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Veröffentlicht am 18.04.2023

Nicht wirklich an "Büchners Dingen" interessiert

Georg Büchner Jahrbuch / Büchners Dinge
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Georg Büchner Jahrbuch 15 und der material turn: Nicht nur „Abtörner“ sondern Amnesie

Jan Keupp, Historiker mit dem Mut zur kritischen Distanz im Hinblick auf ausufernde ‚Kapital‘-Inflation akademischer ...

Georg Büchner Jahrbuch 15 und der material turn: Nicht nur „Abtörner“ sondern Amnesie

Jan Keupp, Historiker mit dem Mut zur kritischen Distanz im Hinblick auf ausufernde ‚Kapital‘-Inflation akademischer „Erkenntnisflut“ , „Kapital und Erkenntnis“ hier freilich ausgesprochen ironisch gemeint, darf sich unfreiwilliger Bestätigung aus dem Hause der Georg Büchner Gesellschaft (in Zusammenarbeit mit der Frankfurter Universität) erfreuen. Der soeben erschienene 15. Band des Georg Büchner Jahrbuchs unter dem Motto „Büchners Dinge“ huldigt nicht nur explizit dem aktuellen akademischen Trend des material turn, sondern erliegt auch der von Keupp beschworenen Warnung vor der Gefahr, dass die Dinge hinter den Worten verschwinden könnten. Der genannte akademische Skeptiker zitiert Georg Simmel: „Unentrinnbar eingekreist von den eigenen Artefakten nämlich müssten [die Menschen der Moderne] eine blaserte Aversion gegen die Greifbarkeit der Gegenstände entwickeln. Nur mehr ‚mit gleich zurückgezogenen Fingerspitzen‘ würde man sich der Objektwelt nähern und ‚statt der Dinge nur die Schleier, die um die Dinge sind‘ betrachten.“ Das mag für den Historiker fataler sein, als für den Literaturwissenschaftler, wenngleich auch letzterer Rechenschaft über den Unterschied und die Beziehung von Sein und Schein, von Daten und Theorie zu geben hat, eine Differenzierung, die die Spekulationsblase der akademischen Text-Inflation leicht zum Platzen bringen könnte. Im Falle des aktuellen Georg Büchner Jahrbuchs begibt man sich seitens der Forschung im Rückewind früherer turns und trends , die zeigen, das Wasser keine Balken hat, auf festes – Glatteis. Die Herausgeber Roland Borgards, Martina Wernli und Esther Köhring wollen nicht nur hin zu den Dingen, sondern darüber hinaus zu einem „neue[n] Verständnis der Dinge selbst“. Dinge seien nicht nur passive Inskriptionsflächen für semantische Zuschreibungen, sondern oft auch voller Widerständigkeit oder gar geprägt von einer eigentümlichen Selbsttätigkeit, einer ‚Wirkmächtigkeit‘ oder ‚Agency‘.
Das mag so sein, oder auch nicht. Mir geht es hier nicht um Philosophie, sondern um die vergebene Chance der Büchner-Rezeption, Keupps düstere Prognose zu widerlegen und am Beispiel eines bestimmten ‚Dings‘ in Georg Büchners Woyzeck-Fragment dem Verständnis von Büchners literarischem Werk auf die Sprünge zu helfen. Dabei stehen dann aber erst einmal nicht Verselbstständigkeitsprozesse von Dingen im Mittelpunkt (vorsicht: Glatteis), sondern die Dinge selbst. Im Rahmen des material turn will ich hier tiefergehendes Räsonnieren über die Holzwege, auf denen die Büchner-Rezeption angeleitet oder auch autonom wandelt, vermeiden; im Falle von Alfons Glücks Essay „Über Dinge in Georg Büchners Woyzeck“ bestätigt sich indes Simmels Statement von einer merkwürdigen Aversion gegen die Objektwelt so klar und eindeutig, dass ich nicht umhin kann, dem besonderen materiellen ‚Ding‘ in diesem Zusammenhang eine Lanze zu brechen.
Alfons Glück reflektiert auf einer einzigen schmalen Seite über das ‚Messer‘ im Woyzeck: Das Corpus Delicti einer inneren Stimme, die dem Soldaten den Mord an seiner Geliebten aufträgt, der, zumindest im 1. Handschriftenentwurf H1,15 (und implizit auch in Bezug auf H3,2) ausgeführt wird. Insbesondere fokussiert Glück auf Woyzecks Messerkauf und auf den Preis dieses Messers. Glück bezieht diese „zwei Groschen“ „untergründig“ auf den Menschenversuch, bei dem Woyzeck als Proband eines Ernährungsexperiments gegen täglich zwei Groschen nur Erbsen isst … und damit das Messer, bzw. dessen Preis unmittelbar wie mittelbar auf Woyzecks „Armut“. Das ist insofern auch nicht verunderlich, weil Alfons Glück in der Büchner-Forschung sozusagen das Urgestein der schlichtesten materialistischen Interpretationsform repräsentiert.
Gleichwohl bietet sich mit Glücks Essay die Chance einer Bestandsaufnahme, ob der turn zu den Dingen besagten Germanisten mit der Nase auf die unmittelbar auf den Messerkauf folgende Szene stößt, in der das Stechen und damit auch das verbunden Ding ‚Messer‘ eine möglicherweise prekäre Rolle spielen. Vordergründig mehr oder weniger harmlos als Metapher: Marie, Woyzecks Geliebte, mit der er ein Kind hat, ruft in höchster Verzweiflung: „Das Kind gibt mir einen Stich ins Herz.“ Seit Volker Klotz‘ Geschlossene und offene Form im Drama ist bekannt, dass ‚Messer‘ und ‚stechen‘ Teil einer metaphorischen Verklammerung darstellen, die sich durch mehr oder weniger alle Szenen erstreckt. Wird Alfons Glück nach der Besprechung der Messerkauf-Szene umblättern? Wird er Maries ‚Ins-Herz-Stechen“, das Ins-Herz-Stechen des Kindes, registrieren? Wird er in diesem Kontext an das Ding denken, das in der vorangegeangenen Szene physisch eine Rolls spielte? Wird er das nach Maries Ausruf unvermittelt auftretende kleine Kind mit dem vorher mit dem Messer assoziierten Käufer und dessen innere Stimme, die eindrucksvoll genug Maries Erstechen fordert, zusammenbringen? Wird bei Alfons Glück dann der Groschen fallen, was der nun auftretende Narr damit meint, dass er sich morgen (Antizipation!) der Frau Königin ihr Kind holen wird und wird er entdecken, worauf sich des Narren merkwürdiges „Blutwurst spricht, komm Leberwurst“ bezieht, nämlich auf Woyzecks (Blutwurst) Buhlen um seinen nach der Ermordung der Mutter nun mutterlosen Sohn (Leberwurst) in H3,2, wird Alfons Glück sich durch das Messer-Ding anturnen lassen, den Woyzeck neu zu vertehen? Fehlanzeige, obwohl der Büchner Gesellschaft meine Analyse seit dem Jahr 2003 und erst recht seit meiner 2012 veröffentlichten Monografie über Georg Büchner nachweislich bekannt ist. Wenn Alfons Glück nämlich, wie eine kompetente Hermeneutik das vorzunehmen hätte, das Teil aufs Ganze und das Ganze auf das Teil bezieht, dann darf er nicht nur materialistische Rosinen picken. Aber in diesem Fall ist das Ganze – nicht nur der akademischen Rezeption – erwiesenermaßen unerwünscht.
Nun ist „das Ganze“ im allgemeinen zunächst meist mehr oder weniger unbekannt und möglicherweise per se irgendwie imaginär und darüberhinaus nicht vom Rezipienten zu trennen. Gleichwohl ist es im Hinblick auf Literatur empirisch nachweisbar, auch wenn das nicht immer einfach ist. Damit verbunden ist das Problem, die maßgeblichen Teile von etwas Unbekanntem zu identifizieren. Theodor Fontane legt diesen Zusammnhang seinem Professor Wilibald Schmidt in Frau Jenny Treibel in den Mund: „Das Nebensächliche, soviel ist richtig, gilt nichts, wenn es bloß nebensächlich ist, wenn nichts drinsteckt. Steckt aber was drin, dann ist es die Hauptsache […].“ Haupt- oder Nebensache, das ist bei der Messerkauf-Szene die Frage. Sind das alte, wenngleich scharfe Messer und die „zwei Groschen“, die (wegen des gleichen Salärs) an das Ernährungsexperiment anschließen könnten, Hauptsache, sind sie Nebensache?
Alfons Glücks Essay steht logisch und dramaturgisch auf verlorenem Posten. Denn aufs Ganze bezogen stellt sich heraus, dass Woyzeck bereits zu Beginn des Dramas (beim Stöckeschneiden) mit einem Messer hantiert. Der Messerkauf ist daher überflüssig. Die „zwei Groschen“ sprechen gegen das Argument der Armut, sie sind inmitten aller materiellen Not sozusagen zum Fenster hinausgeworfen. Andererseits wiederum stellt das ‚Ding‘ beim Messerkauf die Hauptsache dar. Es soll den Bezug zum Dinghaften im Hinblick auf Maries Klage über den „Stich ins Herz“ herstellen, Erinnerung mobilisieren. Der metaphorische Stich in Maries Herz seitens des gemeinsamen Kindes, das sich laut Nebentext in diesem Moment an sie drängen soll (das aber im Szenentitel „Maire allein, blättert in der Bibel“ gar nicht erwähnt wird), wäre völlig unproblematisch aber auch sinnwidrig, wenn nicht auch die wörtliche Bedeutung des Stichs, das dahinterstehende Ding ‚Messer‘ und der in der Szene vorher auftretende Messerstecher Woyzeck mitgemeint wäre. Das muss man sacken lassen.
Offensichtlich hat der material turn, trotz womöglich gut gemeinten Absichten, nicht die Kraft, zum Ding vorzustoßen, schon gar nicht, wenn heikle aber sprachlich extrem interessante und literarisch bedeutungsungsvolle Implikationen damit einhergehen. Zumindest im Falle der Büchner Gesellschaft, ihrem aktuellen Jahrbuch 15 und der mit der Herausgabe betrauten Frankfurter Univeristät behält Jan Keupp Recht: „Es klafft ein immer weiterer Abgrund zwischen der Kultur der Dinge und der des Menschen.“ Das überflüssige Ding hat in diesem Fall knapp 200 Seiten und kostet 79,95 €.