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Veröffentlicht am 26.01.2018

Boulevard trifft Sachbuch.

Unser kreatives Gehirn
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Das Buch ist recht gut, leserfreundlich gestaltet, eher etwas für Einsteiger, die sich für das Thema begeistern wollen, um evtl. später auf seriösere Ausführungen umzusteigen.
Die 536 Seiten des reinen ...

Das Buch ist recht gut, leserfreundlich gestaltet, eher etwas für Einsteiger, die sich für das Thema begeistern wollen, um evtl. später auf seriösere Ausführungen umzusteigen.
Die 536 Seiten des reinen Textes sind in 28 Kapitel gegliedert. Diese sind nach 7 Themengebieten zusammengefasst worden: „Die Entwicklung unseres Gehirns im kulturellen Umfeld“, „Die Kunst und das Gehirn“, „Die Musik und das Gehirn“, „Gehirn, Beruf und Autonomie“, „Die Umgebung und das Geschädigte Gehirn“, „Das Denken über das Gehirn und uns selbst“, „Neue Entwicklungen und Gesellschaftlichen Konsequenzen“. Die Kapitel sind in kleinere Unterkapitel von 1-6 Seiten unterteilt. Darin gibt es sehr oft Bilder, Zeichnungen, sodass man insg. nicht allzu viel Text pro Seite hat und sich eher in einem Unterhaltungs- als Lehrbuch fühlt. Gleich zu Anfang gibt es „Schematische Darstellung des Gehirns im Längsschnitt“ und weitere Zeichnungen, die verschiedene Teile der Hirnrinde dem Leser erklären und das Verstehen der Ausführungen erleichtern. Vor kleineren Kapiteln gibt es gute Zitate: „Spazieren geht man nicht für den Körper, sondern für den Geist.“ S. 367 „Unser Leben spielt sich zwischen dem ersten und dem letzten Lächeln ab.“ S. 351, uvm.
Man sieht den Ausführungen an, dass der Autor es versteht, sein Fachwissen in den Dienst der Unterhaltung der breiten Masse zu stellen. Er bespricht die Themen so, dass es den Anfänger für dieses Themengebiet begeistern könnte. Die Themenauswahl fällt auch entsprechend aus: Sexualität und Homosexualität wurden ganz am Anfang besprochen. „Ein hoher IQ“, „Gehirnerkrankungen bei Künstlern“, wie Hieronymus Bosch zu seinen sonderbaren Visionen kam, die er in seinen Bildern zeigte und unsterblich wurde, auch „Die Alzheimer- Krankheit und andere Formen der Demenz“ uvm. sind dabei. Die Vielfalt an Themen ist schon beachtlich.
Manches ist aber zu flach, zu vereinfacht dargestellt worden. Neues ist rar, es gibt recht viele Allgemeinplätze. Manche These erschien mir zu steil und wenig begründet, manches auf Missverständnissen basiert, in etwa, auf welcher Grundlage die Russen ein Gesetz bezüglich der Verbreitung der Homosexualität verabschiedet hatten. Hier erschien mir die Integrität des werten Autors doch eher angeknackst. Erst brüstet er sich damit, welch enormes Interesse und großen Erfolg er in Moskau mit seinem Buch zelebrieren konnte, um dann zu erklären, wie verkehrt und rückständig er die Russen doch findet, a lá: Das viele Geld nehme ich schön mit, in der Heimat sind die Leute ja nicht so leicht zu begeistern, und hinterrücks lästere ich über euch. Es ist nichts Neues. Solch chauvinistische Handhabe hat eine lange Tradition, gehört in Europa nach wie vor „zum guten Ton“. Aber dass man sich selbst dabei nicht seltsam vorkommt und damit noch prahlt! Kopfschüttel.
Auch Swaabs Umgang mit Quellen rief bei mir ähnliche Reaktion, denn sie fehlten komplett. Hinten im Buch gibt es nach Glossar von 9 S. „Literatur“ erst allgemein, paar Titel, dann nach Kapiteln sortiert, aber ohne jede Referenz zur jeweiligen Seite. Man kann sich also kaum zusammenreimen, wo genau er manche steile These herhat und worauf sich seine Ausführungen insg. stützen.
Das Buch ist sonst schön gestaltet: Festeinband in Türkis, Umschlagblatt. Es ist normal groß, wiegt 1440gr. Kommt durchaus als Geschenk infrage.

