Profilbild von Webervogel

Webervogel

Lesejury Star
offline

Webervogel ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Webervogel über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 24.11.2021

Diffuse Fragmente

Die Schönheit des Himmels
0

Sarah Biasini ist die Tochter der Schauspielerin Romy Schneider und 2018 selbst Mutter geworden. Ihr Buch „Die Schönheit des Himmels“ hat sie für ihre eigene Tochter Anna geschrieben und damit schon vor ...

Sarah Biasini ist die Tochter der Schauspielerin Romy Schneider und 2018 selbst Mutter geworden. Ihr Buch „Die Schönheit des Himmels“ hat sie für ihre eigene Tochter Anna geschrieben und damit schon vor deren Geburt begonnen. Einer der Gründe ist, dass sie Anna etwas hinterlassen will – so wie es ihr eigener Wunsch gewesen wäre, von ihrer Mutter ein persönliches Dokument hinterlassen zu bekommen.

Romy Schneider – Schauspiel-Ikone, unvergessener Filmstar – ist bereits 1982 gestorben; kein ganzes Jahr nach dem tragischen Tod ihres 14-jährigen Sohnes. Sarah Biasini war damals erst viereinhalb Jahre alt und hat kaum eigene Erinnerungen an ihre Mutter. Dafür begegnet sie immer wieder Menschen, die Romy Schneider verehren, behaupten, sie zu lieben oder ganz genau zu wissen, was in ihr vorgegangen ist. Eine große Hypothek für die Tochter, die sie hier fragmentarisch aufarbeitet. Mal geht es um Romy Schneider, mal um Anna, um ihren Lebensgefährten Gilles, ihren Vater und andere Wegbegleiter. Die Autorin schreibt sprunghaft und verweilt bei den meisten Themen nur flüchtig. Dennoch wird sie manchmal so persönlich, dass es mich fast schon irritiert hat – einiges scheint wirklich nur für die eigene Familie bestimmt, wird hier aber in Buchform generell zugänglich gemacht. Manche Gedanken von Biasini fand ich außerdem etwas seltsam: „Ich war immer davon überzeugt, dass das Geschlecht der Kinder vom Charakter der Mutter abhängt […]. Wenn es eine Mutter ist, die Frauen liebt, die keine Angst vor ihnen hat, ganz im Gegenteil, eine Frau, die ihr Geschlecht schätzt und es hochhält, wird sie ein Mädchen haben. […] Gibt man einer Frau wie mir die Möglichkeit, schwanger zu werden, wird sie unweigerlich ein Mädchen bekommen.“ (S. 48-49)

Wer hofft, in „Die Schönheit des Himmels“ Neues über Romy Schneider zu erfahren, wird enttäuscht sein – die abwesende Mutter ist zwar omnipräsent, aber dennoch Randfigur in Biasinis Leben. Auf mich hat es zum Teil gewirkt, als würde die Tochter mit diesem Buch eine gewisse Deutungshoheit über ihre Mutter zurückgewinnen wollen; gleichzeitig ein Vermächtnis für ihre Tochter Anna schaffen und das eigene Leben aufarbeiten. Die Einblicke, die sie Fremden dadurch gewährt, sind gleichzeitig oberflächlich und intim, Biasini lässt zum Teil tief in ihre Gefühlswelt blicken und springt dann wieder so von Thema zu Thema, dass Leserinnen und Leser kaum hinterherkommen. Ehrlich gesagt ist mir unklar, wer die Zielgruppe dieses Buches ist; sie bleibt diffus wie der gesamte Text. Dabei ist Biasini eine sympathische Autorin, der man nach der Lektüre einfach alles Gute wünschen möchte.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 21.11.2021

Stimmig und fordernd

Die Enkelin
0

Dass der kinderlose Buchhändler Kaspar Wettner je Großvater werden würde, hat er selbst nicht kommen sehen. Doch nach dem Tod seiner Frau Brigit deckt er deren Lebenslüge auf: Birgit hatte eine Tochter, ...

