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Veröffentlicht am 01.09.2021

Sprachlich zwar auf hohem Niveau fehlt dem Roman Spannung, Lebendigkeit und eine klare Struktur...

Das Gewicht der Worte
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"Das Gewicht der Worte" ist mein erster Roman von Pascal Mercier und hat als Geburtstagsgeschenk zu mir gefunden. Mit über einer Woche habe ich verhältnismäßig lange für diesen 576 Seiten langen Roman ...

"Das Gewicht der Worte" ist mein erster Roman von Pascal Mercier und hat als Geburtstagsgeschenk zu mir gefunden. Mit über einer Woche habe ich verhältnismäßig lange für diesen 576 Seiten langen Roman gebraucht, der zugleich Betrachtung eines Lebens, Studie von Sprache, Worten und Literatur und philosophische Diskussion ist. Dabei ist das Geschilderte vom ersten „Welcome home, Sir“ bis zum letzten „Welcome home, Sir“ zwar durchaus beeindruckend, interessant und anregend, aber leider ohne Spannung und eher ermüdend erzählt, weshalb ein gemischter Gesamteindruck zurückbleibt.

Die Gestaltung des Romans passt ganz hervorragend zu dieser stillen, zurückhaltenden, aber ausgefeilt hintersinnigen Geschichte. Zu sehen ist die Molo Audace in Triest, die eine wichtige Rolle im Roman spielt und ein energisch schreitender Mann im Anzug, der mit seinen grauen Haaren und dem nachdenklich gesenkten Kopf durchaus der Protagonist sein könnte. Auch der Titel passt hervorragend - geht es hier doch vor allem um die Möglichkeiten, die Nuancen und den Stellenwert von Sprache. Pascal Merciers Erzählung ist in 45 Kapitel aufgeteilt, welche zum Teil Briefe und Ausschnitte aus anderen Romanen enthalten, welche kursiv abgedruckt sind.


Erster Satz: "Welcome home, Sir", sagte der Beamte bei der Passkontrolle am Londoner Flughafen."


Wir steigen bei einem wichtigen Einschnitt im Leben von Simon Leyland, dem Hauptprotagonisten in den Roman ein. Nachdem er 11 Wochen mit einer grauenvollen Fehldiagnose gelebt und seine Angelegenheiten zum Abschluss gebracht hat, wagt er nach der erleichternden Nachricht einen Neuanfang und startet in einen neuen Lebensabschnitt. Dazu zieht er nach London in die Stadt seiner Kindheit, wo ihm sein Onkel ein Haus vererbt hat, und beginnt diese neu zu entdecken und dabei sein Leben Revue passieren zu lassen. Gut die erste Hälfte des Romans bringen wir so damit zu, Leylands Vergangenheit kennenzulernen und zu erforschen, wie er an diesem Punkt gelandet ist: alleine in London mit verkauftem Verlag, erwachsenen Kindern und einer überraschend großen Menge restlicher Lebenszeit zum Füllen. Dabei passiert auf der Handlungsebene erschreckend wenig. Im Grunde betrachten wir Leyland, der sein Leben reflektiert, über Übersetzungen brütet, über Nachgedachtes mit seinen Freunden und seiner Familie diskutiert, über Diskutiertes wiederum nachdenkt und seine Schlussfolgerungen dann in Form von Briefen an seine verstorbene Frau festhält. Diese Erzählweise hat zur Folge, dass es viele Wiederholungen gibt und praktisch alle Gedanken mehrmals am Leser vorbeiziehen.


"Es war ein Dunkel nach dem Ende eines Lebens, ein Dunkel, in dem die Zeit nicht mehr floss. Er würde nachher überall Licht machen und sie von neuem zum Fließen bringen. Aber nicht gleich. Er bestellte noch einmal Tee und etwas zu essen. Jetzt, da er wieder eine Zukunft hatte, wollte er verschwenderisch mit seiner Zeit umgehen. Spüren, wie sie verstrich, ohne dass er etwas tat. Spüren, dass er nicht mehr atemlos einem Ende zutrieb. Spüren, dass er Dinge aufschieben konnte, ohne es später zu bereuen."


Diese Reflexion des Kreises von Leylands Lebens hat durchaus seinen Reiz, wenn man zwischen den Seiten versunken ist, sobald man das Buch jedoch zur Seite legt, weiß man nicht so recht, weshalb man weiterlesen sollte. Es gibt keine drängenden Fragen, deren Antwort man erhalten will, keine großartigen Entwicklungen oder Geschehnisse werden in Aussicht gestellt und auch für seine packende Handlung ist Pascal Mercier alles andere als bekannt. Es ist also von Beginn an schlichtweg keine Spannung vorhanden! Während man in der ersten Hälfte des Romans durch aufschlussreiche Rückblicke auf vergangene Geschehnisse wie Leylands Fehldiagnose, seine Kindheit oder seine verstorbene Frau bei Stange gehalten wird und ständig neue Informationen erhält, die das Gesamtbild runder machen, leidet die zweite Hälfte des Romans stärker unter dem Fehlen jeglicher Spannung. Man lässt sich auf das Lesen ein, lässt sich die ein oder andere Formulierung auf der Zunge zergehen und wartet, wohin die Geschichte hinführt. Bis etwa 130 Seiten nach Beginn hat mir das auch gereicht, doch ab dort drängte sich die Frage auf: wohin führt das Ganze?


"Alles, was für ihn jemals gezählt hatte, waren Worte. Etwas existierte erst wirklich, wenn es benannt und besprochen wurde. Er hatte sich das nicht ausgesucht, es war ihm zugestoßen und war von Anfang an so gewesen. Oft hatte er sich gewünscht, ohne Worte bei den Sachen zu sein, bei den Sachen und den Menschen und den Gefühlen und den Träumen - und dann waren ihm doch wieder die Worte dazwischengekommen."


Und die Antwort ist leider: nirgendwohin! Es kommt ein Punkt in der Geschichte, ab wo beinahe alle Geheimnisse gelüftet und viele der kleinen Spannungsbögen ihren Höhepunkt erreicht haben und nur noch schrittweise Neues passiert. Ab hier wird das Buch deutlich schwächer, büßt Lebendigkeit und Antrieb ein. Auch die Wiederholungen, die durch den besonderen Erzählstil mit bedingt sind, werden ab diesem Punkt nochmal mehr, sodass sich das letzte Drittel recht zäh liest. Dazu kommt, dass wir recht ziellos durch die Handlung steuern und ich bald das Gefühl, ich hätte noch 200 Seiten mehr über Simon Leyland lesen können, oder auch 200 Seiten weniger und das hätte keinen großen Unterschied gemacht. Ich habe die zweite Hälfte und auch das Ende also als eher willkürlich gewählt empfunden. Es fehlte mir hier eine klare Struktur, ein erkennbares Ziel, ein Schlusspunkt - so ist die gesamte Gestaltung der Handlung eher unbefriedigend.


