloren. Hier rührt die Geschichte der kleinen Maija, die so eindringlich und gefühlvoll erzählt wird, daß es einem beim Lesen das Herz bricht. Man leidet mit ihr und die Erzählweise hat etwas ungemein Sensibles – auch hier zeigt sich wieder das Gespür des Autors für Atmosphäre.

Der Fall selbst ist dann verwickelt und geht in vielerlei Hinsicht in die Tiefe. Die Ermittlungen bringen zahlreiche neue Rätsel und der Autor versteht es, falsche Fährten zu legen. In einem Fall geschah mir das etwas zu plump, aber es gelang jedes Mal, mich zu überraschen, und man merkt, daß hier sorgfältig überlegt und konzipiert wurde. Die Auflösung fand ich leider nicht gänzlich plausibel und sie zeigt auch rückblickend, daß die Geschichte insgesamt zu konstruiert ist. Einen Großteil dieser Auflösung erfahren wir übrigens durch das albernste Stilmittel, auf das fast jeder Krimiautor zurückgreift, obwohl es überbenutzt und komplett unrealistisch ist: im unvermeidlichen Showdown berichtet der Täter seinem künftigen Opfer und/oder anwesenden Ermittlern erst einmal ausführlich von all seinen Taten, Motiven und Vorgehensweisen. Es ärgert mich, daß den Lesern diese lächerliche Szene immer noch in fast jedem Roman dieses Genres vorgesetzt wird, das schwächt eine Autorenleistung ganz erheblich. Seeck beweist in dem Buch zwar, daß er kreative Wege gehen kann, macht es sich aber eben auch oft zu einfach.

So hatte „Waiseninsel“ für mich durch Jessicas diverse persönliche Probleme, die konstruierte Geschichte, die teilweise fehlende Plausibilität und die überbenutzten Krimiklischees mehrere Mankos, allerdings bot das Buch auch prächtige und gekonnte atmosphärische Schilderungen, interessante Einblicke in das finnische Leben und eine überaus gelungene historische Komponente, die sowohl thematisch spannend als auch ausgezeichnet geschildert war. Ich konnte in die Geschichte eintauchen, spannende und leicht gruselige Szenen genießen und wurde überwiegend ausgezeichnet unterhalten.

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Veröffentlicht am 31.08.2021

Spannende Unterhaltung mit Logikfehlern

Dein dunkelstes Geheimnis
6

Die Geschichte hat mich gleich angesprochen: Kathryns Vater sitzt seit 25 Jahren im Gefängnis, weil er wegen Mordes an einem kleinen Mädchen verurteilt wurde. Kathryn, die beste Freundin dieses Mädchens, ...

Die Geschichte hat mich gleich angesprochen: Kathryns Vater sitzt seit 25 Jahren im Gefängnis, weil er wegen Mordes an einem kleinen Mädchen verurteilt wurde. Kathryn, die beste Freundin dieses Mädchens, leidet schon ihr ganzes Leben darunter, und nun stellen sich durch das Verschwinden eines weiteren kleinen Mädchens Fragen auch zur damaligen Tat und der Schuld des Vaters. Die nun folgenden Geschehnisse erfahren wir aus verschiedenen Blickwinkeln, hauptsächlich dem Kathryns. Kathryn ist eine gelungen sperrige Protagonistin und als Ich-Erzählerin natürlich nicht gänzlich verlässlich, was eine interessante Komponente hineinbringt.

Ein weiterer Blickwinkel ist der Maggies, der Ermittlerin im neuen Vermisstenfall. Dies war ein Charakter, den ich nicht gelungen fand. Zu Beginn zeichnet sie sich durch extreme Schroffheit aus und außerdem erhalten wir völlig unnötige, vielfältige Einblicke in ihre Libido. Ihre Affaire mit einem verheirateten Kollegen ist für die Handlung ebenso irrelevant wie ihr teenagerartiges Ansabbern eines anderen Kollegen, oder die Information, daß sie „absolut heiß“ ist und die Kamera „sie liebt“. Später führt sie noch ein ebenfalls für die Geschichte irrelevantes Problemgespräch mit ihrer Mutter. Es schien mir, als ob diese Eigenschaften ihr einfach nach einer Checkliste aufgepfropft wurden – hat keine Relevanz, muß aber irgendwie rein. Es gab noch einige andere Faktoren im Buch, bei denen ich den Eindruck hatte, hier sollte etwas um seiner selbst Willen hinein.