Fazit: Für Laien, die primär Unterhaltung suchen und doch noch etwas über das Gehirn und seine Funktionsweise erfahren möchten, um damit in etwa auf einer Party aufzutrumpfen, ist dieses Buch prima geeignet. Die vielen bunten Bilder, kurze Unterkapitel, v.a. die Art der Stoffdarbietung sprechen dafür. Auch die Anfänger, die einen leichteren Einstieg ins komplexe Thema Gehirn suchen, werden hier gut bedient. Trotz mancher Schwächen vergebe ich mit viel Wohlwollen 4 Sterne.

Veröffentlicht am 19.01.2018

Die schöne Nord-Ostsee Küste. Viele tolle Fotos und Wissenswertes dazu!

Die Küste
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Klappentext beschreibt den Inhalt sehr treffend: „Wo Land und Meer direkt aufeinanderprallen, haben sich einige der schönsten und faszinierendsten Naturräume der Erde herausgebildet. Neben einer einzigartigen ...

Klappentext beschreibt den Inhalt sehr treffend: „Wo Land und Meer direkt aufeinanderprallen, haben sich einige der schönsten und faszinierendsten Naturräume der Erde herausgebildet. Neben einer einzigartigen Flora und Fauna entstehen im Wechselspiel von Wind und Wellen, von Wasser und Land sich stetig verändernde Landschaften. Obwohl sie nur einen schmalen Saum am Rande der Kontinente bilden, gehören unsere Küsten zu den spannendsten und dynamischsten Gebieten auf der Welt. Ob feinsandiger Strand oder felsiges Kliff, von den Gezeiten geprägtes Watt oder windgepeitschte Dünen: Alle Küsten bieten eine atemberaubende Natur zum Entdecken, Erfahren und Erleben. Bruno P. Kremer und Fritz Gosselck nehmen Sie mit auf mitreißende Dünenwanderungen, erklimmen steile Klippen und tauchen mit Ihnen in geheimnisvolle Gezeitentümpel ein. In diesem eindrucksvoll bebilderten Band lernen Sie unsere Küstenlandschaften von Nord- und Ostsee von ihren spannendsten Seiten kennen und erfahren viel Besonderes über die hier beheimatete Pflanzen- und Tierwelt.“

Auf 192 Seiten, mithilfe von 244 Farbabbildungen und 10 Tabellen, bringen die Autoren die Küste von Nord- und Ostsee ihren Lesern nahe.

Mit viel Liebe ist dieser Band gemacht worden. Man sieht die Begeisterung für die Küste und ihre Bewohner den Ausführungen an. Auch das pädagogische Wissen und Können kommt nicht zu kurz.

Zu den Autoren laut der Verlagsseite:

„Dr. Bruno P. Kremer, Studium der Biologie, Chemie und Geologie, bis 2012 Hochschullehrer an der Universität zu Köln. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu Themen der Umweltbildung, Naturerlebnispädagogik und Regionalwissenschaften (bislang ca. 170 Titel, übersetzt in 14 Sprachen).“

„Fritz Gosselck studierte an der Universität Rostock Biologie und spezialisierte sich auf das Fach Meeresbiologie. Dabei beschäftigen ihn die spezielle Fauna und Flora des Brackwassers sowie die Probleme, die der erhöhte Nährstoffeintrag, die Rohstoffgewinnung und Zerstörungen durch Bebauungen mit sich bringen. Meeresnaturschutz, speziell in Nord- und Ostsee sind weiterhin seine wichtigsten Betätigungsfelder.“

Es ist wie ein Kurzurlaub, wenn man im Buch blättert und den einen oder den anderen Text liest. Viele wunderschöne Fotos schaffen die Atmosphäre der Küste. Man genießt sie nicht nur, man lernt auch etwas dazu.
Die Texte sind meist kurz: mal eine, mal zwei, mal eine halbe Seite. Viel Wissenswertes über die Küste wird darin vermittelt: über ihre Flora und Fauna, über ihre Entstehung, weitere Entwicklung, Geschichte, Geologie, etc. Mit manchem weit verbreiteten „Falschwissen“ wird auch aufgeräumt, z.B. die Pflanzenbezeichnungen werden richtig gestellt, Einzelheiten zum Leben mancher Tiere erläutert, uvm.

Und natürlich ist man beim Lesen dieses Buches gleich dazu verleitet, an die Küste zu fahren, um das alles mit eigenen Augen zu sehen, im Watt zu wandern, die schöne Luft einzuatmen und die im Buch beschriebenen Naturphänomene zu beobachten.
Das Buch ist sehr gut zum Lesen mit Kindern geeignet, denn all die vielen bunten Naturbilder ziehen sogleich Aufmerksamkeit an sich. Das Wissen ist so zugänglich und bildhaft, anhand von Graphiken, Tabellen und Fotos vermittelt, dass es sich leicht einprägt, mehr Verständnis für die Vorgänge in der Natur entwickelt, sowie das Auge fürs Detail, auch für die Schönheit der Küste und ihrer Bewohner schult.

Das Buch ist hochwertig gestaltet: Festeinband in Tiefblau, Schutzumschlag. Weiterführende Literatur ca. 82 Titel, Register zum besseren Navigieren, Abbildungsverzeichnis gibt es hinten. Es ist recht groß: 23 x29,5 x2cm und wiegt 1151gr.

Fazit: Ein schöner Bildband mit viel Wissenswertem über die Nord-Ostsee Küste. Für Naturliebhaber und diejenigen, die es werden wollen. Prima als Geschenk und zum Lesen mit Kindern.

Veröffentlicht am 12.01.2018

Humorvoll, tiefgründig und unterhaltsam!

»Nichtalltägliches aus dem Leben eines Beamten« und »Einladung zum Klassentreffen«
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Die zwei Theaterstücke von Martin Schörle „Nichtalltägliches aus dem Leben eines Beamten“ und „Einladung zum Klassentreffen“ habe ich gern gelesen. Von der Bühne, von tollen Schauspielern vorgetragen, ...

Die zwei Theaterstücke von Martin Schörle „Nichtalltägliches aus dem Leben eines Beamten“ und „Einladung zum Klassentreffen“ habe ich gern gelesen. Von der Bühne, von tollen Schauspielern vorgetragen, wie ich es mir beim Lesen leicht vorstellen konnte, wären sie bestimmt ein lang anhaltendes, beeindruckendes Erlebnis. Aber auch als Lesestoff sind sie eine sehr gute, kluge, bereichernde Unterhaltung, die einen zum Nachdenken anregt und das eine oder andere Lächeln dabei entlockt.

Diese Mischung aus der guten Prise Humor, Selbst-Ironie, die manchmal ins Tragische hinübergleiten, angereichert mit Gesellschaftskritik und Unmöglichkeit, etwas an dem Ganzen zu ändern, mit der die Geschichten gewürzt sind, ist schon an sich beeindruckend. Noch beindruckender ist aber das wohl ersichtliche Können des Autors, das Ganze in einem Theaterstück mit einer Leichtigkeit zu präsentieren, dass man darin versinkt und voll in dieser Welt aufgeht.

So sieht man das schöne Zusammenspiel des Talents und der handwerklichen Fertigkeit, das imstande ist, die Leser bzw. die Zuschauer, in Staunen und Verzauberung zu versetzten.