Dass der kinderlose Buchhändler Kaspar Wettner je Großvater werden würde, hat er selbst nicht kommen sehen. Doch nach dem Tod seiner Frau Brigit deckt er deren Lebenslüge auf: Birgit hatte eine Tochter, die sie gleich nach der Geburt weggegeben hat – nur wenige Monate, bevor sie 1965 aus der DDR zu ihm nach Westdeutschland geflohen ist, wo sich die beiden in Berlin ihr gemeinsames Leben aufgebaut haben. Nun erfährt Kaspar, dass seine Frau lange damit gerungen hat, die verlorene Tochter wiederzufinden und beschließt, an ihrer Stelle zu suchen. Schließlich begegnet er Birgits Enkelin. Die beiden trennt vieles – ihre einzige Gemeinsamkeit ist die Neugier aufeinander.

In seinem neuesten Roman entführt Bernhard Schlink seine Leserinnen und Leser zunächst in eine andere Zeit und dann in eine andere Welt. Erst wird Birgits Geschichte erzählt, das Aufwachsen in der DDR thematisiert, ihre Abwendung vom Staat, ihre Flucht. Der westdeutsche Kaspar hat die DDR nur als Besucher erlebt, doch weitaus fremder als sie ist ihm die Welt, in der Birgits Enkelin Sigrun heranwächst: Sie lebt in einer völkischen Gemeinschaft mit klaren Feindbildern. Kaspar versucht, dem Mädchen seine Welt zu zeigen – unter den wachsamen Blicken der Eltern. Das fragile Band zwischen den beiden zieht sich über ein Spannungsfeld. Ich habe mitgebangt, ob es hält.

Egal welcher Weltanschauung, welchem Stück Zeitgeschichte sich Bernhard Schlink annimmt – er schildert es virtuos und scheut dabei weder Widerspruch noch Kritik. Mit klarer, präziser Sprache hat er auch hier wieder einen Roman geschaffen, bei dem einfach alles stimmt. Die Geschichte ist tragisch, stimmig und aufwühlend in einem, die Figuren haben Ecken, Kanten und immer Tiefgang. Es gelingt dem Autor, alle unterschiedlichen Motivationen irgendwie verständlich erscheinen zu lassen, ohne dass er es einer der Hauptfiguren besonders leicht machen würde. Denn eine klare Einteilung in schwarz und weiß, gut und böse – die gibt es bei Schlink nie. Ein sehr lesenswerter Roman, der extrem unterschiedliche deutsche Leben porträtiert und seine Leserinnen und Leser auch immer wieder dazu herausfordert, Position zu beziehen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 04.11.2021

Die im Dunkeln sieht man nicht

Wenn ich wiederkomme
0

Eine Mutter verlässt ihre Familie und es fällt ihr so schwer, dass sie sich nicht mal verabschiedet. So beginnt Marc Balzanos neuester Roman; eine tragische und doch leichtgängig erzählte Geschichte, die ...

Eine Mutter verlässt ihre Familie und es fällt ihr so schwer, dass sie sich nicht mal verabschiedet. So beginnt Marc Balzanos neuester Roman; eine tragische und doch leichtgängig erzählte Geschichte, die mich nicht mehr losgelassen hat. Danielas Kinder und Mann bleiben nicht lange im Unklaren: Die Rumänin hat einen Zettel hinterlassen und meldet sich auch schon bald – aus Mailand, wo sich Daniela nun um einen Pflegebedürftigen kümmert. Win-win, könnte man meinen – sie verdient Geld, mit dem sie ihren Kindern im rumänischen Heimatdorf eine gute Ausbildung finanziert sowie den Ausbau des Eigenheims, während der alte Mann dank ihr in seiner gewohnten Umgebung bleiben kann. Aber es ist ebenfalls Lose-lose: Daniela hat nie zuvor als Pflegerin gearbeitet und auch keine Neigung zu dem Beruf. Sie ist ein anständiger Mensch und kümmert sich fast rund um die Uhr so gut um den Patienten, wie es ihr – auch psychisch – möglich ist. Ideal ist die Situation jedoch für keinen von beiden.

Doch zunächst geht es in „Wenn ich wiederkomme“ weniger um Daniela und mehr um die Familie, die sie zurücklässt: ihren arbeitslosen Mann, ihre im Nachbarhaus wohnenden Eltern und ihre Kinder, die fast erwachsene Tochter Angelica und den zwölfjährigen Manuel. Letzterer scheint unter der Abwesenheit der Mutter am meisten zu leiden, ihre täglichen Anrufe sind kein Ersatz und halten die gegenseitige Entfremdung kaum auf. Seine schulischen Leistungen lassen nach, er zieht sich zurück. Und dann passiert etwas.