Besonders unerfreulich fand ich in dieser Hinsicht den Charakter einer Nachbarin Kathryns, die fast nur eine Eigenschaft hat: sie stößt Leute verbal gerne vor den Kopf. Diese Unverblümtheit wird von allen als unglaublich originell betrachtet und jeder kommentiert es mehrfach. Ich weiß nicht, ob die Autorin damit eine humoristische Note hineinbringen wollte, ich fand es überflüssig und albern, zur Geschichte trug dieser Charakter so gut wie nichts bei, es passte nicht zur Stimmung des Buches, ganz zu schweigen davon, daß ihre Einbindung in Ermittlungen völlig unrealistisch ist. Auch sonst unterlag die Beschreibung mancher Ermittlungstätigkeit ziemlichen kreativen Freiheiten.

Das Erzähltempo ist gut. Ich habe mich keinen Moment lang gelangweilt, es gab immer wieder neue, überraschende Wendungen und zahlreiche Aspekte, die zum Rätseln einluden. Hier ist fast alles nicht so, wie es scheint, und schon dadurch bleibt es spannend. Rückblickend stellte sich allerdings heraus, daß dies häufig auf Kosten der Plausibilität geht und einige der rätselhaften Aspekte rückblickend keinen Sinn ergeben. Viele erwähnte Punkte werden zudem einfach fallengelassen, Fragen bleiben offen und manchmal scheint es, als ob die Autorin Teile ihrer eigenen Handlung einfach vergessen hätte. Das fand ich bedauerlich und das wäre mit sorgfältigerer Konzipierung vermeidbar gewesen.

Der Schreibstil ist eingängig, nicht überragend, aber für einen Krimi gut lesbar. Ein etwas sorgfältigeres Korrektorat wäre erfreulich gewesen, gerade was fehlerhafte Satzkonstruktionen angeht. Auch an Wiederholungen hätte gespart werden können.

Die Geschichte spielt größtenteils auf der Insel Anglesey in Wales, eine recht eigene Welt, die uns anschaulich beschrieben wird. Hier blitzt auch teilweise gelungen trockener Humor durch. Das Eintauchen in diese Welt hat mir gefallen, ebenso wie die Einbindung eines Kriminalforums. Die Geschichte bleibt das ganze Buch hindurch erfreulich facettenreich.

Die Auflösung der Geschichte war für mich überraschend und auch der Weg dahin bringt viel Unerwartetes. Allerdings war die Auflösung leider in mehrfacher Hinsicht nicht plausibel, außerdem wirkt das Ende überhastet und fast lieblos heruntergeschrieben. Es wirft interessante Fragen und Überlegungen auf, war originell, aber eben nicht überzeugend.

So bietet das Buch zweifellos spannende, gut lesbare Unterhaltung, mit einer abwechslungsreichen Geschichte voller Überraschungen, die durch mehr Plausibilität und weniger Logikfehler allerdings überzeugender gewesen wäre.

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  • Handlung
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  • Charaktere
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  • Spannung
Veröffentlicht am 22.02.2021

Hier wurde zu viel gewollt und dadurch zu wenig erreicht

Die vier Gezeiten
5

Das Buch hat mich durch das hinreißende Titelbild und einen originellen Anfang sofort angezogen. Es beginnt mit einem Tagebucheintrag, in der eine geplante Selbsttötung durch Ertrinken mit fast wissenschaftlicher ...