"Wir leben ja mit dem Gefühl, in enger, nahtloser Verbindung mit unserer Vergangenheit zu stehen und den Faden unseres Lebens ohne Riss und Unterbruch von Tag zu Tag fortzuspinnen. Es wäre unerträglich, dieses Gefühl zu verlieren. Doch die Wahrheit ist es nicht: Unser Leben ist eine lange, verschlungene Kette von schwimmenden Inseln der Erinnerung umspült von Vergessen, wir springen von der einen zur anderen, hin und zurück, und wir sind Virtuosen darin, die Brüche mit Geschichten zu übertünchen, die den anderen und uns selbst ausgreifend und erfinderisch vorgaukeln, wir stünden auf einem festen Grund durchgängigen Erinnerns."


Doch bewegen wir uns mal von der zweitrangigen Handlungsebene weg und betrachten den Inhalt genauer. Um ehrlich zu sein: rückblickend fällt es mir schwer, genau zu sagen, worum es hier überhaupt ging: um alles und nichts eben. Pascal Mercier unternimmt hier eine Reise durch die Sprachen des Mittelmeerraums, durch die Literatur und stellt einige Fragen zu Tod, Freiheit, dem Wert des Lebens, dem Wesen der Zeit und der Substanz der Poesie. Dabei bleibt er jedoch an eine einzelne Perspektive, ein einzelnes Leben gebunden, das von Hoffnung, Schmerz, Orientierungslosigkeit und intensiven Begegnungen geprägt ist, weshalb die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Themen eher einseitig erfolgt und die Reflexion nicht wirklich ins Philosophieren übergeht. Auf einigen Aspekten wie das Recht auf Selbstbestimmung des eigenen Ende werden dabei immer und immer wieder wiederholt, während anderes, was mir selbst zum Thema Freiheit einfallen würde, gar nicht erst zur Sprache kommt.


"Es ist etwas Großes, Gewaltiges, wenn man vor jemanden hintritt und ihn fragt, wie seine eigene, seine ganze besondere Stimme klinge, in der Art, wie seine Worte kämen, und der Art, wie die Bilder seiner Fantasie sich formten. Diese Frage ist geeignet, jemanden aus der Fassung zu bringen"


Einige interessante Anstöße und Gedanken werden hier zwar eingearbeitet, vieles bleibt aber sehr lebensfern und wenig greifbar, sodass ich mit einigem nicht viel anfangen konnte. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die Hauptfigur in einer Blase lebt, in der Geld keine Rolle spielt, stundenlang über Sprachen und Worte philosophiert werden kann und alles Gewöhnliche eine außergewöhnliche Bedeutung hat. Er pendelt zwar zwischen den beiden Städten Triest und London, fährt Tube, sitzt an der Molo Audace, schreitet Straßen entlang und besucht Sehenswürdigkeiten, die ich selbst schon gesehen habe, scheint aber doch auf einem ganz anderen Planeten zu leben als ich. Pascal Leyland gibt uns tiefe Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt seiner Hauptfigur, jedoch ohne wirkliche Nähe zu ihm entstehen zu lassen. Egal ob während der direkten Beschreibung des Geschehens, in Dialogen oder in Briefen - hier spricht nie die Person direkt, sondern da ist immer noch eine trennende Erzählinstanz zwischen Leser und Figur, die somit eher ein spannendes, abstraktes Untersuchungsobjekt blieb und wenig zu Bezügen zur eigenen Person einlud. Grundsätzlich finde ich es wahnsinnig spannend, die Welt aus anderen Augen zu betrachten, aber hier kann man als Leser kaum Spuren seines eigenen Lebens in der Geschichte wiederfinden und bleibt somit über die gesamten 572 Seiten hinweg ein mittelmäßig motivierter Zuhörer.


"Manchmal nimmt das Wort einer Sache den Schrecken, und es ist eine Befreiung, es auszusprechen. Doc manchmal spüren wir: Das Wort würde den Schrecken noch größer machen. Dann halten wir es unter Verschluss. Und manchmal verwechseln wir die beiden Fälle."


Zum Eindruck dieser scheinweltlichen Blase tragen auch die hier auftauchenden Figuren bei. Grundsätzlich hat mir die Gestaltung der Nebenfiguren gut gefallen. Pascal Mercier unterläuft nur ein einziger Fehler: sie sind alle vieeeel zu ähnlich. Von seinen Kindern über seinen Nachbar in London, seine ehemaligen Verlagsmitarbeiter bis hin zu befreundeten Autoren haben wir es hier ausschließlich mit feinsinnigen, aufrichtigen Gutmenschen zu tun, die sich in ihrer Tiefgründigkeit sehr gefallen, ein Geheimnis aus ihren erlebten Abgründen machen, Problemen haben sich zu öffnen und mit einem unübersehbaren Bedürfnis nach Halt und Hilfe der Hauptfigur die Möglichkeit geben, als Held aufzutreten. Entwicklungen finden hier nur statt, wenn sie der Profilierung von Leyland nutzen, alle scheinen immer einer Meinung mit ihm zu sein und bald verschwimmt der englische Apotheker Kenneth Burke mit dem russischen Ex-Häftling Andrej und selbst der vermeintlich etwas einfachere Kellner Pat entpuppt sich schnell als feingeistiger Intellektueller. Eine zupackende, andersdenkende Kontrastfigur, die Leyland aus seiner Blase ab und zu mal heraus holt, hätte der Geschichte also definitiv gut getan.


"Aus verborgenem, verschwiegenem Wissen war ausdrückliches, in Worte fassbares Wissen geworden. Es war kein abstraktes Wissen, es wirkte in das Erleben hinein. Es war wie ein Aufwachen, ein unaufhaltsames Aufwachen, das ich mit den ersten Phantasien und den ersten Sätzen in Gang gesetzt hatte, und ich war am Ende nicht mehr dieselbe wie vorher."