Marc Balzano skizziert ein Modell, das in vielen europäischen Ländern gelebt wird: Die osteuropäische Pflegekraft, die als 24-Stunden-Inhouse-Hilfe im Westen ihr Geld verdient – mehr Geld, als es ihr in ihrer Heimat möglich wäre (und natürlich weniger, als eine Einheimische oder ein Einheimischer bekommen würde). Doch der Autor widmet sich auch dem in der Regel unbeachteten Thema, das dahintersteht: Wie geht es eigentlich denen, die zurückbleiben? Und denen, die irgendwann zurückkehren? In „Wenn ich wiederkomme“ habe ich zum ersten Mal von der Italienkrankheit gelesen. Danielas Auslandsjahre gehen an keinem Familienmitglied spurlos vorbei; aufzuholen sind sie erst recht nicht. Hat sich ihr Opfer gelohnt?

Eine große Stärke dieses sehr gelungenen Romans ist, dass er keine einfachen Lösungen serviert, Haupt- und Nebenfiguren nicht in gut und böse einteilt und auch sonst nicht urteilt. Balzano bietet einen Einblick in verschiedene Schicksale und sensibilisiert für eine Thematik, über die gerne hinweggeschaut wird. Ein Roman über die fast Unsichtbaren, die in der Pflege vielerorts unersetzlich geworden sind – und über die Lücken, die sie woanders hinterlassen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 30.10.2021

Hommage an einen besonderen Ort

Das Haus der Frauen
0

Laetitia Colombanis erster Roman „Der Zopf“ war bereits ein Bestseller und hat mir im Großen und Ganzen gut gefallen. Ihr zweites Buch „Das Haus der Frauen“ ist allerdings noch besser.

Colombani hat einen ...

Laetitia Colombanis erster Roman „Der Zopf“ war bereits ein Bestseller und hat mir im Großen und Ganzen gut gefallen. Ihr zweites Buch „Das Haus der Frauen“ ist allerdings noch besser.

Colombani hat einen unverwechselbaren Stil, der gleichzeitig temporeich und flüchtig ist. Es ist nicht so, als würden sich die Ereignisse in ihren Romanen ständig überschlagen, doch trotzdem hatte ich in „Der Zopf“ wie auch hier den Eindruck, mit der Autorin durch die Geschichten zu rasen. Colombani erzählt, ohne ein Wort zu viel zu verlieren. Detaillierte Beschreibungen, tiefergehende Charakterstudien oder die Ausgestaltung kleiner Szenen sind nicht ihr Ding. Ich hatte ständig den Drang, mich selbst beim Lesen zu bremsen, um ja nichts zu verpassen. Und gleichzeitig gelingt es ihr, in dieser Knappheit trotzdem alles Wesentliche zu erzählen und eine Atmosphäre zu schaffen.

„Das Haus der Frauen“ erzählt abwechselnd die Geschichten von Blanche und Solène. Beide leben in Paris, Erstere jedoch vor fast 100 Jahren. Blanche ist seit vielen Jahrzehnten bei der Heilsarmee und kämpft unermüdlich gegen Armut und Elend, als sie und ihr Mann Albin 1925 ihr größtes Projekt in Angriff nehmen: Die Gründung eines großen Frauenhauses in Paris – es gilt als das erste seiner Art in der französischen Hauptstadt. Und es existiert noch heute!

In der Gegenwart sucht Solène diesen Ort auf – nicht als Zufluchtssuchende und eher widerwillig. Ein traumatisches Ereignis hat sie aus der Bahn geworfen, ihre Ärzte empfehlen ihr eine sinnstiftende Aufgabe, um langsam wieder in den Alltag zurückzufinden. Im „Haus der Frauen“ wird eine Schreiberin gesucht, die den Bewohnerinnen einmal pro Woche bei Schriftarbeiten aller Art hilft. Juristin Solène hat mit Behördenkram gerechnet, doch tatsächlich haben die Frauen ganz andere Wünsche an sie.

