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Veröffentlicht am 02.07.2021

Ein dunkler, mysteriöser Mix aus Fantasy, Romanze, Krimi und einigen Horror-Elementen

Witchghost
0

Wir Fans von Lynn Raven mussten ja eine ganze Weile auf ein neues Buch von ihr warten, vor drei Tagen war es aber endlich soweit und "Witchghost" hat die Welt erblickt. Nachdem die Autorin mich schon einmal ...

Wir Fans von Lynn Raven mussten ja eine ganze Weile auf ein neues Buch von ihr warten, vor drei Tagen war es aber endlich soweit und "Witchghost" hat die Welt erblickt. Nachdem die Autorin mich schon einmal im Dark Fantasy Genre mit "Blutbraut", welches zu einem wahren Jahreshighlight geworden ist, überzeugen konnte, hatte ich natürlich auch hohe Erwartungen an "Witchghost". Ganz an "Blutbraut" kommt die Geschichte von Cass und Luke nicht heran, aber auch hier reißt Lynn Raven mit dem dunklen, mysteriösen Mix aus Fantasy, Romanze, Krimi und einigen wohl platzierten Horror-Elementen mit.

Das Cover zeigt (wie eigentlich bei allen Standalones der Autorin, die im cbj-Verlag erschienen sind) das Close-Up einer Frau. Das hier abgebildete Modell hat dunkle Haare, einen stechenden Blick, rote Lippen und trägt ein weißes Kleid, wodurch sich ein interessanter Kontrast aus Hell-Dunkle mit einigen roten Akzenten ergibt. Abgerundet wird der mystische Effekt durch Nebelschwaden, die sich um den Kopf der Frau legen und die Andeutung eines düsteren Waldes im Hintergrund. Ob das Modell nun unsere Hauptfigur Cass, oder vielleicht den Geist der Hexe, die der Geschichte ihren Namen und ihre Spannung gibt, darstellen soll, ist mir nicht ganz klar, da es zu beiden nicht zu 100 Prozent passt. Da mir die Gesamtatmosphäre und Ausstrahlung des Covers aber sehr gut gefällt, ist das kein großes Problem. Das Hexen-Motiv wird auch innerhalb des Buches an den Kapitelanfängen umgesetzt. Hier ist jeweils ein Pentagramm zusehen, das bei den Erzählenden der Familie Castairs mit unterschiedlich vielen Blumen verziert ist, während bei Sarah Ann Wittmores Perspektive das Pentagramm auf dem Kopf steht und mit jedem Kapitel mehr Blätter verliert. Das finde ich sehr spannend umgesetzt, da mir die subtilen Änderungen während der ersten Kapitel gar nicht aufgefallen sind.


Erster Satz: "Die Katze starrte mich an."


Lynn Raven beginnt ihre Geschichte gleich aus mehreren Perspektiven. Zuerst lernen wir unsere Ich-Erzählerin Cassandra Castairs kennen, die bis zu ihrem 18. Geburtstag bei der Familie Wittmore in Neuengland unterkommen soll, da ihre gesamte Familie in kurzer Zeit auf geheimnisvolle Art gestorben ist. Unterbrochen wird ihre Erzählung immer wieder durch kurze Einschübe aus der Vergangenheit, in der Cass´ Urahn William Castairs als personaler Er-Erzähler fungiert und durch kurze Einblicke in Sarah-Ann Wittmores Leben, der Tochter von Cass´ Gastgeber, in der Jetzt-Zeit. Wie die drei Handlungsstränge miteinander verbunden sind und weshalb Lynn Raven ausgerechnet diese Figuren zu Erzählern gemacht hat, erfahren wir erst im Laufe der Geschichte. Schon die Zeitebenen alleine wären verwirrend genug, hinzukommt, dass die Autorin schon in den ersten Kapiteln mit Spezial-Begriffen wie "Coven", "Richter" oder "Vertrauter" um sich wirft, ohne diese genauer zu erklären. Auch im späteren Verlauf der Geschichte wartet man vergeblich auf eine genauere Einführung in die Welt der Hexen und muss sich fast alles aus dem Zusammenhang erschließen. Zuerst irritierte mich das sehr, aber dann habe ich mit der Zeit begriffen, dass genau diese Überforderung beim Lesen auch einen Teil des Reizes der Geschichte ausmacht.


"Da war eine Baumwurzel unter den Blüten... Ich legte die Fingerspitzen auf sie, schickte das Brennen zu ihr. Es strich über meine Haut.
Castairs... Hexe...
Wie ein Flüstern. Etwas, das man hörte, ohne es verstehen zu können. Oder sich daran erinnern. Ich schloss die Augen. Atmete tief und langsam aus. Ein.
Aus.
Castairs... Schwester..."