Das Buch hat mich durch das hinreißende Titelbild und einen originellen Anfang sofort angezogen. Es beginnt mit einem Tagebucheintrag, in der eine geplante Selbsttötung durch Ertrinken mit fast wissenschaftlicher Distanz betrachtet wird. Im nächsten Kapitel finden wir uns mitten in einer offensichtlich nicht harmonischen Familie, in die eine junge Frau namens Helen platzt, die offensichtlich mit ihnen verwandt ist – nur wie? Dies ist der Auslöser für die Geschichte der Juister Familie Kießling, die bis ins Jahr 1934 zurückgeht. Diese Geschichte wird, wie in momentan fast jedem Roman dieser Art, durch zahlreiche Rückblenden erzählt. Ich fand das erste Drittel des Buches teilweise etwas verwirrend, denn es taucht eine Vielzahl an Charakteren auf, die oft nicht wirklich vorgestellt werden. Die Rückblenden werden aus der Sicht Johannes und ihrer Tochter Adda erzählt, so dass es teilweise mit Epochen, Perspektiven und Charakteren etwas zu viel wurde. Nach und nach wurde ich aber mit den Charakteren vertraut – allerdings sind es einfach zu viele von ihnen und manche kommen so am Rande vor, dass ich auch am Ende des Buches bei manchen Namen erst mal überlegen mußte, wer denn das nun wieder ist.

Die Geschichte weiß, Spannung zu erzeugen. Aufhänger ist die Frage, wie Helen mit der Familie verwandt ist. Allerdings tritt dies ziemlich in den Hintergrund, Helen kommt über weite Strecken des Buches kaum vor, führt dann ähnliche Unterhaltungen mit diversen Familienmitgliedern. Am Ende wird das Geheimnis um ihre Herkunft ziemlich abrupt und unbefriedigend aufgelöst. Die Umstände ihres Erscheinens und ihrer Suche sind leider sehr konstruiert. Dies ist auch bei anderen Handlungssträngen öfter der Fall, Logik und Plausibilität mußten zu oft in den Hintergrund treten. Viele Entscheidungen und Entwicklungen der Charaktere sind ebenfalls nicht nachvollziehbar – gerade bei Johanne wurde der Zeitabschnitt, in dem sich wohl wichtige charakterliche Entwicklungen abspielten, gar nicht behandelt. Auch fand ich nicht plausibel, dass Helens Erscheinen plötzlich das jahrzehntelange Schweigen in der Familie beendet. Ein Großteil des Buches hat mit Helens Herkunft letztlich auch gar nichts zu tun, wir gehen hier zurück in Johannes Jugend in den 1930ern, später Addas Jugend in den 1950ern. Dieser Teil hat mir am besten gefallen. Zwar sind die Geschehnisse ziemlich konventionell – dies alles hat man schon in zahlreichen Büchern über diese Epochen so gelesen – und dadurch vorhersehbar, aber sie sind gut erzählt und dazu noch wundervoll in die Juister Atmosphäre eingebettet. Dieser Juister Hintergrund war für mich der stärkste Teil des Buches. Die Autorin schafft es, die Insel vor meinen Augen erscheinen zu lassen. Hier wird mit soviel Liebe, Können und Wissen geschildert, dass das Lesen ein Genuß ist. Auf gelungene Weise wird die Geschichte Juists in die Geschichte verwebt, ich habe viel gelernt, auch finden sich hier Charaktere, die liebevoll und sorgfältig konzipiert wurden (anders als z.B. die Töchter Addas, die größtenteils völlig blass bleiben). Auch die Atmosphäre der 1930er und 1950er ist ausgezeichnet geschildert und eingefangen. Wenn sich das Buch auf diese Dinge konzentriert hätte, wäre es für mich ein 5-Sterne-Buch geworden.

Leider aber will die Autorin für meinen Geschmack zu viel. Neben der Vielzahl an Charakteren kommen dann auch zahlreiche Familiengeheimnisse ans Licht. Gerade im letzten Drittel folgt ein neues Thema dem anderen und es wurde zunehmend unglaubwürdig, was alles vorgefallen und verschwiegen wurde und nun auf einmal aufgedeckt wird. Dann werden auch manche Klischees überbenutzt, gerade beim Thema unerwünschter Schwangerschaften kam ich mir als Leser am Ende geradezu verulkt vor. Auch die Zeitgeschichte bis in die 1980er findet Eingang in die Geschichte, dies aber im Schnelldurchlauf, ohne die erzählerische Dichte der vorherigen im Buch behandelten Epochen. Weniger ist mehr, das habe ich beim Lesen oft gedacht.

So war „Die vier Gezeiten“ für mich ein Buch, das einerseits durch wundervolle Atmosphäre, eine gelungene Verwebung von Zeit- und Familiengeschichte und herrlich erzählte Szenen eine wahre Freude war, aber durch zu viele Charaktere, zu viele Handlungsstränge, zu viele Klischees und zu viele dadurch rasch abgehandelte Aspekte enttäuschte.

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  • Story
Veröffentlicht am 03.06.2024

Ungewöhnliche, gekonnt aufgebaute Geschichte

Der König und der Uhrmacher
3

„Der König und der Uhrmacher“ machte mich gleich durch das ungewöhnliche Sujet neugierig: die Reparatur einer alten Uhr, der Hof des dänischen Königs Christian VII, ein isländischer Autor und die Ankündigung ...

„Der König und der Uhrmacher“ machte mich gleich durch das ungewöhnliche Sujet neugierig: die Reparatur einer alten Uhr, der Hof des dänischen Königs Christian VII, ein isländischer Autor und die Ankündigung dramatischer Ereignisse um aufgedeckte Intrigen. Eine Kombination, die neugierig macht.

Der Schreibstil hat mich anfangs gefangengenommen. Die Szenen, in denen der König, ruhelos im Palast umherschlendernd, auf den Uhrmacher Jón bei der Arbeit trifft und ihm zunächst mit der ganzen Wucht der königlichen Arroganz begegnet, sich dann aber zwischen den beiden ganz vorsichtig und von äußeren Einflüssen frei eine Vertrautheit aufbaut, sind ausgezeichnet geschildert. Man sieht die Szenen richtiggehend vor sich und der Autor versteht es, mit wenigen Worten farbige Beschreibungen zu schaffen.
Der zweite, in Island spielende Handlungsstrang entfaltete die Wirkung leider lange nicht. Hier wird berichtsartig geschildert, mit viel indirekter Rede, oft etwas trocken. Obwohl die Lebensumstände im Island des 18. Jahrhunderts interessant sind, ließen mich die Charaktere lange unberührt und die Erzählweise enttäuschte mich. Dies ändert sich im letzten Drittel des Buches, wenn die Szenen durch Dialoge und Unmittelbarkeit schlagartig an erzählerischer Wucht gewinnen.

So war ich vom Schreibstil also hin- und hergerissen. Auch einige holprige Sätze (z.B. „Aber dann wurde er wieder freigelassen, aber er hatte natürlich …“) und oft zu moderne Wortwahl störten mich beim Lesen. Ich kann nicht beurteilen, wie es im Originaltext ist, aber in der deutschen Übersetzung hatte ich zwischendurch eher ein Gefühl vom 20. Jahrhundert als vom 18. Jahrhundert, wenn Begriffe wie „soll sich verziehen“, „Nutten“, „geht in Ordnung“ oder „schick“ verwendet wurden.
Auch die Angewohnheit des Autors, bereits Berichtetes noch einmal durch einen Charakter erzählen zu lassen, beeinträchtigte mein Lesevergnügen. Es kam recht häufig vor, daß man als Leser bei einer Szene ausführlich dabei ist und ein Charakter eben diese Szene noch einmal einem weiteren Charakter schildert. Dies ging in einem Fall über eine ganze Seite. Derlei Wiederholungen tragen wenig bei und irritieren.
Andererseits gibt es Formulierungen, welche die reinste Freude sind und gelungen, manchmal lakonisch oder gar mit trockenem Humor ungemein treffende Bilder zeichnen, z.B. diese Beschreibung: „Der Prinz strahlte eine Gleichgültigkeit aus, vielleicht die Tristesse eines Menschen, der immer alles bekommen hatte, was er wollte, und nicht mehr fähig war, sich an den Dingen zu erfreuen.“

Ausgezeichnet gelungen ist auch das Verweben historischer Fakten mit der Geschichte. Dies geschieht elegant-natürlich, nie hatte ich ein Gefühl von Infodumping. Vielen historischen Romanen merkt man leider an, wenn Fakten um ihrer selbst willen hineingestopft wurden. Hier war das nie der Fall, die Leser erfahren beim Lesen eine ganze Menge interessanter und gut recherchierter historischer Fakten im ganz natürlichen Lesefluss, gelungen verwebt und dargestellt. Das hat mir ausgezeichnet gefallen.

Auch die Geschichte selbst überzeugt. Das Ende fand ich ein wenig antiklimaktisch und die Klappentextankündigung dramatischer Ereignisse eher vollmundig, andererseits hat das Ende eine interessante Facette, in welcher die Uhr eine unerwartete Rolle spielt.
Die besondere Gesetzeslage im Island jener Zeit wurde ausgezeichnet als Ausgangspunkt genutzt, um eine ungewöhnliche Geschichte zu kreieren und einen überraschenden Bogen zur persönlichen Geschichte des Königs zu schlagen.
Die Reparatur der Uhr ist letztlich eine Art Rahmenhandlung, entwickelt aber ihren eigenen Zauber und fasziniert. Auch wird sie gekonnt genutzt, um Verbindungen zu weiteren Handlungselementen zu schaffen. So entdeckt der Uhrmacher bei der Suche nach verkauften Teilen der Uhr neue Orte und lernt Menschen kennen, die in der weiteren Entwicklung eine Rolle spielen. Die Handlungsstränge selbst sind von erfreulicher Originalität und nutzen die historischen Gegebenheiten, um sich von den ewiggleichen Themen so vieler historischer Romane wegzubewegen.

Selbst wenn ich stilistisch nicht gänzlich überzeugt war, hat „Der König und der Uhrmacher“ sehr vieles, was hervorragend umgesetzt ist und das Buch zu einer lohnenden und erfreulichen Lektüre macht.

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Veröffentlicht am 16.09.2019

Geruhsam erzählte Reise zu sich selbst

Gestern ist ein ferner Ort
3

"Gestern ist ein ferner Ort" hat mich durch Klappentext und Leseprobe gleich interessiert. Wir lernen Celia kennen, die nach einem Schlaganfall im Koma lag und nun unter partieller Amnesie leidet. Celia, ...

"Gestern ist ein ferner Ort" hat mich durch Klappentext und Leseprobe gleich interessiert. Wir lernen Celia kennen, die nach einem Schlaganfall im Koma lag und nun unter partieller Amnesie leidet. Celia, das erkennen wir sofort, ist eine energische und intelligente Dame, die bislang offenbar selbstbestimmt und erfolgreich gelebt hat. Nun von ihrer Umwelt, insbesondere ihrer Tochter Paula, wie eine Invalidin behandelt zu werden, geht ihr verständlicherweise gegen den Strich. Sehr schön wird uns im ersten Teil des Buches geschildert, wie Celia und Paula umeinander herumschleichen, beide nicht so recht wissen, wie sie mit der neuen Situation und ihrer neuen Beziehung miteinander umgehen sollen. Paula verpaßt Celia eine ganze Reihe an Vorschriften und wie der Klappentext schon verrät: sie verschweigt ihrer Mutter etwas und hat auch Celias Umfeld sogfältig instruiert. So rennt Celia ständig gegen Wände, als sie nach ihren Erinnerungen sucht.

Es werden zahlreiche Andeutungen gemacht, daß es ein dunkles Geheimnis gibt und daß Celia in den Jahren vor ihrem Schlaganfall eine ganz andere Person war, als wir sie nun erleben. Eine mysteriöse Jugendfreundin wird erwähnt, ein seltsam abwesender Sohn, Familienzwiste und noch vieles mehr. Gebannt begab ich mich mit Celia auf diese Reise und wurde mit jeder Andeutung gespannter, was sich da alles aufdecken würde.

