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Veröffentlicht am 26.02.2021

Etwas ganz Besonderes

Mädchen, Frau etc. - Booker Prize 2019
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Was für ein Buch! Die Protagonistinnen sind alle sehr unterschiedliche Charaktere, die innerhalb einer Zeitspanne von ca. 100 Jahren geboren wurden, größtenteils in England. Sie eint, dass sie Persons ...

Was für ein Buch! Die Protagonistinnen sind alle sehr unterschiedliche Charaktere, die innerhalb einer Zeitspanne von ca. 100 Jahren geboren wurden, größtenteils in England. Sie eint, dass sie Persons of Color (BPoC) sind und unter anderem afrikanische Wurzeln haben.

Die Autorin Bernadine Evaristo gibt den Geschichten in „Mädchen, Frau etc.“ Struktur, indem sie die ersten vier Kapitel nach dem gleichen Schema anordnet: mit je drei Unterkapiteln, die jeweils den Namen der Figur tragen, deren Leben auf ungefähr 40 Seiten beleuchtet wird. Zwei der drei Unterkapitel-Protagonistinnen sind Mutter und Tochter, die dritte zumindest mit einer von beiden bekannt. Los geht es mit Amma, einer bisexuellen Theaterregisseurin kurz vor der Premiere ihres ersten im National Theatre in London aufgeführten Stücks. Und mit der nachfolgenden Premierenparty schließt sich auch der Kreis; ihr ist das fünfte und letzte Kapitel dieses Romans gewidmet.

Der klare Aufbau hat mir bei der Orientierung im Buch geholfen; der Zusammenhang der episodenhaften Geschichten lässt sich gut erfassen. Ich empfehle Lesepausen und habe nach jeder Frauenfigur eine gemacht. Die geschilderten Erfahrungen und Entwicklungen sind so verschieden, dass ich sie erst einmal auf mich wirken lassen wollte. Evaristo ergründet die Charaktertiefen ihrer Figuren; auf verhältnismäßig wenigen Seiten kommt sie jeder Einzelnen sehr nah. Das liest sich intensiv und nicht immer ganz einfach. Kapitel, deren Fokus auf zwischenmenschlichen Verwicklungen liegt, habe ich zum Teil verschlungen, andere beschäftigen sich expliziter mit dem Genderthema und sind dadurch theoretischer. Im Laufe des Kapitels zu Megan/Morgan wurde mit „sier“ sogar ein neues Personalpronomen verwendet, von dem ich noch nie gehört hatte, weswegen es meinen Lesefluss erst einmal ziemlich ausgebremst hat.
An Evaristos besonderen Stil habe ich mich dagegen schnell gewöhnt: Sie benutzt kaum Punkte, sondern Absätze, um ihre Sätze zu strukturieren. Dass die Zeichen am Ende eines Satzes meist fehlen, ist mir kaum aufgefallen, aber mit ihren Absätzen verleiht die Autorin ihrem Text noch einmal viel mehr Wucht und betont zum Teil sogar einzelne Wörter, was das Leseerlebnis extra eindrücklich werden lässt.

Mich hat sehr fasziniert, wie Evaristo ihre Frauenfiguren mit deren vielfältigen Geschichten und Erfahrungen zum Leben erweckt. Sie sind so divers, wie Frauen nur sein können: aufopferungsvoll, borniert, ehrgeizig, ängstlich, rassistisch, stolz, fürsorglich, arrogant, verliebt, gehässig, antriebslos … Die Geschichte jeder einzelnen hätte für die Hauptfigur eines eigenen Romans gereicht, und mehr als einmal habe ich mir gewünscht, dass die Autorin noch einen über sie schreiben wird: z.B. über Bummi, die in Nigeria eine von Verlusten geprägte Kindheit hatte und das Leben ihrer Tochter Carole, einer Oxford-Absolventin, kaum mehr nachvollziehen kann. Oder über ebendiese Carole, die ein Trauma überlebt, Freundschaften geopfert, gekämpft und sich angepasst hat, um es als schwarze Frau in der Londoner Businesswelt nach oben zu schaffen, die aber trotzdem nicht glücklich wirkt. Über Hattie, die ihren Hof bis ins hohe Alter allein bewirtschaftet und ihre weitverzweigte Nachkommenschaft zu großen Teilen nicht besonders mag. Sie alle sind stark und verletzlich und haben Erfahrungen gemacht, die man sich kaum vorstellen kann, wenn man weiß ist. Bernadine Evaristos Roman ist horizonterweiternd, bereichernd, sensationell gut geschrieben und hat mich sowohl begeistert als auch zum Nachdenken angeregt.