Nach sehr verwirrenden ersten Seiten in denen wir mit etlichen neuen Namen, Zusammenhängen und Gruppierungen konfrontiert werden und uns in der präsentierten Welt erst einmal zurechtfinden müssen, wird die Handlung ein weniger beständiger als Cass sich auf dem Anwesen der Wittmores einlebt. Die Fragen werden jedoch nicht gerade weniger: Was wollen die Wittmores von Cass? Was hat es mit den mysteriösen Todesfällen in der Gegend auf sich? Wer ist der Geist, der Cass immer wieder erscheint? Auf welcher Seite steht Luke? Welche Fähigkeiten hat er als sogenannter "Vertrauter"? Genau wie Cass wird man vollkommen unvorbereitet in immer neue Situationen geworfen und muss sich vieles selbst erschließen. Das macht die Geschichte anspruchsvoll zu lesen, ist aber äußerst kurzweilig und ermöglicht einen stärkeren Fokus auf die Handlung an sich. Trotz, dass das Buch ein wahrhaftiger Schmöker ist, habe ich es runtergelesen wie 200 Seiten. Die ständig brodelnde Grundspannung, die vielen mystischen Zwischenfälle, Actionszenen, das abwechslungsreiches Setting und nicht zuletzt die Vielfalt an verschiedenen Gefühlen, die hier präsentiert werden, machen das Buch zu einem einzigen Abenteuer, von dem ich gar nicht mehr wollte, dass es zu Ende ging.


"Irgendwie kam ich mir gerade vor wie die Heldin in einem schlechten Horror-Film, die ab einem gewissen Punkt mehr Fragen als Antworten hatte und obendrein noch sehenden Auges in ihr Verderben rannte."


Als ich gelesen habe, es ginge hier um Hexen, war ich mir im ersten Moment nicht ganz sicher, wie ich das finden soll, da dieses Thema genau wie Vampire mittlerweile ein kleines bisschen überstrapaziert ist. Lynn Raven schafft es hier jedoch, alle möglichen Elemente aus Mythen, Sagen, Legenden und Realität zu vermischen, sodass eine Geschichte entsteht, die man noch nie in dieser Form gelesen hat. Geister, Hexen, Tierflüsterer, Zirkel, Rituale, Morde - das ergibt einfach ein unwiderstehlicher Mix. Dazu schreibt Lynn Raven sehr flüssig und leicht verständlich, worunter aber nicht der Detailreichtum der Geschichte leidet. Gefühle bannt sie greifbar in die Seiten und schafft es immer wieder aufs Neue, den Seelenzustand der Protagonistin auch sprachlich zu verkörpern: mal dominieren malerisch schöne Beschreibungen das Bild, in anderen Szenen bekommen wir abgehackte, gehetzte Szenenbeschreibungen in Form von Ein-Wort-Sätzen und Wiederholungen vorgesetzt. Trotzdem schafft es die Autorin in all der dunklen, von Angst und Leidenschaft geprägten Stimmung wunderbar modern und unheimlich erfrischend zu erzählen und Szenen durch humorvolle, sogar ironische Bemerkungen aufzulockern. Natürlich ist irgendwie von Anfang an klar, dass Cass sich in Luke verlieben und das Rätsel um die Morde lösen muss muss. Der Grundverlauf der Handlung ist also relativ vorhersehbar, durch den großen Facettenreichtum und den tollen Schreibstil der Autorin, bildet sich jedoch bald eine unerbittliche Sogwirkung aus.


"Wieder ein Fluch. Noch einer, gefolgt von einem weiteren Schrei. Noch einem.
Krachen.
Prasseln.
Wieder Flüche...
Gefolgt von Stille.
Die blieb.
Lange
-
"


Auch bezüglich der Figuren wird nur wenig erklärt. Hat Cass nun magische Fähigkeiten? Wurde sie zur Hexe ausgebildet? Was ist mit ihrer Familie passiert? Zwar lesen wir die Geschichte über die meiste Zeit aus ihrer Perspektive, sie ist jedoch keine besonders redselige Erzählerin und teilt mehr spöttische Gedanken als Gefühle oder Erinnerungen mit uns. Insgesamt habe ich sie dadurch als zwar sehr interessanter aber auch etwas eigenwilliger Charakter empfunden. Auf der einen Seite tritt sie als machtvolle, kämpferische Castairs Hexe auf, auf der anderen Seite ist da das verstörte Mädchen, das seine Familie verloren hat. Für eine wirkliche Entwicklung bleibt neben der sehr dominanten Handlung nicht wirklich Raum, das wird aber dadurch wettgemacht, dass wir sie nur nach und nach kennenlernen und die Dynamik in ihrer Person also aus einer zunehmenden Öffnung auch gegenüber dem Leser besteht.