Besonders gern habe ich das zweite Theaterstück, „Einladung zum Klassentreffen“ gelesen. Auch das hätte ich gern mal von der Bühne vorgetragen gesehen. Einfach großartig. Die Form und der Inhalt passen wunderbar zusammen und erzählen eine Geschichte, die eigentlich aus Lebensgeschichten mehrerer Beteiligten besteht, die insg. auf viele Menschen unserer Zeit zutrifft, i.e. der Generation um die vierzig den Spiegel vors Gesicht hält, zum Nachdenken anregt und doch so besonders und aufregend wie bei diesen beiden ist. Da unterhalten sich schlicht ein Mann und eine Frau, ehemalige Klassenkameraden, über ihre halb gelebten Leben. Klingt vordergründig so unspektakulär, doch wenn man dieses Theaterstück liest, gewinnt das Ganze an Tiefe und Bedeutung. Eine Prise der Selbstironie schwingt da auch mit. Im Klappentext liest man: „…Inhaltlich eine Liebesgeschichte, wagt das Stück den Spagat zwischen Komik & Tragik, Lachen& Weinen.“ Und ich sage, sie wagt den Spagat nicht nur, dieser ist auch ganz hervorragend gelungen. Es war mir ein Vergnügen, diese beiden Figuren kennenzulernen.

Fazit: Die zwei Theaterstücke von Martin Schörle habe ich gern gelesen und kann sie gut weiterempfehlen. Vllt wären sie auch etwas für Theatertruppen, die aus ambitionierten Freizeitschauspielern bestehen. Unterhaltsam, tiefgründig, wären sie eine Bereicherung für die Bühne, auch sehr unterschiedlich vom Thema und von der Stimmung her.
Ich wünsche Martin viel Erfolg und dass er seine Leser/Zuschauer mit vielen tollen Theaterstücken auch weiterhin erfreut.

Veröffentlicht am 10.01.2018

Ein sehr lesenswertes Buch über die Forschung der Neurowissenschaftler bei Wachkommapatienten.

Zwischenwelten
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Zwischenwelten von Adrian Owen habe ich gern gelesen und kann das Buch auch gut weiterempfehlen.
Klappentext beschreibt den Inhalt sehr treffend.
Man bekommt Einblicke in die Arbeit der Neurowissenschaftler ...