Ich halte also fest: kaum vorhandene Spannung, spannende Anstöße aber fehlende Greifbarkeit und Figuren, die zunehmend zu einem Einheitsbrei verschwimmen - das klingt alles andere als der Stoff, aus dem ein Stück Weltliteratur gemacht ist. Weshalb würde ich "Das Gewicht der Worte" also dennoch als lesenswert einstufen? Das hängt vor allem mit der Sprache des Autors zusammen, die hier ganz dem thematischen Fokus entsprechend leise, zurückhaltend, reflektiert und ausgefeilt ist. Vor allem die vielen Einbezüge anderer Sprachen, vor allem französisch, englisch und italienisch, machen die Erzählung vielschichtig und komplex und durch die wenige Handlung hat der Autor viel Raum, Nicht-Stoffliches in Worte zu kleiden. Dabei ist aber auch nicht die Erzählweise über jede Kritik erhaben. Negativ aufgefallen ist mir, dass man zwar deutlich merkt, wie sehr der Autor an jedem Wort gefeilt hat, aber trotzdem oder gerade deswegen nicht alles natürlich schien. "Das Gewicht der Worte" ist ohne Zweifel sehr schön und feinsinnig geschrieben, an manchen Stellen fast poetisch, aber leider hatten auch viele Worte einen angeberischen Beigeschmack und fügten sich nicht mühelos in die Erzählung ein. Pascal Mercier hat hier viele gewichtige Worte gefunden, wirklich zu berühren und mitzureißen verstehen diese jedoch nicht. Das Lesen bleibt Arbeit und man spürt das Gewicht dieser Worte mit jeder Seite.


"Die Phantasie - das spüre ich so deutlich in diesen Tagen - ist der eigentliche Ort der Freiheit."





Fazit:


Pascal Mercier erzählt leise, zurückhaltend und reflektiert von Wendungen des Lebens, der Gegenwärtigkeit der Poesie, dem Wesen der Zeit und vor allem von Sprache, Wörtern und Literatur. Sprachlich zwar auf hohem Niveau fehlt "Das Gewicht der Worte" aber Spannung, Lebendigkeit und eine klare Struktur.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 01.09.2021

Sprachlich zwar auf hohem Niveau fehlt dem Roman Spannung, Lebendigkeit und eine klare Struktur...

Das Gewicht der Worte
0

"Das Gewicht der Worte" ist mein erster Roman von Pascal Mercier und hat als Geburtstagsgeschenk zu mir gefunden. Mit über einer Woche habe ich verhältnismäßig lange für diesen 576 Seiten langen Roman ...

"Das Gewicht der Worte" ist mein erster Roman von Pascal Mercier und hat als Geburtstagsgeschenk zu mir gefunden. Mit über einer Woche habe ich verhältnismäßig lange für diesen 576 Seiten langen Roman gebraucht, der zugleich Betrachtung eines Lebens, Studie von Sprache, Worten und Literatur und philosophische Diskussion ist. Dabei ist das Geschilderte vom ersten „Welcome home, Sir“ bis zum letzten „Welcome home, Sir“ zwar durchaus beeindruckend, interessant und anregend, aber leider ohne Spannung und eher ermüdend erzählt, weshalb ein gemischter Gesamteindruck zurückbleibt.

Die Gestaltung des Romans passt ganz hervorragend zu dieser stillen, zurückhaltenden, aber ausgefeilt hintersinnigen Geschichte. Zu sehen ist die Molo Audace in Triest, die eine wichtige Rolle im Roman spielt und ein energisch schreitender Mann im Anzug, der mit seinen grauen Haaren und dem nachdenklich gesenkten Kopf durchaus der Protagonist sein könnte. Auch der Titel passt hervorragend - geht es hier doch vor allem um die Möglichkeiten, die Nuancen und den Stellenwert von Sprache. Pascal Merciers Erzählung ist in 45 Kapitel aufgeteilt, welche zum Teil Briefe und Ausschnitte aus anderen Romanen enthalten, welche kursiv abgedruckt sind.


Erster Satz: "Welcome home, Sir", sagte der Beamte bei der Passkontrolle am Londoner Flughafen."


Wir steigen bei einem wichtigen Einschnitt im Leben von Simon Leyland, dem Hauptprotagonisten in den Roman ein. Nachdem er 11 Wochen mit einer grauenvollen Fehldiagnose gelebt und seine Angelegenheiten zum Abschluss gebracht hat, wagt er nach der erleichternden Nachricht einen Neuanfang und startet in einen neuen Lebensabschnitt. Dazu zieht er nach London in die Stadt seiner Kindheit, wo ihm sein Onkel ein Haus vererbt hat, und beginnt diese neu zu entdecken und dabei sein Leben Revue passieren zu lassen. Gut die erste Hälfte des Romans bringen wir so damit zu, Leylands Vergangenheit kennenzulernen und zu erforschen, wie er an diesem Punkt gelandet ist: alleine in London mit verkauftem Verlag, erwachsenen Kindern und einer überraschend großen Menge restlicher Lebenszeit zum Füllen. Dabei passiert auf der Handlungsebene erschreckend wenig. Im Grunde betrachten wir Leyland, der sein Leben reflektiert, über Übersetzungen brütet, über Nachgedachtes mit seinen Freunden und seiner Familie diskutiert, über Diskutiertes wiederum nachdenkt und seine Schlussfolgerungen dann in Form von Briefen an seine verstorbene Frau festhält. Diese Erzählweise hat zur Folge, dass es viele Wiederholungen gibt und praktisch alle Gedanken mehrmals am Leser vorbeiziehen.


"Es war ein Dunkel nach dem Ende eines Lebens, ein Dunkel, in dem die Zeit nicht mehr floss. Er würde nachher überall Licht machen und sie von neuem zum Fließen bringen. Aber nicht gleich. Er bestellte noch einmal Tee und etwas zu essen. Jetzt, da er wieder eine Zukunft hatte, wollte er verschwenderisch mit seiner Zeit umgehen. Spüren, wie sie verstrich, ohne dass er etwas tat. Spüren, dass er nicht mehr atemlos einem Ende zutrieb. Spüren, dass er Dinge aufschieben konnte, ohne es später zu bereuen."


Diese Reflexion des Kreises von Leylands Lebens hat durchaus seinen Reiz, wenn man zwischen den Seiten versunken ist, sobald man das Buch jedoch zur Seite legt, weiß man nicht so recht, weshalb man weiterlesen sollte. Es gibt keine drängenden Fragen, deren Antwort man erhalten will, keine großartigen Entwicklungen oder Geschehnisse werden in Aussicht gestellt und auch für seine packende Handlung ist Pascal Mercier alles andere als bekannt. Es ist also von Beginn an schlichtweg keine Spannung vorhanden! Während man in der ersten Hälfte des Romans durch aufschlussreiche Rückblicke auf vergangene Geschehnisse wie Leylands Fehldiagnose, seine Kindheit oder seine verstorbene Frau bei Stange gehalten wird und ständig neue Informationen erhält, die das Gesamtbild runder machen, leidet die zweite Hälfte des Romans stärker unter dem Fehlen jeglicher Spannung. Man lässt sich auf das Lesen ein, lässt sich die ein oder andere Formulierung auf der Zunge zergehen und wartet, wohin die Geschichte hinführt. Bis etwa 130 Seiten nach Beginn hat mir das auch gereicht, doch ab dort drängte sich die Frage auf: wohin führt das Ganze?