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Veröffentlicht am 22.02.2021

Schicksalsüberladen

Die vier Gezeiten
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Dieser Roman handelt von vielen Frauen: Von einer, die in den 1930er Jahren auf Juist aufwächst und miterlebt, wie sich der Nationalsozialismus auf der Nordseeinsel ausbreitet. Von einer, die dort in den ...

Dieser Roman handelt von vielen Frauen: Von einer, die in den 1930er Jahren auf Juist aufwächst und miterlebt, wie sich der Nationalsozialismus auf der Nordseeinsel ausbreitet. Von einer, die dort in den 1960er Jahren vier Töchter an der Seite eines Mannes aufzieht, den sie nicht liebt. Von einer, die Ende der 1970er aus Verzweiflung im Watt verschwindet. Und von einer Neuseeländerin, die 2008 auf der Suche nach ihrer leiblichen Mutter nach Juist kommt.
Aber das ist noch nicht alles: Neben weiteren Frauenfiguren gibt es noch einen narzisstischen Familienpatriarchen, Altnazis und Umweltschützer; es ereignen sich gleich mehrere ungeplante Schwangerschaften und die deutsch-deutsche Geschichte spielt auch noch eine Rolle. Ganz schön viel für 480 Seiten! „Die vier Gezeiten“ sind leider so überladen mit Dramen, dass der Roman längst nicht jedem Handlungsstrang gerecht werden kann. Durch eine Fokussierung auf weniger Figuren hätte die Geschichte vermutlich gewonnen. Irritierend fand ich auch die Häufung der Schicksalsschläge innerhalb einer Familie, die aber kaum darüber spricht. Und das ist dann auch mein zweiter Kritikpunkt: Ich fand es nicht stimmig, wie wenig sich die einzelnen, größtenteils miteinander verwandten Protagonisten untereinander austauschen. Sicher kommt es vor, dass Gespräche zwischen Familienmitgliedern an der Oberfläche bleiben, aber hier nimmt es sehr seltsame Züge an; naheliegende Reaktionen bleiben oft aus. Das Verhalten gleich mehrerer Figuren wirkt dadurch etwas bizarr. Autorin Anne Prettin fügt ihre vielen Handlungsstränge zwar am Ende des Romans zusammen, aber auch im Nachhinein wird so längst nicht jede Reaktion auch nur halbwegs schlüssig erklärt.

Komplett überzeugend sind dagegen die Juist-Beschreibungen. Die Inselatmosphäre schwingt überall mit: Sonne, Strand und Sanddorn, Hammersee und Domäne Bill, Flughafen und Inselbahn – alles kommt vor und man fühlt fast, wie einem die Nordseeluft um die Nase streicht. Und so sind „Die vier Gezeiten“ schon ein gedanklicher Ausflug ans Meer, aber eben ein sehr überladener. Prettin hätte ihren vielen Protagonisten ruhig etwas weniger zumuten dürfen.

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Veröffentlicht am 15.02.2021

Mit dem Holzhammer

Offline - Du wolltest nicht erreichbar sein. Jetzt sitzt du in der Falle.
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Fünf Tage lang Digital-Detox vor atemberaubender Kulisse – davon versprechen sich acht Teilnehmer eines Bergtrips Entspannung pur. Zusammen mit zwei Organisatoren und einem Bergführer erklimmen sie den ...