Vorweg muß ich schon sagen, daß ich am Ende dieser Reise doch ein wenig enttäuscht war. Die meisten der Andeutungen verpuffen im Laufe der Geschichte und viele Punkte, zu denen ich gerne wesentlich mehr erfahren hätte, werden nicht weiter erwähnt oder nur im Vorbeigehen behandelt.

Letztlich geht es nämlich gar nicht so sehr um diese Geheimnisse, um Celias vorheriges Selbst, sondern das Buch ist eine Art innerer Reise Celias zu sich selbst, zu ihrer Vergangenheit, zu ihr wichtigen Menschen. Hier hat mich der Klappentext leider etwas in die Irre geführt und meine Erwartungen nicht völlig getroffen.

Die Sprache des Autors ist ausgezeichnet. Klar, wohlformuliert, oft poetisch. Auch die Übersetzung ist gut. Celia als Charakter ist gelungen, glaubhaft und vielschichtig, auch wenn mir leider am Ende noch zu große Lücken bzgl. ihrer vorherigen Persönlichkeit bleiben. Die anderen Charaktere sind wesentlich blasser als sie, kamen mir nur teilweise nahe.

Umgebungen und Atmosphäre sind hervorragend beschrieben. Man sieht die Terrasse, die Meeratmosphäre, die staubigen Landstraßen richtiggehend vor sich und spürt oft die herrschende Stimmung. Das zeugt von einem guten Blick für Details. Diese Detailliebe führt aber zugleich auch zu stilistischen Komponenten, die mir nicht zugesagt haben. Für mich nebensächliche Dinge werden ausführlich und wiederholt beschrieben. Die Bestandteile jeder Mahlzeit, teils banale Alltagsunterhaltungen und andere Dinge nehmen sehr viel Raum ein und konnten mein Leseinteresse nicht bannen. Celia entdeckt über ihre Enkelin ein Social Media Farmspiel, was als Idee an sich gut ist, um die Verbindung zwischen Celia und ihrer Enkelin, sowie Celias Möglichkeit, sich so in eine routinierte Beschäftigung zu finden, darzustellen. Allerdings wird das Spiel und dessen einzelne Schritte dann ständig viel zu ausführlich beschrieben - das wäre zum Vermitteln der Botschaft nicht notwendig gewesen.

Auf ihrer Reise zu sich selbst besucht Celia mehrere Menschen aus ihrer Vergangenheit. Das ist teilweise recht interessant, gerade wenn wichtige Punkte aus der Vergangenheit zur Sprache kommen, oder sie nach Jahrzehnten einen ihr wichtigen Menschen neu entdeckt. Oft bestehen diese Besuche aber aus Alltäglichem, aus vielen Details, die für mich für die Geschichte nicht notwendig waren. Diese Menschen erscheinen und verschwinden dann größtenteils wieder.

Während diese Dinge viel Raum bekommen, bleiben viele Punkte unerklärt oder kaum erklärt. Nachdem Celia relevante Themen aufdeckt, habe ich gespannt darauf gewartet, was nun geschieht, wie sie reagiert, wie sie sich fühlt. Es ging weiter mit Mahlzeiten, Farmspielen, Alltagsroutinen. Mir fehlte hier einfach sehr viel. Dafür werden einige neue "Baustellen" aufgemacht, deren Sinn sich mir nicht erschloß. Am Ende war ich enttäuscht, wie viele Andeutungen mich neugierig gemacht hatten und dann einfach in der Geschichte verschwunden sind. Die Gewichtung war nicht mein Fall.

Es kommt hier wirklich sehr darauf an, was man erwartet. Wer Wert auf stimmungsvolle Szenen, behutsames Erzähltempo, eine innere Reise teilweise ohne Antworten legt, wird dieses Buch genießen, denn es ist in dieser Hinsicht ausgezeichnet konzipiert und geschrieben. Mein Geschmack war es aufgrund der erwähnten Punkte leider nicht ganz, wobei ich doch froh bin, es kennengelernt zu haben.

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