"Alles, was für ihn jemals gezählt hatte, waren Worte. Etwas existierte erst wirklich, wenn es benannt und besprochen wurde. Er hatte sich das nicht ausgesucht, es war ihm zugestoßen und war von Anfang an so gewesen. Oft hatte er sich gewünscht, ohne Worte bei den Sachen zu sein, bei den Sachen und den Menschen und den Gefühlen und den Träumen - und dann waren ihm doch wieder die Worte dazwischengekommen."


Und die Antwort ist leider: nirgendwohin! Es kommt ein Punkt in der Geschichte, ab wo beinahe alle Geheimnisse gelüftet und viele der kleinen Spannungsbögen ihren Höhepunkt erreicht haben und nur noch schrittweise Neues passiert. Ab hier wird das Buch deutlich schwächer, büßt Lebendigkeit und Antrieb ein. Auch die Wiederholungen, die durch den besonderen Erzählstil mit bedingt sind, werden ab diesem Punkt nochmal mehr, sodass sich das letzte Drittel recht zäh liest. Dazu kommt, dass wir recht ziellos durch die Handlung steuern und ich bald das Gefühl, ich hätte noch 200 Seiten mehr über Simon Leyland lesen können, oder auch 200 Seiten weniger und das hätte keinen großen Unterschied gemacht. Ich habe die zweite Hälfte und auch das Ende also als eher willkürlich gewählt empfunden. Es fehlte mir hier eine klare Struktur, ein erkennbares Ziel, ein Schlusspunkt - so ist die gesamte Gestaltung der Handlung eher unbefriedigend.


"Wir leben ja mit dem Gefühl, in enger, nahtloser Verbindung mit unserer Vergangenheit zu stehen und den Faden unseres Lebens ohne Riss und Unterbruch von Tag zu Tag fortzuspinnen. Es wäre unerträglich, dieses Gefühl zu verlieren. Doch die Wahrheit ist es nicht: Unser Leben ist eine lange, verschlungene Kette von schwimmenden Inseln der Erinnerung umspült von Vergessen, wir springen von der einen zur anderen, hin und zurück, und wir sind Virtuosen darin, die Brüche mit Geschichten zu übertünchen, die den anderen und uns selbst ausgreifend und erfinderisch vorgaukeln, wir stünden auf einem festen Grund durchgängigen Erinnerns."


Doch bewegen wir uns mal von der zweitrangigen Handlungsebene weg und betrachten den Inhalt genauer. Um ehrlich zu sein: rückblickend fällt es mir schwer, genau zu sagen, worum es hier überhaupt ging: um alles und nichts eben. Pascal Mercier unternimmt hier eine Reise durch die Sprachen des Mittelmeerraums, durch die Literatur und stellt einige Fragen zu Tod, Freiheit, dem Wert des Lebens, dem Wesen der Zeit und der Substanz der Poesie. Dabei bleibt er jedoch an eine einzelne Perspektive, ein einzelnes Leben gebunden, das von Hoffnung, Schmerz, Orientierungslosigkeit und intensiven Begegnungen geprägt ist, weshalb die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Themen eher einseitig erfolgt und die Reflexion nicht wirklich ins Philosophieren übergeht. Auf einigen Aspekten wie das Recht auf Selbstbestimmung des eigenen Ende werden dabei immer und immer wieder wiederholt, während anderes, was mir selbst zum Thema Freiheit einfallen würde, gar nicht erst zur Sprache kommt.


"Es ist etwas Großes, Gewaltiges, wenn man vor jemanden hintritt und ihn fragt, wie seine eigene, seine ganze besondere Stimme klinge, in der Art, wie seine Worte kämen, und der Art, wie die Bilder seiner Fantasie sich formten. Diese Frage ist geeignet, jemanden aus der Fassung zu bringen"


Einige interessante Anstöße und Gedanken werden hier zwar eingearbeitet, vieles bleibt aber sehr lebensfern und wenig greifbar, sodass ich mit einigem nicht viel anfangen konnte. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die Hauptfigur in einer Blase lebt, in der Geld keine Rolle spielt, stundenlang über Sprachen und Worte philosophiert werden kann und alles Gewöhnliche eine außergewöhnliche Bedeutung hat. Er pendelt zwar zwischen den beiden Städten Triest und London, fährt Tube, sitzt an der Molo Audace, schreitet Straßen entlang und besucht Sehenswürdigkeiten, die ich selbst schon gesehen habe, scheint aber doch auf einem ganz anderen Planeten zu leben als ich. Pascal Leyland gibt uns tiefe Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt seiner Hauptfigur, jedoch ohne wirkliche Nähe zu ihm entstehen zu lassen. Egal ob während der direkten Beschreibung des Geschehens, in Dialogen oder in Briefen - hier spricht nie die Person direkt, sondern da ist immer noch eine trennende Erzählinstanz zwischen Leser und Figur, die somit eher ein spannendes, abstraktes Untersuchungsobjekt blieb und wenig zu Bezügen zur eigenen Person einlud. Grundsätzlich finde ich es wahnsinnig spannend, die Welt aus anderen Augen zu betrachten, aber hier kann man als Leser kaum Spuren seines eigenen Lebens in der Geschichte wiederfinden und bleibt somit über die gesamten 572 Seiten hinweg ein mittelmäßig motivierter Zuhörer.


"Manchmal nimmt das Wort einer Sache den Schrecken, und es ist eine Befreiung, es auszusprechen. Doc manchmal spüren wir: Das Wort würde den Schrecken noch größer machen. Dann halten wir es unter Verschluss. Und manchmal verwechseln wir die beiden Fälle."


