Grausame Dystopie, beeindruckendes Buch
The Grace YearWir befinden uns in Garner County, einer Welt, in der die Männer das Sagen haben und an Magie geglaubt wird, die nur grausam unterbunden werden kann. Eine dieser magischen Mythen besagt, dass jungen Frauen ...
Wir befinden uns in Garner County, einer Welt, in der die Männer das Sagen haben und an Magie geglaubt wird, die nur grausam unterbunden werden kann. Eine dieser magischen Mythen besagt, dass jungen Frauen ein Zauber innewohnt, Männer zu manipulieren. Um ihnen diese Kräfte auszutreiben werden alle 16jährigen für ein Jahr aus der Gemeinschaft verbannt und in ein Lager im Wald verbannt. Während dieses sogenannten „Grace Years“ sollen die Mädchen geläutert werden, um danach entweder als unterwürfige Ehefrau oder Arbeiterin nach Garner County zurückzukehren. Das Grace Year ist grausam, nicht alle Mädchen kehren daraus zurück und diejenigen, denen die Rückkehr gelingt, sind gebrochen und sprechen niemals darüber. Deshalb weiß die rebellische Tierney auch nicht was sie erwartet, als ihr Grace Year beginnt – nur, dass sich dringend etwas ändern muss, damit Frauen wie sie mündige Mitglieder der Gesellschaft in Garner County sein können.
Das Cover der Erstausgabe von „The Grace Year“ (auch veröffentlicht unter „Das dunkle Schweigen der Mädchen“, welcher mich persönlich weniger anspricht) sagt zunächst nicht viel über den Inhalt aus, dennoch ist es in seiner Schlichtheit ausdrucksstark. Gut gefallen mir die schimmernden roten Elemente sowie ihre Symbolkraft: Eine Blüte und ein Tropfen Blut in einer Hand, während der unauffällig gehaltene Hintergrund ausschließlich aus Dornen besteht. Gut gefällt mir auch der hochwertige Hardcover-Einband.
Kim Liggetts Schreibstil ist absolut mitreißend! Durch Tierneys Ich-Perspektive kann ich als Leserin sofort mit ihr mitfühlen und sie verstehen. Diese Erzählperspektive verschafft einen tiefen Einblick in die Geschehnisse in Garner County und Tierneys Einstellung dazu. Des Öfteren habe ich beim Lesen mitgefiebert, da die Autorin es nicht nur meisterhaft versteht, Spannung aufzubauen, sondern mich auch emotional tief ergriffen hat. Sie konnte nicht nur eine fiktive Welt schaffen, in die ich voll eintauchen konnte, sondern auch eine Gefühlswelt, die mich mitgenommen hat: Hunger, Kälte, Angst, Schmerz, Perspektivlosigkeit, Hoffnung, Liebe,… ich konnte wahnsinnig gut mitfühlen. Teilweise waren die Beschreibungen so krass, dass ich mir sogar weniger Ausführlichkeit gewünscht hätte – an einigen Stellen habe ich mich doch sehr geekelt. Insofern würde ich das Buch auch nicht unbedingt an Jugendliche geben, es wird sowohl physische, als auch psychische Gewalt lebensecht beschrieben und kann verstörend wirken. Aufgebaut ist es in die einzelnen Jahreszeiten, die Tierney während ihres Gnadenjahrs durchlebt, wobei jedes Oberkapitel einen eigenen Fokus hat, ohne vom roten Faden der Geschichte abzuweichen.
Die Storyline und vor allem das Worldbuilding der Autorin überzeugt: Sie schafft eine Welt, die schockiert, wütend und betroffen macht, aber dennoch so realitätsnah bleibt, dass man sie sich vorstellen kann. Der Anfang des Buches besteht deshalb größtenteils aus dem Kennenlernen von Tierney, ihrer Familie und den Gegebenheiten der Welt und Gesellschaft, in der sie lebt. Die Rolle der Frau und die Angst vor dem bevorstehenden Gnadenjahr werden sehr eindringlich beschrieben und erschüttert. Auch den Dynamiken und Beziehungen der Menschen zueinander wird großer Raum gegeben, damit die Leser die Auswirkungen dieser Welt mit all ihren Traditionen und Glaubensweisen verstehen lernen. Insbesondere die Gruppendynamiken werden auch im folgenden Grace Year treffend und emphatisch dargestellt. Das Buch wird im weiteren Verlauf immer brutaler und die Spannung steigt kontinuierlich an. Die sich anbahnende Liebesgeschichte wirkte auf den ersten Blick deshalb etwas deplatziert und war für meinen Geschmack auch etwas schnell abgehandelt, rückte aber nicht zu stark in den Fokus, als dass sie das Geschehen zu sehr beeinflusst hätte. Zum Glück wurde Tierneys Streben nach Unabhängigkeit und Emanzipation davon nicht beeinflusst. Das Ende hingegen hat mich atemlos hinterlassen: Es passiert wahnsinnig viel und einiges davon kam für mich so unvorhergesehen und überraschend, dass ich nach Luft schnappen musste. Wow, wow, wow! Niemals hätte ich erwartet, dass sich die Story auf den letzten Seiten noch einmal so drehen wird! Der Ausgang war zwar nicht das Happy End, auf das ich hingehofft hatte, aber so sogar viel besser, stimmiger und realistischer – ein toller Twist, den die Autorin hier hingelegt hat! In gewisser Weise endet es zwar traurig, aber dennoch voller Hoffnung, es wird durch das offene Ende Raum für die eigene Phantasie gelassen. Das hat mir wahnsinnig gut gefallen, auch wenn ich erst einmal Zeit zum Verarbeiten gebraucht habe.
Für mich war „The Grace Year“ ein Buch, das zum Nachdenken anregt und noch lange nachhallt. Es ist erschütternd, fesselnd und heftig, eine gelungene Dystopie zwischen den „Tributen von Panem“ und „The Handmaid´s Tale“. Natürlich gab es auch hier Szenen, die für meinen Geschmack zu schnell abgehandelt waren und offene Fragen zum Konstrukt „Garner County“ und seiner Lebenswirklichkeiten, aber alles in allem haben mich Tierney als rebellische Kämpferin und die gruppendynamischen Entwicklungen im Gnadenjahr-Lager überzeugen können. Ich finde jedoch, dass die Altersempfehlung von 14 Jahren bei so viel Grausamkeit heraufgesetzt werden sollte. Für mich war es aber auf jeden Fall ein Buch, das definitiv Eindruck hinterlassen hat und dessen krasse Story ich nicht vergessen werde.