Fünf Tage lang Digital-Detox vor atemberaubender Kulisse – davon versprechen sich acht Teilnehmer eines Bergtrips Entspannung pur. Zusammen mit zwei Organisatoren und einem Bergführer erklimmen sie den Watzmann, ohne Mobiltelefone und mit der Aussicht auf Erholung in einem erst halbrenovierten, luxuriösen Alpenresort. Doch gleich nach der ersten Nacht wird es für die inzwischen Eingeschneiten ungemütlich: ein Mitglied ihrer Reisegruppe scheint sich in Luft aufgelöst zu haben, das Satellitentelefon – einzige Verbindung zur Außenwelt – ist zerstört. Zusammen mit den beiden Hausmeistern sind sie im riesigen, leeren Hotel auf sich gestellt. Und als der Verschwundene schließlich gefunden wird, fängt das Grauen erst richtig an.

Die Idee von „Offline“ ist an sich nicht neu: Eine sich mindestens in Teilen unbekannte Gruppe kommt anscheinend zufällig an einem abgeschiedenen Ort zusammen und sitzt da plötzlich miteinander fest. Erst trägt man es noch mit Fassung, doch dann geschieht etwas Schreckliches und es wird klar, dass jemand Irres in der Nähe ist – oder sogar unter den Gruppenmitgliedern. Ein Paradebeispiel für diese Plotidee ist „Und dann gab’s keines mehr“ von Agatha Christie. Was sie allerdings mit subtiler Raffinesse löst, erledigt Arno Strobel mit dem Holzhammer. Gegruselt habe ich mich hier vor allem vor den platten Dialogen und dem oft unlogischen Verhalten der Protagonisten. Bei einem Psychothriller, der auf einen einzigen Handlungsort und die sich dort aufhaltenden Personen beschränkt ist, ist die stimmige Schilderung von Gedanken, Gefühlen und Kommunikation entscheidend. Doch genau daran hapert es hier immer mehr, je weiter die Geschichte fortschreitet. Teilweise gehen die geschlossenen Allianzen ganz offensichtlich gegen den gesunden Menschenverstand. Und so konnte mich der Thriller einfach nicht richtig packen.

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Veröffentlicht am 04.02.2021

Gefühlslegasthenikerin im Gewissenskonflikt

Das Einmaleins des Glücks
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Die 37-jährige Mathematikerin Germaine ist anders als die anderen. Von Zahlen versteht sie viel, von Menschen wenig. Zwischentöne sind ihr fremd, Fettnäpfchen nicht – wobei sie meist noch nicht einmal ...

Die 37-jährige Mathematikerin Germaine ist anders als die anderen. Von Zahlen versteht sie viel, von Menschen wenig. Zwischentöne sind ihr fremd, Fettnäpfchen nicht – wobei sie meist noch nicht einmal bemerkt, wenn sie wieder einmal in eins gestolpert ist. Durch Vermittlung ihrer Cousine erhält sie eine Stelle bei der Stadtverwaltung und wird ausgerechnet am Beratungstelefon für Senioren eingesetzt, was ihr überhaupt nicht zusagt. Zum Glück hat die Bürgermeisterin Höheres mit der leidenschaftlichen Sudoku-Spielerin vor und schiebt ihr Spezialaufträge zu. Nach und nach stellt sich allerdings heraus, dass diese ganz und gar nicht im Interesse der Senioren sind. Und plötzlich steckt die sonst sehr auf ihren eigenen Vorteil bedachte Germaine in einem Gewissenskonflikt.

Wer Graeme Simsions „Rosie-Projekt“, „Rosie-Effekt“ und „Rosie-Resultat“ mochte, wird vermutlich auch Germaine ins Herz schließen, auch wenn das gar nicht so einfach ist. Die Gefühlslegasthenikerin hat nämlich nicht nur Probleme, ihre Mitmenschen zu verstehen, sie sind ihr auch relativ egal. Germaine fühlt sich verkannt, ist ehrgeizig und sehnt sich nach jemandem, der ihr Potential zu schätzen weiß. Nach und nach wird klar, dass sie in ihrem Leben einige große Enttäuschungen erlebt und sich daher einen ziemlich dicken Schutzpanzer zugelegt hat.