Zum Eindruck dieser scheinweltlichen Blase tragen auch die hier auftauchenden Figuren bei. Grundsätzlich hat mir die Gestaltung der Nebenfiguren gut gefallen. Pascal Mercier unterläuft nur ein einziger Fehler: sie sind alle vieeeel zu ähnlich. Von seinen Kindern über seinen Nachbar in London, seine ehemaligen Verlagsmitarbeiter bis hin zu befreundeten Autoren haben wir es hier ausschließlich mit feinsinnigen, aufrichtigen Gutmenschen zu tun, die sich in ihrer Tiefgründigkeit sehr gefallen, ein Geheimnis aus ihren erlebten Abgründen machen, Problemen haben sich zu öffnen und mit einem unübersehbaren Bedürfnis nach Halt und Hilfe der Hauptfigur die Möglichkeit geben, als Held aufzutreten. Entwicklungen finden hier nur statt, wenn sie der Profilierung von Leyland nutzen, alle scheinen immer einer Meinung mit ihm zu sein und bald verschwimmt der englische Apotheker Kenneth Burke mit dem russischen Ex-Häftling Andrej und selbst der vermeintlich etwas einfachere Kellner Pat entpuppt sich schnell als feingeistiger Intellektueller. Eine zupackende, andersdenkende Kontrastfigur, die Leyland aus seiner Blase ab und zu mal heraus holt, hätte der Geschichte also definitiv gut getan.


"Aus verborgenem, verschwiegenem Wissen war ausdrückliches, in Worte fassbares Wissen geworden. Es war kein abstraktes Wissen, es wirkte in das Erleben hinein. Es war wie ein Aufwachen, ein unaufhaltsames Aufwachen, das ich mit den ersten Phantasien und den ersten Sätzen in Gang gesetzt hatte, und ich war am Ende nicht mehr dieselbe wie vorher."


Ich halte also fest: kaum vorhandene Spannung, spannende Anstöße aber fehlende Greifbarkeit und Figuren, die zunehmend zu einem Einheitsbrei verschwimmen - das klingt alles andere als der Stoff, aus dem ein Stück Weltliteratur gemacht ist. Weshalb würde ich "Das Gewicht der Worte" also dennoch als lesenswert einstufen? Das hängt vor allem mit der Sprache des Autors zusammen, die hier ganz dem thematischen Fokus entsprechend leise, zurückhaltend, reflektiert und ausgefeilt ist. Vor allem die vielen Einbezüge anderer Sprachen, vor allem französisch, englisch und italienisch, machen die Erzählung vielschichtig und komplex und durch die wenige Handlung hat der Autor viel Raum, Nicht-Stoffliches in Worte zu kleiden. Dabei ist aber auch nicht die Erzählweise über jede Kritik erhaben. Negativ aufgefallen ist mir, dass man zwar deutlich merkt, wie sehr der Autor an jedem Wort gefeilt hat, aber trotzdem oder gerade deswegen nicht alles natürlich schien. "Das Gewicht der Worte" ist ohne Zweifel sehr schön und feinsinnig geschrieben, an manchen Stellen fast poetisch, aber leider hatten auch viele Worte einen angeberischen Beigeschmack und fügten sich nicht mühelos in die Erzählung ein. Pascal Mercier hat hier viele gewichtige Worte gefunden, wirklich zu berühren und mitzureißen verstehen diese jedoch nicht. Das Lesen bleibt Arbeit und man spürt das Gewicht dieser Worte mit jeder Seite.


"Die Phantasie - das spüre ich so deutlich in diesen Tagen - ist der eigentliche Ort der Freiheit."





Fazit:


Pascal Mercier erzählt leise, zurückhaltend und reflektiert von Wendungen des Lebens, der Gegenwärtigkeit der Poesie, dem Wesen der Zeit und vor allem von Sprache, Wörtern und Literatur. Sprachlich zwar auf hohem Niveau fehlt "Das Gewicht der Worte" aber Spannung, Lebendigkeit und eine klare Struktur.

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Veröffentlicht am 01.09.2021

Düster, magisch und spannend - absolut empfehlenswert für Fans des Grishaverse!

Die Leben der Heiligen
1

Handlung: "Die Leben der Heiligen" ist nach "Die Sprache der Dornen" das zweite Fanbuch, das Leigh Bardugo zu ihrem weltweit umjubelten Grishaverse herausbringt. In diesem dünnen Büchlein erzählt sie in ...

Handlung: "Die Leben der Heiligen" ist nach "Die Sprache der Dornen" das zweite Fanbuch, das Leigh Bardugo zu ihrem weltweit umjubelten Grishaverse herausbringt. In diesem dünnen Büchlein erzählt sie in 28 sehr kurzen Geschichten die Entstehungsgeschichten der Heiligenlegenden, die in ihren drei vorangegangenen Reihen eine Rolle spielen, liefert spannende Hintergründe und ergänzt somit das von ihr geschaffene Universum um weitere bunte Details. Mit dem Hintergrundwissen über das Grishaverse mit all seinen Ländern, Völkern, Legenden und Bewohnern, das man als erfahrener Leser im Laufe der Zeit gesammelt hat, kann man viele der hier geschilderten Geschehnisse deuten und einige der Heilige als Grisha verschiedener Orden erkennen. Außerdem kommen hier auch Heilige wie Sankta Lizabeta von den Rosen, Sankt Juris, Sankt Grigori, Sankta Alina von der Schattenflur oder der sternenlose Heilige vor, die wir als handelnde Figuren kennengelernt haben. Kennt man die Gelegenheiten, in denen die Heiligen in ihren vorherigen Buchreihen eine Rolle spielen jedoch nicht, wird es einem schwerfallen, die einzelnen, kurzen Geschichten in einen größeren Gesamtkontext zu packen. Deshalb würde ich "Die Leben der Heiligen" vor allem empfehlen, wenn man die Grisha Trilogie ("Goldene Flammen", "Eisige Wellen", "Lodernde Schwingen"), die Krähen-Dilogie ("Das Lied der Krähen", "Das Gold der Krähen") und die zweiteilige Saga um Nikolai ("King of Scars und "Rule of Wolves") gelesen hat, oder zumindest die Serie "Shadow and Bone" gesehen hat.

Schreibstil:
Mit 143 Seiten ist "Die Leben der Heiligen" sehr kurz und lässt nicht besonders viel Raum für die einzelnen Geschichten, die oft nur 2-5 Seiten lang sind. Doch das reicht völlig aus: anders als befürchtet entführt Leigh Bardugo hier ganz klar wieder in die wundervolle, eigensinnige, kunterbunte, authentische, magische Welt des Grishaverse und lässt zwischen den verschiedenen kurzen Episoden die Atmosphäre ihrer drei Reihen auflodern. Düster, magisch und spannend erzählt Leigh Bardugo uns kurze, osteuropäisch angehauchte Märchen, nimmt uns mit an schillernde Schauplätze und schockt uns mit bedrohlichen Überraschungen. Dabei sind einige der kurzen Episoden durchaus recht grausam und zeugen nicht gerade von einem starken Vertrauen in die Weisheit der Menschheit. Wissen wird mit Argwohn begegnet, das Werk von Heilern mit Gewalt gestraft und Wunder mit Füßen getreten. Da es aber auch genügend geschichtliche Beispiele dafür gibt, dass Menschen Unbekanntes gerne vorschnell verdammen, halte ich das durchaus für realistisch. Mit der Zeit wird klar, dass die Geschichten insgesamt recht ähnlich - wenn auch abwechslungsreich verpackt - sind. Wenn man sie jedoch so liest wie Sofia und ich in unserem Buddyread, also schön verteilt hier und da eine Episode, fällt das nicht zu sehr ins Gewicht. Manche Geschichten rissen mich dabei mehr mit, andere weniger, alles in allem hat es mir aber eine große Freude bereitet, nochmal in das Grishaverse eintauchen zu können.

