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Veröffentlicht am 09.03.2021

Der Sommer seines Lebens

Hard Land
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Eine von Benedict Wells Figuren sammelt gelungene erste Sätze und ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr auch der Beginn von „Hard Land“ gefallen hätte: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter ...

Eine von Benedict Wells Figuren sammelt gelungene erste Sätze und ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr auch der Beginn von „Hard Land“ gefallen hätte: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“ Was für ein Einstieg! Ich-Erzähler Sam berichtet davon, wie sich sein ganzes Leben innerhalb weniger Wochen verändert. Ein Leben, in dem sich der fast 16-jährige Außenseiter nicht allzu wohl fühlt: Seine Heimatstadt Grady ist ziemlich verschlafen, sein einziger Freund weggezogen, sein Vater arbeitslos und seine Mutter hat einen Hirntumor. Doch als er in den Sommerferien einen Job im örtlichen Kino annimmt, lernt er Cameron, Hightower und Kirstie kennen, die Grady im Herbst verlassen und aufs College gehen werden. Erst belächeln sie Sam, aber schließlich wird aus der Dreier- eine Viererclique. Und so wird dieser Sommer aufregend, wundervoll und komisch, aber auch todtraurig. Und am Ende ist Sam ein anderer.

Benedict Wells ist 1984 in München geboren, sein Roman spielt nur ein Jahr später in Missouri. „Hard Land“ liest sich allerdings so atmosphärisch dicht, dass nicht nur der Autor die staubigen Straßen des Mittleren Westens bestens zu kennen scheint, sondern man sie selbst vor sich sieht. Neben Gradys Kinoprogramm, das ein Wiedersehen mit „Zurück in die Zukunft“ und anderen Klassikern möglich macht, wird auch die Musik der 80er immer wieder erwähnt: sie läuft im Fernsehen, auf Partys und im Bruce-Mobil, in dem ausschließlich Springsteen-Songs gespielt werden dürfen. Am Ende des Romans hat Wells den Soundtrack zum Buch sogar aufgelistet; wobei ich schon beim Lesen Ohrwürmer von „I’m on fire“ und „Dancing with myself“ bekam.

Die Geschichte wirkt bis ins kleinste Detail stimmig, aber vor allem berührt sie. „Hard Land“ ist ein sensibel erzählter Coming-of-Age-Roman, der weder vor den großen noch kleinen Emotionen zurückschreckt, ohne je ins Rührselige abzudriften. Einfühlsam und vor allem großartig geschrieben, widmet er sich einem ganz besonderen Sommer und enthält dabei ein paar Wahrheiten, die nostalgisch und nachdenklich machen. Absolute Empfehlung.

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Veröffentlicht am 03.03.2021

Wenn die Humanität auf der Strecke bleibt

Boat People
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Dieser beeindruckende Roman zeigt Kanada als Einwanderungsland. Sharon Bala beschreibt es aus der Perspektive eines tamilischen Flüchtlings, einer Jurastudentin und einer Asyl-Entscheiderin. Der Flüchtling, ...

Dieser beeindruckende Roman zeigt Kanada als Einwanderungsland. Sharon Bala beschreibt es aus der Perspektive eines tamilischen Flüchtlings, einer Jurastudentin und einer Asyl-Entscheiderin. Der Flüchtling, Mahindran, richtet all seine Hoffnung auf ein neues Leben mit seinem sechsjährigen Sohn Sellian, nachdem ihre komplette Familie im sri-lankischen Bürgerkrieg umgekommen ist. Als sie dann aber 2009 mit 500 anderen Tamilen auf einem verrosteten Frachter in British Columbia ankommen, werden sie getrennt: Während Frauen und Kinder zusammenbleiben, werden die männlichen Flüchtlinge separat in einem leeren Gefängnis untergebracht und warten da auf ihre Anhörungen – monatelang. Sellian kommt zu einer kanadischen Pflegefamilie, die kein Wort Tamil spricht. Seinen Vater sieht er nur noch samstags im Gefängnis.