Germaines zwischenmenschliche Begriffsstutzigkeit ist ab und an ganz erheiternd, allerdings nutzt sich dieser Effekt mit der Zeit ab. Etwas bedauert habe ich, dass alle anderen Charaktere doch recht blass bleiben, obwohl sie durchaus Potential hätten. Autorin Katherine Collette hat offensichtlich ein Herz und Händchen für leicht skurrile, verschrobene Figuren, konzentriert sich aber komplett auf Germaine. Etwas mehr Abwechslung hätte die Geschichte bereichern können.

Trotzdem ist „Das Einmaleins des Glücks“ gut lesbar, hat mich immer mal wieder zum Schmunzeln gebracht und am Ende zufrieden zurückgelassen. Eine nette Zwischendurch-Lektüre.

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Veröffentlicht am 30.01.2021

Zwischen Tier und Mensch

Sprich mit mir
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In dieser außergewöhnlichen Geschichte geht es um verschwimmende Grenzen und darum, was möglich ist, was moralisch ist, was das Beste ist – aber auch um Liebe und Vertrauen aus einer gänzlich ungewöhnlichen ...

In dieser außergewöhnlichen Geschichte geht es um verschwimmende Grenzen und darum, was möglich ist, was moralisch ist, was das Beste ist – aber auch um Liebe und Vertrauen aus einer gänzlich ungewöhnlichen Perspektive. Auch Kommunikation ist ein großes Thema, wie der Titel „Sprich mit mir“ schon erahnen lässt. Hauptfigur Sam kann zwar nicht sprechen, sich aber in Zeichensprache verständlich machen sowie zuhören. An und für sich mag das noch nicht so ungewöhnlich sein – doch Sam ist ein Schimpansenkind. Ein 10.000 Dollar-Menschenaffe, der im Rahmen eines Spracherwerb-Forschungsprojekts von Professor Guy Schermerhorn menschlich erzogen wird. Und so wächst Sam in einem kalifornischen Ranchhaus auf, lernt sich mit Menschen zu verständigen, isst Cheeseburger und schläft in einem Bett. Sogar ins Fernsehen schafft er es, als Guy mit ihm in einer Rateshow auftritt. Dadurch erfährt die introvertierte Studentin Aimee von dem Forschungsprojekt und wird kurz darauf von Guy als Hilfskraft eingestellt. Sie und Sam haben sofort eine Verbindung zueinander und schon bald ist die Beziehung zu ihrem Schützling die wichtigste in Aimees Leben. Für Guys Mentor, Dr. Moncrief ist der Schimpanse jedoch nur eines von vielen teuren Versuchstieren – und sein Eigentum. Und als er beschließt, die Forschung einzustellen und Sam in seinen Schimpansenstall nach Iowa zu holen, stellt das nicht nur dessen Leben auf den Kopf.

In diesem Roman wechseln sich zwei unterschiedliche Perspektiven kapitelweise ab: Eine menschliche (meist Aimees) und Sams tierische. Die Kapitel aus Sams Sicht sind wesentlich kürzer und handeln von seinen Empfindungen und Bedürfnissen. Die Gedanken des menschlich aufgezogenen Affens erscheinen sowohl tierisch als auch ziemlich gut nachvollziehbar. Ob Mensch oder Schimpanse: T. C. Boyle hat facettenreiche Charaktere erschaffen, die aus sehr unterschiedlichen Motivationen handeln und dabei durch und durch authentisch wirken. Manche Episoden greift „Sprich mit mir“ zwei- oder sogar dreimal auf; aus Sams sowie aus Aimees und/oder Guys Perspektive. Langeweile kommt dabei nicht auf, denn die unterschiedlichen Bewertungen von Situationen lesen sich spannend. Und nicht nur Aimee und Guy sinnieren ab und an, was Forschung kann und Forschung darf – auch als Leserin habe ich mir diese Frage immer wieder gestellt. Denn Sam ist zwar kein Mensch, doch auch mit seinen Artgenossen hat er nicht mehr viel gemein. Ist das gut für ihn? Bis zum Schluss habe ich mit ihm und Aimee mitgefiebert und konnte den Roman kaum mehr aus der Hand legen.

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