Ein intelligenter Sozialthriller über kleine Veränderungen und große Fragen
Game ChangerNeal Shusterman ist ein wahrer Meister was Dystopien für junge Erwachsene angeht - das hat er bereits mit seinen beiden "Vollendet" und "Scythe" sowie dem Apokalypse-Thriller "Dry" bewiesen. Auch mit ...
Neal Shusterman ist ein wahrer Meister was Dystopien für junge Erwachsene angeht - das hat er bereits mit seinen beiden "Vollendet" und "Scythe" sowie dem Apokalypse-Thriller "Dry" bewiesen. Auch mit "Game Changer" hat er mal wieder eine originelle Grundidee gesellschaftskritisch und intelligent umgesetzt und einen spannenden Sozialthriller über kleine Veränderungen und große Fragen geschrieben.
Das Cover zeigt verschwommenen Kopf eines Jugendlichen, der sich vor einem knall-orangenen Hintergrund in Staub auflöst. Zusätzlich zum weißen Titel in Großbuchstaben weisen stürzende schwarze Silhouetten darauf hin, auf welche Art und Weise der Protagonist hier zum "Game Changer" wird: durch zum Teil unkontrollierte Sprünge in fremde Dimensionen, die mal mehr und mal weniger von unserer Realität abweichen. Ob blaue Stoppschilder, die zu mehr Unfällen führen oder der Wiedereinführung der Rassentrennung - die Welt, wie Ash sie kennt ist schon bald nicht mehr wiederzuerkennen und wenn er nicht das gesamte Universum in Chaos stürzen will, muss schnell eine Anleitung für die merkwürdige Mittelpunkt-des-Universums-Sache her. Gut, dass Hilfe in Form von geklonten Skatern naht, welche man übrigens auch in einer Comic-artigen Zeichnung in den Innenseiten der Buchdeckel sehen kann. Die Edwards erklären ihm, dass er vorübergehend zum "Subjective Locus" geworden ist, welcher entscheidet, welche ungenutzen Möglichkeiten der Zukunft und der Vergangenheit zur Wirklichkeit werden. Klingt erstmal ganz vielversprechend, denn Ash hätte auch schon einige Ideen, die Welt zu verbessern. Aber wie der Untertitel schon verrät: "Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, alles falsch zu machen"...
Erste Sätze: "Ihr werdet mir nicht glauben. Ihr werdet sagen, ich hätte den Verstand verloren oder zu viele Gehirnerschütterungen erlitten. Vielleicht denkt ihr auch, dass ich Euch hochnehmen will und ihr das Opfer eines ausgefuchsten Streiches seid. Das ist okay. Glaubt, was ihr wollt, wenn es euch beim Einschlafen hilft. Denn so machen wir das doch, oder? Wir bauen uns wie kleine Spinnen ein Netz aus bequemer Realität, an das wir uns klammern, um durch die schlimmsten Tage zu kommen."
Dass Neal Shusterman mit "Game Changer" nicht ganz an die rohe Intensität und Genialität seiner Vorgänger anknüpfen kann, war mir schon nach wenigen Seiten klar. Anders als bei Büchern wie "Kompass ohne Norden" oder "Vollendet - Die Flucht" hat es einige Kapitel benötigt, bis ich in die Geschichte eintauchen konnte. Der Autor lässt uns als Leser durch seinen Ich-Erzähler Ash zwar immer wieder direkt ansprechen und versucht, durch vorausdeutende Kommentare die Spannung anzuziehen, dabei verstrickt er sich aber in etliche Metaphern, mit denen ich nicht so viel anfangen konnte. Besonders die vielen Football-Verweise konnten mich persönlich nicht so gut abholen, da ich noch nicht einmal die Regeln des Football verstehe, geschweige denn über Positionen und Spielzüge bescheid weiß. Ich kann mir aber vorstellen, dass das bei amerikanischen Jugendlichen besser ankommt und dann die monologähnlichen Zwischensequenzen tatsächlich für einen besseren Einstieg in die Geschichte sorgen.
"Damals dachte ich, weil ich eine diverse Gruppe von Freunden hatte, könnte ich mein Kästchen für soziale Verantwortung abhaken. Als ob es für mich nicht mehr zu tun gäbe, als ein bisschen Braun an meinem Tisch zu haben. "Hautfarbe sollte keine Rolle spielen" – hat man mich immer gelehrt – und ich habe es immer geglaubt. Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen dem, was sein sollte und dem was ist. Und privilegiert sein heißt, diese Kluft nicht wahrzunehmen."
Das wäre auch unbedingt sinnvoll, da auf der reinen Handlungseben erstmal erstaunlich wenig passiert. In erster Linie sehen wir dem weißen cis-Jugendlichen beim Leben zu, welches trotz der immer wieder überraschend einsetzenden Dimensionsreisen, welche durch unterschiedliche Schriftarten und das wiederkehrende Motiv einer fallenden Silhouette gekennzeichnet sind, weniger spannende Turbulenzen bereithält als erwartet. Streit mit seinem Bruder, Zukunftssorgen, eine unerwiderte Schwärmerei, Meinungsverschiedenheiten mit seinem besten Freund und Mathe-Nachhilfe sind hier statt Weltuntergang und grausamer Dystopie angesagt. Kein Wunder, dass "Game Changer" eine ganz andere Atmosphäre entfaltet als seine sonstigen Werke. Statt düster, schockierend und melancholisch ist Ashs interdimensionales Abenteuer unterhaltsam, humorvoll und mit einem selbstironischen Augenzwinkern geschrieben. Da der Schreibstil gewohnt eingängig, präzise und wunderbar zitierwürdig ist, gehe ich davon aus, dass die überraschende Leichtigkeit eine Auswirkung der Pandemie ist, während dieser der Autor das Buch verfasst hat. Denn wer will schon einen düsteren Thriller schreiben, während man selbst in einem zu leben scheint...?