Zwischenwelten von Adrian Owen habe ich gern gelesen und kann das Buch auch gut weiterempfehlen.
Klappentext beschreibt den Inhalt sehr treffend.
Man bekommt Einblicke in die Arbeit der Neurowissenschaftler mit den Wachkomapatienten, die an schweren Hirntraumata leiden. Entgegen der weit verbreiteten Meinung, dass Komapatienten nicht wahrnehmungsfähig sind, beschreibt Owen Fälle aus seiner Praxis basierend auf über 20 Jahren Erfahrung, dass oft gerade das Gegenteil den Tatsachen entspricht. Solche Patienten können durchaus bei Bewusstsein sein, sie können sich aber nicht auf die übliche Weise mitteilen. Owen berichtet von seinen Experimenten und Lösungen, die es ihm und seinem Team ermöglicht haben, mit Wachkomapatienten zu kommunizieren.
In seltenen Fällen konnten sie sich auch soweit erholen, dass sie ein fast normales Leben wieder führen konnten. Sie erzählten, wie sie sich fühlten, als sie im Wachkomazustand verweilten, was sie von der Welt um sie wahrnehmen konnten, wie schrecklich es bei manchen zuging, da sie fälschlicherweise für hirntot gehalten wurden, da sie den üblichen Händedrucktest nicht bestanden haben. Sie konnten aber alles verstehen, was um sie herum geschah, v.a. belastend war es für sie, dass sie wie ein Stück Fleisch behandelt wurden, dass niemand mit ihnen sprach, nur eben schnell die Pflege zukommen ließ und verschwand. Es gab auch andere Fälle, bei denen die Wachkomapatienten sehr liebevoll von ihren Partnern gepflegt wurden und mit ihnen kommunizieren konnten. Bloß wissenschaftlich konnte man das nicht nachweisen. Solchen Menschen wollte der Autor u.a. ihre Stimme geben und das ist ihm sehr wohl gelungen. Er erzählt über sie, dessen Leben sich von einer Minute auf die andere schlagartig veränderte. Diese Schicksale können einen einfach nicht gleichgültig zurücklassen.
All diese Dinge sind schön erzählt. Der Ton ist prima getroffen: Sachlich, aber auch sehr menschlich und warmherzig. Das Verhältnis zwischen dem wissenschaftlichen Part und der Unterhaltung ist wohl ausgewogen.
Das letzte Kapitel mit dem Ausblick finde ich sehr spannend. Owen spricht von dem, was bisher erreicht werden konnte und von den neuen Forschungsmöglichkeiten und Anwendungsgebieten, z.B. bei Alzheimer. Er spricht auch von neuen Technologien, die es ermöglichen werden, die Impulse im Gehirn der Wachkomapatienten in die jeweilige Sprache zu übertragen, so könnten solche Menschen ihren Willen mitteilen und den Umgang mit ihnen besser zu gestalten.
Paar Zitate:
„Winifred und Leonard haben uns gezeigt, wie menschliches Bewusstsein gleichsam auf das Leben eines anderen übergreift. Selten können wir und vollständig beschreiben oder verstehen, ohne unsere Beziehungen und unseren Einfluss auf unsere Umgebung einzubeziehen. Was den einzelnen Menschen ausmacht, ist nicht nur sein Gehirn, es sind auch seine Erinnerungen, Gefühle, Haltungen und Meinungen, die auf andere abfärben. Und selbst nach dem Tod kann ein Mensch das Leben seiner Hinterbliebenen weiterhin prägen und beflügeln.“ S. 297.
„.. die Arbeit mit Wachkommapatienten hat mir klargemacht, dass wir eines nicht vergessen dürfen: Allein durch das Sein trägt jeder von uns zum Entstehen des Ganzen bei.“ S. 300.
Das Buch ist schön gestaltet: Festeinband in sehr hellem Grau, Umschlagblatt passt sehr gut zum Inhalt. Die Schrift ist leserfreundlich: nicht zu klein. Inhaltsverzeichnis vorn hilft beim Navigieren im Buch. Hinten gibt es Anmerkungen/Quellen, auf Kapitel unterteilt, enthalten nicht nur Bücher, sondern auch Dokus, Spielfilme, Serien und Webseiten.

Fazit: Ein sehr lesenswertes Buch, das die Forschung der Neurowissenschaftler in Sachen Wachkommapatienten auf sachliche, aber auch warmherzige und unterhaltsame Weise den Lesern nahebringt, dabei einiges über die Kraft der menschlichen Psyche verrät und manche Geheimnisse unseres Bewusstseins lüftet.

Veröffentlicht am 10.01.2018

Ein sehr beeindruckender Bericht!

Selbst das Heimweh war heimatlos
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Moritz Scheyers Bericht über seine Flucht aus Wien und sein Leben und Leiden in Frankreich während des zweiten Weltkrieges und weiter bis 1949 ist ein sehr beeindruckendes Werk, das man gelesen haben sollte. ...

Moritz Scheyers Bericht über seine Flucht aus Wien und sein Leben und Leiden in Frankreich während des zweiten Weltkrieges und weiter bis 1949 ist ein sehr beeindruckendes Werk, das man gelesen haben sollte. Es ist ein Leseerlebnis der besonderen Art, das noch lange nachklingt, nachdem die letzte Seite umgeblättert worden ist.

„Moritz Scheyer (1886-1949) war ein rumänischstämmiger jüdischer Schriftsteller und Journalist, der in Wien aufwuchs. Seit 1914 arbeitete er als Theater-, Literatur- und Musikkritiker für das „Neue Wiener Tagblatt“. Scheyer vröffentlichte zahlreiche Bücher. Im August 1938 flüchtete er nach Frankreich, wo er 1949 in Belvés (Dordogne) starb.“ So Klappentext.