Die Jurastudentin Priya befasst sich im Rahmen eines Praktikums wider Willen mit dem Fall – eigentlich möchte sie sich auf Körperschaftsrecht spezialisieren, doch ein Senior Counsel der Kanzlei vereinnahmt sie, um die Flüchtlinge auf ihre Anhörungen vorzubereiten. Nicht ganz zufällig, denn Priya hat tamilische Wurzeln. Und dann ist da noch Grace Nakamura, die als Mitglied einer Prüfungskommission darüber entscheidet, ob die Tamilen in Kanada einen Asylantrag stellen dürfen. Sie soll die Schwarzweiß-Maßstäbe einer reichen Industrienation auf die 500 Männer, Frauen und Kinder anwenden, die in Sri Lanka um das nackte Überleben kämpfen mussten und stößt dabei an ihre Grenzen. Und auch privat lässt sie das Thema Einwanderung nicht los: Bei ihrer demenzkranken Mutter kommen Kindheitserinnerungen hoch; Graces Großeltern sind selbst als japanische Flüchtlinge ins Land gekommen.

Balas Geschichte ist universell: Die „Boat People“ könnten aus jedem Krisengebiet stammen und statt Kanada auch ein anderes westliches Land angesteuert haben. Der Roman handelt von Flucht und Vertreibung, Terrorangst und Bürokratie. Bala wertet nur selten; sie zeigt Verständnis für alle Seiten und verdeutlicht dabei still und leise, wie die Humanität auf der Strecke bleibt. Und dass niemand als „Boat People“ geboren wird; dass es keine leichtfertige Entscheidung ist, die Heimat zu verlassen und auf ein marodes Schiff zu steigen. Manchmal liest sich der Roman herzzerreißend, wenn z.B. in Rückblicken erzählt wird, was der Abzug der Vereinten Nationen aus dem tamilischen Rebellengebiet für die Zivilbevölkerung bedeutete. Es gibt aber auch kleine Lichtblicke: Die Mitmenschlichkeit, die man im System vergebens sucht, existiert im Kleinen, Privaten durchaus.
Die „Boat People“ rühren an etwas, vor dem man nur zu gern die Augen verschließt: dem Leid der anderen, die weit weg leben. Sharon Bala bringt den Lesenden das Thema Migration ganz, ganz nah.

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Veröffentlicht am 26.02.2021

Etwas ganz Besonderes

Mädchen, Frau etc. - Booker Prize 2019
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Was für ein Buch! Die Protagonistinnen sind alle sehr unterschiedliche Charaktere, die innerhalb einer Zeitspanne von ca. 100 Jahren geboren wurden, größtenteils in England. Sie eint, dass sie Persons ...

Was für ein Buch! Die Protagonistinnen sind alle sehr unterschiedliche Charaktere, die innerhalb einer Zeitspanne von ca. 100 Jahren geboren wurden, größtenteils in England. Sie eint, dass sie Persons of Color (BPoC) sind und unter anderem afrikanische Wurzeln haben.

Die Autorin Bernadine Evaristo gibt den Geschichten in „Mädchen, Frau etc.“ Struktur, indem sie die ersten vier Kapitel nach dem gleichen Schema anordnet: mit je drei Unterkapiteln, die jeweils den Namen der Figur tragen, deren Leben auf ungefähr 40 Seiten beleuchtet wird. Zwei der drei Unterkapitel-Protagonistinnen sind Mutter und Tochter, die dritte zumindest mit einer von beiden bekannt. Los geht es mit Amma, einer bisexuellen Theaterregisseurin kurz vor der Premiere ihres ersten im National Theatre in London aufgeführten Stücks. Und mit der nachfolgenden Premierenparty schließt sich auch der Kreis; ihr ist das fünfte und letzte Kapitel dieses Romans gewidmet.