Gestaltung:
Falls Euch der Inhalt und die Atmosphäre noch nicht genug überzeugt haben, das dünne Büchlein zu kaufen, will ich Euch noch ein bisschen von der Gestaltung vorschwärmen. Die gebundene Ausgabe hat dunkelrote Buchdeckel mit Lederoptik und goldenen Verzierungen, auf dem der Titel in kyrillischen Buchstaben aufgedruckt ist. Damit entspricht die Aufmachung von "Das Leben der Heiligen" exakt der Optik des Buches, das Alina Starkov in der Netflix Serie immer wieder zur Hand nimmt. Neben dieser tollen Nachbildung wartet auch das Innenleben der Anthologie mit einer Menge Überraschungen auf. Begleitet werden die 28 Geschichten durch wunderschöne ganzseitige Illustrationen von Daniel J. Zollinger, die den Inhalt der Geschichten prägnant und farbenfroh wiedergeben. Zusätzlich sind auch die Ränder jeder Seite mit einem dünnen Goldrand verziert, sodass ich mich beim Lesen gar nicht sattsehen konnte!



Das Urteil:


"Die Leben der Heiligen" erzählt in 28 sehr kurzen Geschichten auf abwechslungsreiche Art und Weise die Entstehungsgeschichten der Heiligenlegenden, die in drei vorangegangenen Reihen eine Rolle spielen, liefert spannende Hintergründe und ergänzt somit das von geschaffene Universum um weitere bunte Details. Da die einzelnen Geschichten ansonsten nur schwer einzuordnen sind, kann ich die Anthologie aber nur für Fans von Leigh Bardugos vorherigen Reihen empfehlen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
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  • Charaktere
Veröffentlicht am 01.09.2021

Düster, magisch und spannend - absolut empfehlenswert für Fans des Grishaverse!

Die Leben der Heiligen
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Handlung: "Die Leben der Heiligen" ist nach "Die Sprache der Dornen" das zweite Fanbuch, das Leigh Bardugo zu ihrem weltweit umjubelten Grishaverse herausbringt. In diesem dünnen Büchlein erzählt sie in ...

Handlung: "Die Leben der Heiligen" ist nach "Die Sprache der Dornen" das zweite Fanbuch, das Leigh Bardugo zu ihrem weltweit umjubelten Grishaverse herausbringt. In diesem dünnen Büchlein erzählt sie in 28 sehr kurzen Geschichten die Entstehungsgeschichten der Heiligenlegenden, die in ihren drei vorangegangenen Reihen eine Rolle spielen, liefert spannende Hintergründe und ergänzt somit das von ihr geschaffene Universum um weitere bunte Details. Mit dem Hintergrundwissen über das Grishaverse mit all seinen Ländern, Völkern, Legenden und Bewohnern, das man als erfahrener Leser im Laufe der Zeit gesammelt hat, kann man viele der hier geschilderten Geschehnisse deuten und einige der Heilige als Grisha verschiedener Orden erkennen. Außerdem kommen hier auch Heilige wie Sankta Lizabeta von den Rosen, Sankt Juris, Sankt Grigori, Sankta Alina von der Schattenflur oder der sternenlose Heilige vor, die wir als handelnde Figuren kennengelernt haben. Kennt man die Gelegenheiten, in denen die Heiligen in ihren vorherigen Buchreihen eine Rolle spielen jedoch nicht, wird es einem schwerfallen, die einzelnen, kurzen Geschichten in einen größeren Gesamtkontext zu packen. Deshalb würde ich "Die Leben der Heiligen" vor allem empfehlen, wenn man die Grisha Trilogie ("Goldene Flammen", "Eisige Wellen", "Lodernde Schwingen"), die Krähen-Dilogie ("Das Lied der Krähen", "Das Gold der Krähen") und die zweiteilige Saga um Nikolai ("King of Scars und "Rule of Wolves") gelesen hat, oder zumindest die Serie "Shadow and Bone" gesehen hat.

Schreibstil:
Mit 143 Seiten ist "Die Leben der Heiligen" sehr kurz und lässt nicht besonders viel Raum für die einzelnen Geschichten, die oft nur 2-5 Seiten lang sind. Doch das reicht völlig aus: anders als befürchtet entführt Leigh Bardugo hier ganz klar wieder in die wundervolle, eigensinnige, kunterbunte, authentische, magische Welt des Grishaverse und lässt zwischen den verschiedenen kurzen Episoden die Atmosphäre ihrer drei Reihen auflodern. Düster, magisch und spannend erzählt Leigh Bardugo uns kurze, osteuropäisch angehauchte Märchen, nimmt uns mit an schillernde Schauplätze und schockt uns mit bedrohlichen Überraschungen. Dabei sind einige der kurzen Episoden durchaus recht grausam und zeugen nicht gerade von einem starken Vertrauen in die Weisheit der Menschheit. Wissen wird mit Argwohn begegnet, das Werk von Heilern mit Gewalt gestraft und Wunder mit Füßen getreten. Da es aber auch genügend geschichtliche Beispiele dafür gibt, dass Menschen Unbekanntes gerne vorschnell verdammen, halte ich das durchaus für realistisch. Mit der Zeit wird klar, dass die Geschichten insgesamt recht ähnlich - wenn auch abwechslungsreich verpackt - sind. Wenn man sie jedoch so liest wie Sofia und ich in unserem Buddyread, also schön verteilt hier und da eine Episode, fällt das nicht zu sehr ins Gewicht. Manche Geschichten rissen mich dabei mehr mit, andere weniger, alles in allem hat es mir aber eine große Freude bereitet, nochmal in das Grishaverse eintauchen zu können.