Der Bericht fängt mit der Beschreibung von Wien kurz vor dem „Anschluss“ Österreichs in 1938 an Hitler Deutschland an, fährt mit den Zuständen während dieser Zeit fort, dann folgt Paris, da Scheyer Wien verlassen musste und letztlich Südfrankreich. Diese bedrohliche Atmosphäre in Wien und die der befremdlichen Frivolität und Nonchalance der Pariser Gesellschaft, die breitwillige Geschäftemache mit der neuen Macht während des „Sitzkrieges“, die Versuche, den Unfug schön zu reden, die chaotischen Zustände während der Flucht aus Paris in Richtung Süden uvm. All die Geschehnisse sind so unmittelbar und zum Greifen nah geschildert worden, dass man voll darin versinkt und den Eindruck hat, man wäre selbst dort zusammen mit dem Autor dabei: Man sieht all den Wahnsinn der Nazis, man geht mit Scheyer zusammen in KZ in Südfrankreich und erlebt all das mit, was er in seinen Aufzeichnungen so bildhaft und eindringlich schildert. Scheyer beschreibt auch den sozialen Abstieg, diese rasche Entwicklung der Abwärtsspirale entlang: Da war man ein angesehener Literat und Journalist in Wien, schon muss man fliehen, wird wie ein Unmensch behandelt, als ob man Schlimmes getan hätte, dabei der einzige Grund, dass er Jude war.
Die Kapitel sind kurz, was stets dazu verleitet, immer weiter zu lesen und noch ein nächstes und übernächstes Kapitel aufzuschlagen. Da braucht man keine frei erfundenen Thriller. Hier ist alles dabei: Spannung, Horror, Morde uvm, aber auch Familienleben, Familienzusammenhalt, die Güte einiger Menschen trotz allem, etc.

Es ist toll geschrieben: gekonnt wie talentiert mit guter Prise schwarzen Humors, denn ohne könnte man all dies nicht ertragen. Blankes Überleben war die erste Priorität. Ach Scheyers scharfsinnige Analysen der Situation, des menschlichen Verhaltens ggü der neuen Macht, sein Blick auf die Politiker in oberen Machtetagen, er hat sie prima aufs Korn genommen, beeindrucken genauso wie seine unter die Haut gehenden Schilderungen der Zustände dieser Jahre.
Das Manuskript war lange Zeit verschollen. Erst in 2015 wurde die Kopie im Nachlass von Stiefenkel Scheyers Peter N. Singer entdeckt. „… doch wächst sein Bericht über das dokumentarische Zeugnis hinaus, wird zum Werk eines feinfühligen Literaten…“, sagt der Klappentext. So sehe ich es auch. Es ist ein ganz besonderes Leseerlebnis.

Das Nachwort von Peter N. Singer auf etwa 50 Seiten ist auch sehr lesenswert. Singer erzählt die Geschichte Scheyers aus seiner Perspektive. So erfährt man u.a., was nach dem Tod Scheyers passierte und warum sein Werk so lange auf die Veröffentlichung warten musste.

Das Buch ist sehr schön gestaltet, perfekt als Geschenk: Festeinband in Dunkelrot, Lesebändchen in Hellgrau, passend zur Grundfarbe des Umschlagblattes. Vorn und hinten gibt es farbige geographische Karte, die Frankreich 1942 mit all den Besatzungs- und anderen Zonen abbildet und die Fluchtroute und den Aufenthaltsort Scheyers gut nachvollziehen lässt. Es gibt auch viele schwarz-weiß Fotos, die Scheyer, seine Frau, andere Personen, die im Manuskript auftauchen, abbilden und so das Ganze noch nähr erleben lassen.

Fazit: Ein tolles, sehr lesenswertes Werk! 5 Sterne!