Der klare Aufbau hat mir bei der Orientierung im Buch geholfen; der Zusammenhang der episodenhaften Geschichten lässt sich gut erfassen. Ich empfehle Lesepausen und habe nach jeder Frauenfigur eine gemacht. Die geschilderten Erfahrungen und Entwicklungen sind so verschieden, dass ich sie erst einmal auf mich wirken lassen wollte. Evaristo ergründet die Charaktertiefen ihrer Figuren; auf verhältnismäßig wenigen Seiten kommt sie jeder Einzelnen sehr nah. Das liest sich intensiv und nicht immer ganz einfach. Kapitel, deren Fokus auf zwischenmenschlichen Verwicklungen liegt, habe ich zum Teil verschlungen, andere beschäftigen sich expliziter mit dem Genderthema und sind dadurch theoretischer. Im Laufe des Kapitels zu Megan/Morgan wurde mit „sier“ sogar ein neues Personalpronomen verwendet, von dem ich noch nie gehört hatte, weswegen es meinen Lesefluss erst einmal ziemlich ausgebremst hat.
An Evaristos besonderen Stil habe ich mich dagegen schnell gewöhnt: Sie benutzt kaum Punkte, sondern Absätze, um ihre Sätze zu strukturieren. Dass die Zeichen am Ende eines Satzes meist fehlen, ist mir kaum aufgefallen, aber mit ihren Absätzen verleiht die Autorin ihrem Text noch einmal viel mehr Wucht und betont zum Teil sogar einzelne Wörter, was das Leseerlebnis extra eindrücklich werden lässt.

Mich hat sehr fasziniert, wie Evaristo ihre Frauenfiguren mit deren vielfältigen Geschichten und Erfahrungen zum Leben erweckt. Sie sind so divers, wie Frauen nur sein können: aufopferungsvoll, borniert, ehrgeizig, ängstlich, rassistisch, stolz, fürsorglich, arrogant, verliebt, gehässig, antriebslos … Die Geschichte jeder einzelnen hätte für die Hauptfigur eines eigenen Romans gereicht, und mehr als einmal habe ich mir gewünscht, dass die Autorin noch einen über sie schreiben wird: z.B. über Bummi, die in Nigeria eine von Verlusten geprägte Kindheit hatte und das Leben ihrer Tochter Carole, einer Oxford-Absolventin, kaum mehr nachvollziehen kann. Oder über ebendiese Carole, die ein Trauma überlebt, Freundschaften geopfert, gekämpft und sich angepasst hat, um es als schwarze Frau in der Londoner Businesswelt nach oben zu schaffen, die aber trotzdem nicht glücklich wirkt. Über Hattie, die ihren Hof bis ins hohe Alter allein bewirtschaftet und ihre weitverzweigte Nachkommenschaft zu großen Teilen nicht besonders mag. Sie alle sind stark und verletzlich und haben Erfahrungen gemacht, die man sich kaum vorstellen kann, wenn man weiß ist. Bernadine Evaristos Roman ist horizonterweiternd, bereichernd, sensationell gut geschrieben und hat mich sowohl begeistert als auch zum Nachdenken angeregt.

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Veröffentlicht am 22.02.2021

Schicksalsüberladen

Die vier Gezeiten
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Dieser Roman handelt von vielen Frauen: Von einer, die in den 1930er Jahren auf Juist aufwächst und miterlebt, wie sich der Nationalsozialismus auf der Nordseeinsel ausbreitet. Von einer, die dort in den ...

Dieser Roman handelt von vielen Frauen: Von einer, die in den 1930er Jahren auf Juist aufwächst und miterlebt, wie sich der Nationalsozialismus auf der Nordseeinsel ausbreitet. Von einer, die dort in den 1960er Jahren vier Töchter an der Seite eines Mannes aufzieht, den sie nicht liebt. Von einer, die Ende der 1970er aus Verzweiflung im Watt verschwindet. Und von einer Neuseeländerin, die 2008 auf der Suche nach ihrer leiblichen Mutter nach Juist kommt.
Aber das ist noch nicht alles: Neben weiteren Frauenfiguren gibt es noch einen narzisstischen Familienpatriarchen, Altnazis und Umweltschützer; es ereignen sich gleich mehrere ungeplante Schwangerschaften und die deutsch-deutsche Geschichte spielt auch noch eine Rolle. Ganz schön viel für 480 Seiten! „Die vier Gezeiten“ sind leider so überladen mit Dramen, dass der Roman längst nicht jedem Handlungsstrang gerecht werden kann. Durch eine Fokussierung auf weniger Figuren hätte die Geschichte vermutlich gewonnen. Irritierend fand ich auch die Häufung der Schicksalsschläge innerhalb einer Familie, die aber kaum darüber spricht. Und das ist dann auch mein zweiter Kritikpunkt: Ich fand es nicht stimmig, wie wenig sich die einzelnen, größtenteils miteinander verwandten Protagonisten untereinander austauschen. Sicher kommt es vor, dass Gespräche zwischen Familienmitgliedern an der Oberfläche bleiben, aber hier nimmt es sehr seltsame Züge an; naheliegende Reaktionen bleiben oft aus. Das Verhalten gleich mehrerer Figuren wirkt dadurch etwas bizarr. Autorin Anne Prettin fügt ihre vielen Handlungsstränge zwar am Ende des Romans zusammen, aber auch im Nachhinein wird so längst nicht jede Reaktion auch nur halbwegs schlüssig erklärt.