Und so wird die Geschichte dieses besonderen Ortes erzählt. Wie die Vision einer einzelnen Frau schließlich ein Obdach für viele entstehen ließ, ist hierbei sicher die bedeutendere Erzählung – vor allem, da sie wahr ist. Bei Solène geht es dagegen um einige Einzelschicksale, die Colombani reduziert, aber trotzdem sehr empathisch darstellt. Und so ist „Das Haus der Frauen“ im Ganzen eine Hommage an einen besonderen Ort in Paris, der manchen eine Perspektive gibt, die schon die Hoffnung darauf verloren hatten. Die Geschichte der Blanche Peyron scheint vor diesem Roman weitestgehend in Vergessenheit geraten zu sein; dass ihre Lebensleistung literarisch gewürdigt wird, ist hochverdient.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 10.10.2021

Eiswüste im Polarlicht

Eis. Abenteuer. Einsamkeit
0

Jakutien war für mich ein weißer Fleck auf der Landkarte und bleibt es auch, nachdem ich diesen Reisebereicht gelesen habe. Allerdings ist es jetzt ein extrem kalter, vereister weißer Fleck: Wer „Eis. ...

Jakutien war für mich ein weißer Fleck auf der Landkarte und bleibt es auch, nachdem ich diesen Reisebereicht gelesen habe. Allerdings ist es jetzt ein extrem kalter, vereister weißer Fleck: Wer „Eis. Abenteuer. Einsamkeit“ gelesen hat, wird die im nordöstlichen Teil des asiatischen Russlands gelegene Republik nicht mehr so schnell vergessen. Schon das Cover macht neugierig: Grandioses Polarlicht und ein vollbepacktes Fatbike im Schnee. Was bringt jemanden dazu, eine Radtour in die sibirische Arktis zu unternehmen? Und wie funktioniert so ein Unterfangen?

Richard Löwenherz erzählt in seinem ersten Buch von seiner 2017 unternommenen Nordjakutien-Reise, bei der er das Winterstraßennetz Richtung Norden befahren hat. Die sogenannten „Zimniks“ sind nur in der kältesten Jahreszeit nutzbar: Gefrorene Flüsse bilden die Straßen und sind bei hohen Minusgraden auch von Trucks befahrbar – genau wie die Laptewsee, ein Randmeer des Nordpolarmeers, auf dem Löwenherz die letzten Etappen seiner Tour zur Hafensiedlung Tiksi geradelt ist. Seine komplette Reise hat er ohne besondere High-Tech-Ausrüstung bestritten; Löwenherz‘ Equipment ist zum Teil zusammengeliehen, zweckentfremdet oder schon etwas in die Jahre gekommen. Statt auf das Neueste vom Neuesten setzt er auf Bewährtes und seine bei vielen früheren Radreisen gewonnenen Erfahrungen.

Was den Abenteurer antreibt, schildert er in seinem tagebuchähnlichen Bericht: die Herausforderung, die Faszination für die vereiste, karge und spärlich besiedelte Landschaft, die Erfahrung, völlig auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Doch auch die Begegnungen auf seiner über 40 Tage dauernden Reise sind spannend zu lesen. Bei den die Zimniks befahrenden Truckfahrern ist er bald bekannt, Zeit für einen Wodka oder einen heißen Tee findet sich bei fast jeder Begegnung. In besiedelten Dörfern wird ihm in der Regel schnell ein Schlafplatz für die Nacht angeboten. Löwenherz‘ Bekanntschaften sind nicht immer gesprächig, meist aber sehr gastfreundlich. Und so bekommen Leserinnen und Leser gleich noch einen kleinen Eindruck von dem Menschenschlag, der die meiste Zeit des Jahres in einer Eiswüste lebt – zumindest von den Männern; Frauen begegnet Löwenherz auf seiner Fahrt nur sehr selten.

Mir hat „Eis. Abenteuer. Einsamkeit“ sehr gefallen: Die Beschreibung einer Reise, von der ich nicht geglaubt hätte, dass sie so stattfinden kann, die vielen Fotos, die Schilderung vom Umgang mit Eis und Schnee, denen der Autor radelnd und campend komplett ausgesetzt war. Sein außergewöhnliches Abenteuer schildert Löwenherz packend und anschaulich und zeigt dabei, was alles möglich ist, wenn man für eine Sache brennt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere