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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 04.06.2017

Eine Zugfahrt in die Vergangenheit

6 Uhr 41
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Manchmal gibt es im Leben diese Momente, die einen sofort zurück in die Vergangenheit katapultieren. Momente, die mit einem Schlag Erlebnisse, die man eigentlich vergessen wollte, wieder heraufbeschwören. ...

Manchmal gibt es im Leben diese Momente, die einen sofort zurück in die Vergangenheit katapultieren. Momente, die mit einem Schlag Erlebnisse, die man eigentlich vergessen wollte, wieder heraufbeschwören. Solch einen Moment erlebt Cécile Duffaut im 6-Uhr-41-Zug nach Paris. Denn auf den Platz neben ihr, setzt sich ein Mann, den sie sofort erkennt: Philippe Leduc. Auch Philippe hat Cécile gleich erkannt. Vor 27 Jahren waren beide nämlich ein Paar, doch die Beziehung endete unschön. Nun sitzen sie nebeneinander, sind geschockt und unfähig, den anderen anzusprechen. Jeder für sich erinnert sich an diese Zeit, die Jahrzehnte zurückliegt und doch so nah ist, als wäre sie erst gestern gewesen. Der Roman ist im Grunde ein einziger innerer Monolog. Wobei der Leser immer abwechselnd einmal in Céciles und einmal in Philippes Gedanken eintaucht. Beide lassen ihr Leben Revue passieren und nach und nach wird auch die gemeinsame Vergangenheit von Philippe und Cécile aufgedröselt – bis zu dem Tag, an dem die Liebschaft der beiden ein jähes Ende fand. Blondel schreibt flüssig, schlicht und treffend. Er zeichnet nicht nur das Drama einer ungleichen Liebe, sondern greift auch die Probleme und Sehnsüchte einer Generation auf, die zwischen Familie und Arbeit feststeckt und sich immer wieder fragt, was man hätte werden können, wäre das Leben anders gelaufen. Die Geschichte ist aber nicht nur sehr feinsinnig und hintergründig, sondern hat auch ihre humorvollen Momente. So ist es einfach auch sehr witzig zu lesen, wie Cécile und Philippe nebeneinander sitzen, aber versuchen, sich gegenseitig zu ignorieren und sich dabei immer tiefer in diese unangenehme Situation hineinmanövrieren. Ein sehr lesenswertes Büchlein – tiefgründig, humorig und unterhaltsam.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Aufrüttelnd

Im Westen nichts Neues
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Aufwühlend, verstörend, unendlich traurig und gerade deswegen so aufrüttelnd – müsste ich „Im Westen nichts Neues“ mit nur wenigen Attributen beschreiben, wären es diese. Remarque erzählt in seinem Roman ...

Aufwühlend, verstörend, unendlich traurig und gerade deswegen so aufrüttelnd – müsste ich „Im Westen nichts Neues“ mit nur wenigen Attributen beschreiben, wären es diese. Remarque erzählt in seinem Roman die Geschichte des Schülers Paul Bäumer, der im Ersten Weltkrieg als Soldat an der Westfront kämpft. Die patriotischen Reden seines Lehrers hatte die komplette Klasse dazu gebracht, sich freiwillig zum Kriegsdienst zu melden. Doch statt eines kurzen Abenteuers erlebt Paul nur die Brutalität und den ganzen Schrecken des Krieges. Immer wieder fragt er sich dabei auch, wie seine Generation – sollte der Krieg irgendwann vorbei sein – sich je wieder in die Gesellschaft einfinden soll. Dieses Buch zu lesen ist kein Vergnügen – es ist gnadenlos, es bietet keine Hoffnung, es macht einem das Herz schwer. Dennoch konnte ich den Roman kaum aus der Hand legen. Zu großen Teilen lag das an Remarques Schreibstil: seine Sprache ist lebendig, lebensnah und direkt. Vor allem die Gefühle und Gedanken von Paul beschreibt er so authentisch, dass man sich geradezu an Pauls Stelle fühlt.

Ja, es gibt viele Bücher über Kriege bzw. die Weltkriege – keines ist aber wie dieses. Ein erschütternd ehrliches Buch, das zeigt, wie sinnlos der Krieg ist. Ein Buch, das jeder Mensch einmal in seinem Leben gelesen haben muss. Ich selbst bin fast ein wenig bestürzt, dass ich das Buch erst jetzt gelesen habe und ich werde mir auf jeden Fall auch noch die anderen Werke von Remarque anschauen.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Zeitdokument der 70er

Die verlorene Ehre der Katharina Blum
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Die Springerpresse, an erster Stelle die BILD-Zeitung, war eines der ärgsten Feindbilder der 68er-Generation. Sie machten die BILD verantwortlich für die Gewalt im Land, insbesondere für das Attentat auf ...

Die Springerpresse, an erster Stelle die BILD-Zeitung, war eines der ärgsten Feindbilder der 68er-Generation. Sie machten die BILD verantwortlich für die Gewalt im Land, insbesondere für das Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke. Auch Heinrich Böll sah sich als Opfer einer Rufmord- und Hetzkampagne der BILD, die ihn nach einer Stellungnahme über Ulrike Meinhof als Sympathisanten der RAF hinstellte. Auf die Berichterstattung der BILD-Zeitung reagiert Böll mit seiner Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. Katharina Blum ist 27 Jahre alt, gutaussehend und arbeitet als Haushälterin, nebenbei hilft sie bei Empfängen und Festlichkeiten aus. Weil sie sehr sparsam lebt, kann sich Katharina mittlerweile eine Eigentumswohnung und ein Auto leisten. Diese bescheidene, unbescholtene Frau gerät nun in den Mittelpunkt der Sensationsmache einer großen Boulevardzeitung: Auf einer Faschingsparty verliebt sie sich in einen jungen Mann, der polizeilich gesucht wird. Sie verbringt mit ihm die Nacht und verhilft ihm zur Flucht. Ab da ist ihr ein Journalist der Zeitung auf den Fersen. Ihr Leben wird ausgeschlachtet, Aussagen von Nachbarn, Verwandten und Freunden werden verdreht, vage Annahmen ins unermessliche aufgeblassen. In Katharinas Leben ist nichts mehr wie zuvor und eines Tages eskaliert die Situation.

Böll zeigt in seiner kurzen Erzählung recht deutlich, wie eine moderne Hexenjagd aussehen kann und dass Medien dabei oft keine geringe Rolle spielen. Allerdings klagt Böll nicht nur die Sensationsgier der Boulevardpresse an, sondern auch die Menschen, die diese Medien konsumieren, ihnen Glauben schenken und diese dadurch auch finanzieren. Natürlich könnte Bölls Medienkritik auch noch in heutiger Zeit aktuell sein. Dennoch muss man die Erzählung wohl als Dokument ihrer Zeit sehen und verstehen. Sonst scheint die Geschichte zu übertrieben und drastisch. Nicht ganz so überzeugt hat mich letzten Endes der Erzählstil: Die Ereignisse werden sehr distanziert, als eine Art Protokoll wiedergegeben – dabei arbeitet Böll mit sehr viel indirekter Rede. Das macht die Geschichte extrem trocken und nüchtern.

Summa summarum ist „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ ein gutes Zeitdokument der 70er Jahre in der BRD – große Unterhaltung darf man aber nicht erwarten.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Schwache Fortsetzung

Sterne über der Alster
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Die Saga über die Hamburger Reederfamilie Dornhain geht weiter: „Sterne über der Alster“ ist die Fortsetzung des Romans „Das Haus am Alsterufer“ und knüpft direkt an den ersten Band an. Der Erste Weltkrieg ...

Die Saga über die Hamburger Reederfamilie Dornhain geht weiter: „Sterne über der Alster“ ist die Fortsetzung des Romans „Das Haus am Alsterufer“ und knüpft direkt an den ersten Band an. Der Erste Weltkrieg ist fast vorbei und die Revolution von 1918/19 steht bevor. Kaiser Wilhelm II. erklärt seinen Rücktritt und beendet somit die Monarchie in Deutschland. Arbeiter- und Soldatenräte bilden sich, Philipp Scheidemann ruft die Republik aus und es kommt zu Machtkämpfen zwischen verschiedenen Parteien. Inmitten dieser politisch unruhigen Zeit haben die drei Dornhain-Schwestern mit ihren ganz eigenen Problemen zu kämpfen. Das Hausmädchen Klara wartet indes immer noch auf ihren Verlobten, der im Ersten Weltkrieg in russische Gefangenschaft geraten ist.

Nachdem ich vom ersten Band „Das Haus am Alsterufer“ sehr begeistert war, hatte ich ziemlich hohe Erwartungen an die Fortsetzung. Leider kommt der Roman aber nicht an seinen Vorgänger heran. Natürlich, Micaela Jarys Schreibstil ist wiedermal sehr toll: Sie schreibt vereinnahmend, flüssig und sehr bildlich. Ich war wieder von der ersten Seite an in der Geschichte drin und hab das Buch recht schnell durchgehabt. Es gab aber trotzdem so einige Dinge, die mich gestört haben: Keinen richtigen Draht konnte ich diesmal zu den Protagonisten finden. Die drei Schwestern, allen voran Nele, mit der ich im ersten Band so mitgelitten habe, bleiben erstaunlich blass. So richtig weiterentwickelt haben sie sich irgendwie auch nicht und ihre Schicksalsschläge konnten mich nicht richtig berühren. Das Hausmädchen Klara, die eigentlich eine relativ große Rolle spielt, kommt zudem viel zu kurz. Dafür waren mir die Beziehungs- und Liebesdramen der drei Schwestern viel zu prominent. Vor allem die erste Hälfte des Romans dreht sich ja fast nur darum, wer gerade mit wem zusammen ist beziehungsweise zusammen sein will. Weil es dann auch noch relativ viele Rückblicke zum ersten Band gibt, hatte ich irgendwann das Gefühl, dass die Geschichte gar nicht richtig weitergeht.

Der geschichtliche Hintergrund und auch die Beschreibung Hamburgs sind eigentlich wieder sehr gelungen – man merkt, dass Jary recht gut recherchiert hat. Vor allem die gesellschaftliche Einstellung der Hamburger Oberschicht kommt gut rüber. Dennoch hat sie es diesmal nicht richtig geschafft, die sozialen Gegebenheiten und Probleme zu jener Zeit mit den Schicksalen der Familienmitglieder zu verknüpfen. Da nützt es auch nichts, dass eine der Schwestern live dabei war, als der Kaiser abdankt. Am Ende ging dann alles viel zu schnell und abrupt. Summa summarum: Ein Buch für nette Lesestunden, der erste Teil hat mir aber mit Abstand besser gefallen.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Außergewöhnliche Familiengeschichte

Die Monster von Templeton
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Hinter dem Titel „Die Monster von Templeton“ versteckt sich kein Schauerroman, sondern eine etwas andere Familiengeschichte. Genau diese Andersartigkeit ist der große Pluspunkt des Romans – so richtig ...

Hinter dem Titel „Die Monster von Templeton“ versteckt sich kein Schauerroman, sondern eine etwas andere Familiengeschichte. Genau diese Andersartigkeit ist der große Pluspunkt des Romans – so richtig überzeugen konnte mich der Roman am Ende dennoch nicht. Erzählt wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive, zumeist von Wilhelmina „Willie“ Upton. Gleich am Anfang kehrt sie nach einer folgenschweren Affäre mit ihrem Professor überstürzt in ihren Heimatort Templeton, zu ihrer Mutter Vi zurück. Templeton ist ein bezauberndes amerikanisches Kleinstädtchen und die Bewohner halten große Stücke auf die historischen Persönlichkeiten der Stadt, allen voran den Gründer Marmaduke Temple. Willie stammt sogar in direkter Linie von Marmaduke ab, was sie irgendwie zu etwas besonderem in ihrem Heimatort macht. Allerdings weiß Willie nicht, wer ihr Vater ist – nach den Erzählungen ihrer Mutter kommen drei Männer in Frage, mit denen sie damals in einer Kommune gelebt hat. So richtig los geht der Roman, als Willie von ihrer Mutter die Wahrheit über ihren Vater erfährt: Er ist ein angesehener Bürger von Templeton und behauptet, ebenfalls ein Nachfahre von Maramduke zu sein. Wie praktisch, dass Willie angehende Archäologin ist: Mit Feuereifer macht sie sich nun daran ihre Familiengeschichte bis ins 18. Jahrhundert zurück zu erforschen, um am Ende herauszufinden, wer ihr Vater ist. Stückchenweise hangelt sich Willie am Familienstammbaum entlang und deckt vergessene und bislang vertuschte Beziehungen, Begebenheiten und Familiengeheimnisse auf. Nebenbei erfährt man auch, wie die Stadt Templeton aufgebaut wurde und wie sie sich mit den Jahrhunderten entwickelt hat. Bald wird deutlich, dass einige von Willies Vorfahren ziemlich viel Dreck am Stecken hatten (also ziemliche Monster waren).

Die Idee hinter diesem Roman und vor allem den Aufbau finde ich sehr gelungen: Immer wieder gibt es Kapitel im Buch, in denen ein Vorfahr zu Wort kommt. Auch Briefe oder Tagebucheinträge der Vorfahren bekommt man zu lesen. Dazwischen sind alte Fotografien abgebildet. Richtig toll ist die Idee mit dem Stammbaum: Immer wieder wird Willies Familienstammbaum abgebildet und zwar immer dann, wenn Willie eine neue Entdeckung gemacht hat. Das heißt: Der Stammbaum wächst und verändert sich, bis am Schluss der ganze Stammbaum abgebildet ist und die kompletten Verzweigungen der Familie offenlegt.

An sich ist der Roman sehr vielschichtig: Es ist eine Mutter-Tochter-Geschichte, eine Familiensaga, eine verträumte Kleinstadtgeschichte und ein historischer Roman – man erfährt einiges über die Gründerväter Amerikas. Sogar den Mythos um ein See-Monster – ähnlich wie Loch Ness – hat Lauren Groff in dem Roman verarbeitet. Dazwischen gibt es zahlreiche Anspielungen auf die Lederstrumpf-Romane.

Dennoch: So richtig bannen konnte mich der Roman nicht. Gleich von Anfang an fand ich den Schreibstil sehr zäh, die Sätze zum Teil viel zu verkünstelt. Es hat fast 200 Seiten gedauert, bis ich in der Geschichte drin war. Und auch dann ging es für mich eher schleppend voran, manchmal hab ich mich sogar gelangweilt. Die Geschichte plätschert die meiste Zeit einfach so vor sich hin, hat keine richtigen Höhepunkte. Es ist tatsächlich manchmal so, als würde man eine Chronik lesen. Ein paar weniger Seiten und ein paar weniger Absurditäten wären vielleicht besser gewesen.

Summa Summarum: ein außergewöhnliches Buch, das mich aber nicht so recht überzeugen konnte.