Komplett überzeugend sind dagegen die Juist-Beschreibungen. Die Inselatmosphäre schwingt überall mit: Sonne, Strand und Sanddorn, Hammersee und Domäne Bill, Flughafen und Inselbahn – alles kommt vor und man fühlt fast, wie einem die Nordseeluft um die Nase streicht. Und so sind „Die vier Gezeiten“ schon ein gedanklicher Ausflug ans Meer, aber eben ein sehr überladener. Prettin hätte ihren vielen Protagonisten ruhig etwas weniger zumuten dürfen.

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Veröffentlicht am 15.02.2021

Mit dem Holzhammer

Offline - Du wolltest nicht erreichbar sein. Jetzt sitzt du in der Falle.
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Fünf Tage lang Digital-Detox vor atemberaubender Kulisse – davon versprechen sich acht Teilnehmer eines Bergtrips Entspannung pur. Zusammen mit zwei Organisatoren und einem Bergführer erklimmen sie den ...

Fünf Tage lang Digital-Detox vor atemberaubender Kulisse – davon versprechen sich acht Teilnehmer eines Bergtrips Entspannung pur. Zusammen mit zwei Organisatoren und einem Bergführer erklimmen sie den Watzmann, ohne Mobiltelefone und mit der Aussicht auf Erholung in einem erst halbrenovierten, luxuriösen Alpenresort. Doch gleich nach der ersten Nacht wird es für die inzwischen Eingeschneiten ungemütlich: ein Mitglied ihrer Reisegruppe scheint sich in Luft aufgelöst zu haben, das Satellitentelefon – einzige Verbindung zur Außenwelt – ist zerstört. Zusammen mit den beiden Hausmeistern sind sie im riesigen, leeren Hotel auf sich gestellt. Und als der Verschwundene schließlich gefunden wird, fängt das Grauen erst richtig an.

Die Idee von „Offline“ ist an sich nicht neu: Eine sich mindestens in Teilen unbekannte Gruppe kommt anscheinend zufällig an einem abgeschiedenen Ort zusammen und sitzt da plötzlich miteinander fest. Erst trägt man es noch mit Fassung, doch dann geschieht etwas Schreckliches und es wird klar, dass jemand Irres in der Nähe ist – oder sogar unter den Gruppenmitgliedern. Ein Paradebeispiel für diese Plotidee ist „Und dann gab’s keines mehr“ von Agatha Christie. Was sie allerdings mit subtiler Raffinesse löst, erledigt Arno Strobel mit dem Holzhammer. Gegruselt habe ich mich hier vor allem vor den platten Dialogen und dem oft unlogischen Verhalten der Protagonisten. Bei einem Psychothriller, der auf einen einzigen Handlungsort und die sich dort aufhaltenden Personen beschränkt ist, ist die stimmige Schilderung von Gedanken, Gefühlen und Kommunikation entscheidend. Doch genau daran hapert es hier immer mehr, je weiter die Geschichte fortschreitet. Teilweise gehen die geschlossenen Allianzen ganz offensichtlich gegen den gesunden Menschenverstand. Und so konnte mich der Thriller einfach nicht richtig packen.

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