"Wer sind wir wirklich? Die Wissenschaft würde uns erklären, dass wir nicht mehr sind als die Summe unserer Erfahrungen. Der Glaube würde uns sagen, dass wir ein Funke sind, der jenseits vom Drama unseres Lebens existiert. Ich habe über solche Dinge nie viel nachgedacht. Wenn Freunde in langen Nächten ganz philosophisch wurden und anfingen, darüber zu reden, dass das Universum vielleicht nur ein platt getretenes Insekt auf dem Fußboden eines viel größeren Universums war, habe ich mich nie beteiligt. Ich fand es immer sinnlos über Dinge nachtzudenken, die man eh nicht begreifen kann. Mitten in einer aktuellen metaphysischen Krise war ich mit dieser Haltung allerdings deutlich im Nachteil."
Auch wenn mir diese neue Herangehensweise gut gefällt, kommt "Game Changer" für mich aber wie gesagt lange nicht an seine Dystopien heran, da diese bezüglich Worldbuilding, Charaktertiefe und Handlungsverlauf nochmal auf einem ganz anderen Niveau sind. Beispielsweise hätten Erklärungen zum Science-Fiction-Hintergrund und der Rolle der "Edwards" für meinen Geschmack gerne noch komplexer und ausführlicher erfolgen können. Zwar verknüpft der Autor alle losen Enden sinnvoll miteinander, der etwas wirre Eindruck, verschiedene Geschichte zu lesen, während Ash unterschiedliche Leben lebt, bleibt aber dennoch bestehen. Da sich Neal Shusterman hier jedoch an ein etwas jüngeres Publikum richtet und die Science-Fiction nur als Hintergrund nutzt, um eine Botschaft zu vermitteln, ist die geringe Ausführlichkeit des Worldbuildings aber kein elementarer Mangel.
"Wenn man die ganze Zeit nur damit beschäftigt ist, die Tür einzutreten, ist man schon erschöpft und hinkt meilenweit hinter denen her, die einfach hindurchgetänzelt sind. Hältst du das wirklich für gerecht?"
Mit der Zeit wird immer nämlich immer offensichtlicher, weshalb es trotz der geringeren Spannung eine gute Entscheidung war, die Geschichte langsamer und charakterzentrierter aufzuziehen: auf diese Art und Weise kann Ashs Entwicklung nachvollziehbar gestaltet und voll ausgekostet werden. Jene ist nämlich der Kern der Geschichte. Die Genialität von "Game Changer" entspringt diesmal nicht dem Worldbuilding, der Atmosphäre oder Zukunftsvisionen, sondern den kleinen Veränderungen in Ash Alltag und den Erkenntnissen, die er aus den unterschiedlichen Realitäten, Dimensionen und Gesellschaften zieht, in denen er zeitweise lebt. Mit jeder Reise verändert sich nämlich seine Perspektive und er muss sich gezwungenermaßen mit Themen auseinanderzusetzen, die er zuvor nur aus privilegierter Ferne beobachtet hat. Was haben Rassismus, Homophobie, Sexismus, toxische Beziehungen und das Drogengeschäft gemeinsam? Man kann erst so richtig darüber urteilen, wenn man mittendrin steckt und die Problematik an der eigenen Haut erfährt. Und so muss Ash mit jedem Perspektivwechsel seine Weltsicht überdenken, sich eigene Vorurteile eingestehen und sich damit auseinandersetzen, was Identität eigentlich ausmacht...
"Frauen wird häufig unterstellt, sie seien eitel. Sprache ist voller subtiler Kränkungen. Als Frauen wird von uns erwartet, dass wir uns anmalen, um einer sozialen Norm zu entsprechen - und dann wird uns genau das als Eitelkeit ausgelegt. Als Typ hatte ich nie darüber nachgedacht. Ich hätte gesagt, das sei lächerlich. Total unwichtig. Aber das ist es nicht. Und wisst ihr was? Es geht nicht nur um Frauen, es geht um jeden Menschen. Sprache stupst und schiebt uns fast unbemerkt in Hunderte Richtungen, die wir nicht erkennen, bis der einzige Ausweg, auf seine Worte zu achten, das Schweigen ist."
Auch wenn der Autor angesichts der vielen Themen nicht die Zeit findet, auf einzelne genauer einzugehen, kommt die Message eindeutig an: die Welt ist wesentlich komplexer als es auf den ersten Blick scheint und alles hängt von der Perspektive ab, aus der man sie betrachtet. Zusammen mit dem Hauptprotagonisten müssen auch wir Leser uns immer wieder hinterfragen, ob wir uns unserer Privilegen überhaupt bewusst sind und wie tolerant und offen wir der Welt tatsächlich gegenüberstehen. Und was könnte in diesen Zeiten wichtiger sein als dieser Denkanstoß...?
Fazit:
"Game Changer" entpuppte sich überraschenderweise statt als spannendes Science-Fiction-Abenteuer, mehr als intelligenter Sozialthriller, welcher gesellschaftliche Themen wie Rassismus, Sexismus, Homophobie, Diskriminierung, Privilegien und die Wichtigkeit der eigenen Perspektive in den Fokus nimmt. Um an die rohe Intensität und Genialität seiner Vorgänger anknüpfen zu können, geht Neal Shusterman aber zu wenig auf das Worldbuilding, die Nebenfiguren und die inhaltlichen Fragen ein.