Ein magisches Debüt über Erinnerung und Zeit
Das Buch der verlorenen StundenDieses Buch ist sowohl wunderschön als auch unglaublich einfallsreich. Die Idee des „Zeitraums“ ist atmosphärisch, einzigartig und bleibt lange im Kopf. Das Worldbuilding ist beeindruckend und lebendig. ...
Dieses Buch ist sowohl wunderschön als auch unglaublich einfallsreich. Die Idee des „Zeitraums“ ist atmosphärisch, einzigartig und bleibt lange im Kopf. Das Worldbuilding ist beeindruckend und lebendig. Ich liebe Geschichten mit zwei Zeitebenen, wenn sie gut ausgearbeitet sind und obwohl ich meist die ältere Timeline bevorzuge, haben mich hier beide gleichermaßen gefesselt – sie ergänzen sich hervorragend und bieten emotionale Tiefe wie auch Spannung.
Im Kern erzählt dieser Roman von der Macht der Erinnerung: davon, wie unsere Geschichten uns formen und warum es wichtig ist, nicht nur das Gute zu bewahren, sondern auch aus dem Schmerz der Vergangenheit zu lernen. Das Buch regt zum Nachdenken an, ohne belehrend zu wirken, und berührt, ohne kitschig zu werden. Ein beeindruckendes Debüt, das noch lange nachhallt.
In der Geschichte wird die elfjährige Lisavet von ihrem uhrmachernden Vater in den sogenannten „Zeitraum“ mitgenommen – eine riesige, verborgene Bibliothek, in der jede Erinnerung als Buch existiert. Doch nicht alle, die diesen Ort betreten, meinen es gut: Spione versuchen, Geschichte umzuschreiben, indem sie unbequeme Erinnerungen zerstören. Als ein Zeitwächter aus den USA auftaucht, entsteht zwischen ihm und Lisavet eine besondere Verbindung, die eine stille Rebellion in Gang setzt.
Viele Jahre später, 1965 in Boston, wird die Jugendliche Amelia von einer CIA-Agentin gebeten, ein verlorenes Erinnerungsbuch im „Zeitraum“ zu finden. Ihre Suche bringt Wahrheiten über Familie, Identität und die Zerbrechlichkeit der Vergangenheit ans Licht.
Zwischendurch hatte ich einen Moment, in dem ich dachte: Das kommt mir auf eine unheimliche Weise bekannt vor. Die Themen Manipulation von Erinnerungen und das leise Umschreiben von Wahrheit spiegeln unsere heutige Realität wider. Ob beabsichtigt oder nicht, diese Echoeffekte verleihen der Geschichte zusätzliches Gewicht. Die Idee einer Bibliothek, die Erinnerungen statt Fiktion beherbergt – anders als in Die Mitternachtsbibliothek – hat mich sofort gepackt. An manchen Stellen erinnerte mich das Buch sogar ein wenig an Zurück in die Zukunft, nur ohne die theatralische Dramatik.
Einige Figuren bleiben recht archetypisch, was dem märchenhaften Erzählton zwar entspricht, aber gelegentlich zu eher eindimensionalen oder vorhersehbaren Momenten führt. Lisavet hingegen durchläuft eine vielschichtige, moralisch nicht immer klar fassbare Entwicklung, da sie Gefühle anfangs nur über die Erinnerungen anderer erlebt. Dies zeigt sich sowohl in ihrem Charakter als auch äußerlich (leichter Spoiler). Das ist spannend gestaltet, lässt sie jedoch nicht durchgehend sympathisch erscheinen. Manche ihrer Entscheidungen wirkten, nicht nur auf mich, fragwürdig oder schwer nachvollziehbar.
Auch wenn ich mir manche Wendungen anders gewünscht hätte, habe ich das Leseerlebnis insgesamt sehr genossen. Es ist eine Geschichte über verlorene und wiedergefundene Familie, über Krieg und Liebe, über vergessene Momente und zurückeroberte Wahrheiten. Ich freue mich immer besonders, neue Autorinnen zu entdecken, die mich mit ihrer Fantasie beeindrucken – und bei einem Debüt ist das umso schöner.
Eine klare Empfehlung für alle, die Alternativgeschichte, leicht philosophische Untertöne und komplexe Erzählstrukturen schätzen. Weniger geeignet für Leserinnen, die eine leichte, unbeschwerte Geschichte mit ausschließlich „guten“ Figuren erwarten. Fans von Die Mitternachtsbibliothek und The Invisible Life of Addie LaRue kommen hier auf ihre Kosten.
Vielen Dank an dtv und LovelyBooks für das Rezensionsexemplar und die Möglichkeit, an der Leserunde teilzunehmen.