Gestaltung:
Falls Euch der Inhalt und die Atmosphäre noch nicht genug überzeugt haben, das dünne Büchlein zu kaufen, will ich Euch noch ein bisschen von der Gestaltung vorschwärmen. Die gebundene Ausgabe hat dunkelrote Buchdeckel mit Lederoptik und goldenen Verzierungen, auf dem der Titel in kyrillischen Buchstaben aufgedruckt ist. Damit entspricht die Aufmachung von "Das Leben der Heiligen" exakt der Optik des Buches, das Alina Starkov in der Netflix Serie immer wieder zur Hand nimmt. Neben dieser tollen Nachbildung wartet auch das Innenleben der Anthologie mit einer Menge Überraschungen auf. Begleitet werden die 28 Geschichten durch wunderschöne ganzseitige Illustrationen von Daniel J. Zollinger, die den Inhalt der Geschichten prägnant und farbenfroh wiedergeben. Zusätzlich sind auch die Ränder jeder Seite mit einem dünnen Goldrand verziert, sodass ich mich beim Lesen gar nicht sattsehen konnte!



Das Urteil:


"Die Leben der Heiligen" erzählt in 28 sehr kurzen Geschichten auf abwechslungsreiche Art und Weise die Entstehungsgeschichten der Heiligenlegenden, die in drei vorangegangenen Reihen eine Rolle spielen, liefert spannende Hintergründe und ergänzt somit das von geschaffene Universum um weitere bunte Details. Da die einzelnen Geschichten ansonsten nur schwer einzuordnen sind, kann ich die Anthologie aber nur für Fans von Leigh Bardugos vorherigen Reihen empfehlen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 01.09.2021

Eine warmherzige, leicht melancholische Geschichte über Heimat, Wurzeln und den Charme Shetlands.

Where the Roots Grow Stronger
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Auf "Where the Roots Grow Stronger", welches genau heute am 1. September seinen Buchgeburtstag feiert, habe ich mich über Monate riesig gefreut, da ich nach der "Love is..." und der "Believe in Seconds ...

Auf "Where the Roots Grow Stronger", welches genau heute am 1. September seinen Buchgeburtstag feiert, habe ich mich über Monate riesig gefreut, da ich nach der "Love is..." und der "Believe in Seconds Chances"-Reihe (und wegen ihres Katzen-Contents auf Instagram, haha) ein großer Fan von Kathinka Engel bin. Mit dieser warmherzigen, leicht melancholischen Geschichte über Heimat, Wurzeln und Shetlands raue Landschaft startet nicht nur eine neue Trilogie, sondern hat Kathinka Engel auch mal wieder bewiesen, warum sie zu den festen Größen des deutschen New Adult Genres gehört!

Bei der Gestaltung der Geschichte hat der Piper Verlag sich mal wieder selbst übertroffen. Ich habe mich schon beim Cover Reveal total in die Gestaltung verliebt, als ich das Buch mit dem schimmernd grünem Blatt auf creme-weißem Grund, dem geschwungenen Titel und den goldenen geprägten Linien dann aber das erste Mal in der Hand hielt, war ich endgültig hin und weg. Das Cover ist zart, bodenständig, edel und ein kleines bisschen magisch - also das perfekte Kleid für diese Geschichte, die mit genau diesen Adjektiven auch treffend beschrieben werden kann. Auch die Gestaltungen der beiden Folgebände gefallen mir wahnsinnig gut, weshalb ich es kaum erwarten kann, die drei Teile gemeinsam im Schrank stehen zu sehen. Toll ist auch die Karte von den Shetlandinseln und genauer der Stadt Lerwick, welche in der inneren Leselasche des Buches abgebildet ist. Die 37 Kapitelanfänge werden jeweils von einer der goldenen Blätterranken geziert, welche auch auf dem Cover abgebildet sind und sind ab und zu von einem kurzen Gedicht umrahmt. Mit einem dieser Gedichte beginnt auch das erste Kapitel:


Erster Satz: "Zwischen gestern und heute liegt mein Herz."


Wir steigen mit Fionas Abschlussfeier in Bristol, auf der sie ihren Bachelor in bildender Kunst entgegennimmt, in die Geschichte ein. Mit einem Vorstellungsgespräch für einen Job und eine eigene Ausstellung in einer Galerie winken ihr und ihren Tonfiguren eine Karriere als Künstlerin. Ein Neuanfang. Weit weg von zuhause. Als sie jedoch kurz vor dem Gespräch vom Tod ihres Vaters erfährt, hat sie keine andere Möglichkeit, als nach Hause zurückzukehren. Zurück auf die rauen Shetland-Inseln, die sie insgeheim immer vermisst hat, zurück ins kleinstädtische Lerwick, in dem jeder jeden kennt, zurück zu ihren beiden Schwestern, die sie vor drei Jahren überstürzt verlassen hat und zurück zu Connal, ihrer großen Liebe, dessen Herz ihre plötzliche Flucht zerschmettert hat. Fionas Rückkehr nach Lerwick fällt ihr also aus verschiedenen Gründen alles andere als leicht und so sind die ersten Kapitel eher schwermütig zu lesen. Von Gefühlen wie Schuld, Einsamkeit und Sehnsucht geprägt, versucht sie zu kitten, was sie mit ihrer überstürzten Abreise vor drei Jahren zerbrochen hat - sowohl innerhalb ihrer Familie als auch in der Stadt. Vor allem bei Connal hat ihr Verschwinden tiefe Spuren hinterlassen und so ist ihre ersten Konfrontationen bei der Beerdigung ihres Vaters alles andere als ein freundliches Wiedersehen. So wirklich begreift sie aber erst, was sie ihm angetan hat, als sie ihn bei ihrem Einleben und dem Wiederentdecken der Inseln immer wieder über den Weg läuft. Doch trotz all der negativen Gefühle ist da immer noch diese Verbindung zwischen den beiden und so beschließt sie, um ihn zu kämpfen und ihn diesmal nicht loszulassen...


"Durch die einfachen Glasfenster dringt das leise Meeresrauschen an meine Ohren. Der Geschmack des süßen Hufsie umschmeichelt noch meine Zunge. Und so dämmere ich langsam fort. Die Gedanken irgendwo zwischen Bristol und Lerwick, zwischen Absolventin und Schwester, zwischen Familie und Fremde. Zwischen Einsamkeit und einem Uns, einem er und ich, das lange vergangen ist."


Trotz dieser fortlaufenden Begegnungen steht die Liebesgeschichte gerade in der ersten Hälfte der Geschichte nicht im Vordergrund und lässt viel Platz für die Vorstellung der Inseln, der Nebenfiguren und Fionas Ankommen. Besonders gut gefallen hat mir, dass wir Fiona hier zusehen dürfen, sie sie langsam ihre Wurzeln neu entdeckt, mit jedem Tag beginnt, alte Heimat mit neuen Augen zu sehen und sich mit der Zeit immer mehr eingestehen kann, dass es ein Fehler war, damals zu verschwinden. Was genau vor drei Jahren für ihre überstürzte Flucht gesorgt hat und wie es dazu gekommen ist, erfahren wir dabei nur nach und nach. Zwar streut Kathinka Engel großzügig Andeutungen ein, durch die man Fionas Entscheidung und ihr Innenleben Schritt für Schritt rekonstruieren kann, das volle Bild enthüllt sich jedoch erst gegen Ende des Buches. Dabei war ich mal wieder beeindruckt, wie greifbar und nachvollziehbar die Autorin die Gefühle und Entscheidungen ihrer Hauptfigur schildert, sodass selbst paradoxe Glaubenssätze und Emotionen beim Leser ankommen und verstanden werden können. Fiona erscheint so menschlich, so durchschnittlich und dennoch in ihrer Einzigartigkeit so wunderbar, dass man sie am liebsten durch die Seiten hinweg fest drücken und zur besten Freundin machen will. Das Herzstück der Geschichte ist auch in "Where the Roots Grow Stronger" also mal wieder die Protagonistin und deren Entwicklung!


"In meinem Kopf schwirrt es. Das Gefühl, wieder zu Hause zu sein, das ich beim Anblick der grünen Hügel, des grauen, wütenden Meeres empfand, ringt mit dem Drang, erneut abzuhauen. Der Schmerz darüber, gegangen zu sein, wird abgelöst von der Gewissheit, ihm und mir Schmerz erspart zu haben. Aber warum empfinde ich dann jetzt so viel davon?"


Auch die weiteren Figuren der Geschichte sind wie gewohnt mit viel Tiefe und einer nachvollziehbaren Entwicklung ausgestattet. Über Fionas Schwestern, die lebensfrohe Effie und die stark Nessa, erfahren wir noch mehr in den beiden Folgebänden, in denen die zwei auch zwischen grünen Hügeln, wolligen Schafen und stürmischen Wellen ihre Liebe finden. Dennoch ging die Charakterisierung der beiden schon hier weit über die zweiter Nebenfiguren hinaus und die beiden sind mir sehr ans Herz gewachsen. Im Vergleich zu den drei Schwestern blieb mir Connal aber leider ein bisschen zu blass. Anders als bei Fiona, die als Ich-Erzählerin auftritt, fließen seine Gedanken und Gefühle nur durch Fionas Beschreibungen mit ein. Zwar haben wir zusätzlich die kurzen, aber wunderschönen Gedichte zwischen den Kapiteln, die uns einen Hinweis darauf geben, wie es in seinem Inneren aussieht, seine Konflikte werden aber nur angedeutet und wir fiebern nicht so mit wie bei Fionas Ringen um Vergebung, Liebe, Zugehörigkeit und Heimat.


"Ich breche dich, ich breche mich.
Wir kennen es nicht anders.
Das gegenseitige Brechen, Zerbrechen.
Ein letztes Mal noch im Kummer vereint.
Denn wir können uns nicht halten,
können uns nicht lassen,
weil ich dich nicht noch einmal verlieren kann.
Lass mich mein kleines Leben leben.
lass dich mein Traum sein.
Lass uns heilen, dich von mir und mich von dir.
Und geh. Geh fort, wie damals.
Geh und bleib, wo auch immer du dein Glück findest.
Doch bitte, bitte such es nicht bei mir.
Denn mich zerstört die Möglichkeit der Möglichkeit.
Das Haben-Können und Verlieren-Müssen.
Das Vielleicht und das Wahrscheinlich.
Und das Warum."


Genau wie die anderen Bücher der Autorin ist "Where the Roots Grow Stronger" zusätzlich mal wieder wunderschön geschrieben. Kathinka Engels Schreibstil ist gewohnt lebendig, ehrlich und emotional, verliert dabei aber nie die Charakterentwicklung und ihre Themen aus dem Blick. Neben inhaltlichen Schwerpunkten wie Kunst, Kinderlosigkeit, Heimat, Flucht und Angst, wird auch das Setting auf den Shetland Inseln stark miteingebunden. Ich selbst war noch nie in Schottland, geschweige denn auf den Shetland Inseln, dennoch konnte ich mir die weite, baumleere Landschaft mit den grünen Büschen, wolligen Schafen, robusten Ponys unter einem windigen, regennassen Himmel bildlich vorstellen. Neben der rauen Schönheit der Natur führt uns Kathinka Engel auch die Herzlichkeit der Bewohner Lerwicks und den inspirierenden Familienzusammenhalt vor Augen, welche am "Nordpol", wie Fionas Freundin Irina Shetland zu nennen pflegt normal zu sein scheint. Kurzum: ich habe mich verliebt und habe dank der Autorin ein neues Wunschreiseziel (aber unbedingt für den Sommer!).


"Es ist eine raue Schönheit, die sich mit der Wehmut der Natur verbindet. Als wäre sie vom Regen geküsst, jedoch von der Sonne vernachlässigt. Und von mir. Sie hat so viel Leibe verdient, udn ich habe sie ihr in den letzten Jahren nicht gegeben. Ich habe sie vergessen. Und doch ist sie jetzt für mich da, weht meine Probleme einfach weg, spült sie weg. Das alles hier ist mir so bekannt und stiehlt sich schmerzhaft schön zurück in mein Herz."



Auch wenn die Atmosphäre vor allem während der ersten Hälfte ein wenig schwermütig ist und Kathinka Engel nicht vor ernsten Themen und negativ-gedämpften Emotionen zurückschreckt, handelt es sich hier um ein Wohlfühlbuch mit alles in allem vorhersehbarem Verlauf, herzerwärmender Story und gütigen Versprechen auf ein Happy End, die über jedem Problem schweben. Die Autorin lässt sich zwar ein bisschen Zeit, um ihre heimelig-melancholische, authentische Geschichte zu einem Ende zu bringen, kommt aber nach guten 380 Seiten doch wie vorgesehen beim Happy End an. Dieses bildet mit seiner Offenheit und Schlichtheit ein perfekter Abschluss für die Geschichte und lässt uns zufrieden, aber auch neugierig auf die beiden anderen Bände zurück.


"Menschen machen Fehler. Die jungen vielleicht mehr als die alten. Aber deswegen haben sie dennoch Liebe verdient."





Fazit:

"Where the Roots Grow Stronger" ist eine warmherzige, leicht melancholische Geschichte über Heimat, Wurzeln und den Charme Shetlands. Kathinka Engel überzeugt hier mal wieder mit einem tollen Setting, authentischen Charakteren, vielen Gefühlen und einer wunderschönen Erzählweise.

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