"Hier war... nichts. Als würde sich alles vor einem unsichtbaren Raubtier ducken und den Atem anhalten. Ein Raubtier, das sich nach Hexerei anfühlte. Dunkel. Alt. Und faulig..."


Überrascht hat mich auch, dass die Liebesgeschichte sehr stark im Hintergrund steht. Luke ist zwar ein netter Kerl, bleibt hier aber deutlich blasser, als ich das von z.B. "Blutbraut" gewohnt war. Über den dortigen Love Interest, Joaquín, könnte ich seitenweise schwadronieren, Luke hingegen ist echt nicht schlecht, wird mir aber keine schlaflosen Nächte bescheren. Positiv gesehen läuft die sich anbahnende Liebe zwischen Luke und Cass aufgrund der fast vollkommen fehlenden Romantik an keiner Stelle Gefahr, kitschig oder nervig zu werden. Kritisch betrachtet bekommen wir erst gegen Ende die erotische Anziehungskraft zwischen den Beiden mit und können die wachsende Nähe zwischen der geheimnisvollen Hexe und ihrem zwielichtigen Vertrauten nur erahnen. Wer also auf glühende Liebesszenen und Liebe, Drama, Wahnsinn wartet, wird wahrscheinlich enttäuscht. Wer jedoch dem Romantik-Anteil in Fantasy-Geschichten sowieso keine große Bedeutung beimisst, wird hier von der rasanten Handlung überzeugt werden.


"Die Toten tun dir nichts, Cassandra", hatte Granny immer gesagt. "Du musst nur die Lebenden im Auge behalten. Und jene, die zurückkommen."


Als die Geschichte gegen Ende nochmal auf einen absoluten Showdown zuging, begann ich die Vorhersehbarkeit des Buches noch einmal zu hinterfragen und war mir plötzlich absolut nicht mehr sicher, wie das alles wirklich ausgehen würde. Irgendwie hatte ich so das Gefühl, dass Lynn Raven da tatsächlich alles zuzutrauen wäre. Ich hielt alle virtuellen Daumen für meine Protagonisten gedrückt, dass sie doch bitte - bitte - ein halbwegs schönes Ende finden würden. Anscheinend haben meine Stoßgebete zum Lesegott auch etwas gebracht, denn auch wenn das Ende viel zu kurz war und eine Menge Potential verschenkte, bekamen eigentlich alle alles was sie wollten.



Fazit:

Ein dunkler, mysteriöser Mix aus Fantasy, Romanze, Krimi und einigen wohl platzierten Horror-Elementen. Schreibstil, Handlung und Figuren sind mal wieder "typisch Lynn Raven", was leicht enttäuscht sind die Liebesgeschichte und das Ende.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 02.07.2021

Ein dunkler, mysteriöser Mix aus Fantasy, Romanze, Krimi und einigen Horror-Elementen

Witchghost
0

Wir Fans von Lynn Raven mussten ja eine ganze Weile auf ein neues Buch von ihr warten, vor drei Tagen war es aber endlich soweit und "Witchghost" hat die Welt erblickt. Nachdem die Autorin mich schon einmal ...

Wir Fans von Lynn Raven mussten ja eine ganze Weile auf ein neues Buch von ihr warten, vor drei Tagen war es aber endlich soweit und "Witchghost" hat die Welt erblickt. Nachdem die Autorin mich schon einmal im Dark Fantasy Genre mit "Blutbraut", welches zu einem wahren Jahreshighlight geworden ist, überzeugen konnte, hatte ich natürlich auch hohe Erwartungen an "Witchghost". Ganz an "Blutbraut" kommt die Geschichte von Cass und Luke nicht heran, aber auch hier reißt Lynn Raven mit dem dunklen, mysteriösen Mix aus Fantasy, Romanze, Krimi und einigen wohl platzierten Horror-Elementen mit.

Das Cover zeigt (wie eigentlich bei allen Standalones der Autorin, die im cbj-Verlag erschienen sind) das Close-Up einer Frau. Das hier abgebildete Modell hat dunkle Haare, einen stechenden Blick, rote Lippen und trägt ein weißes Kleid, wodurch sich ein interessanter Kontrast aus Hell-Dunkle mit einigen roten Akzenten ergibt. Abgerundet wird der mystische Effekt durch Nebelschwaden, die sich um den Kopf der Frau legen und die Andeutung eines düsteren Waldes im Hintergrund. Ob das Modell nun unsere Hauptfigur Cass, oder vielleicht den Geist der Hexe, die der Geschichte ihren Namen und ihre Spannung gibt, darstellen soll, ist mir nicht ganz klar, da es zu beiden nicht zu 100 Prozent passt. Da mir die Gesamtatmosphäre und Ausstrahlung des Covers aber sehr gut gefällt, ist das kein großes Problem. Das Hexen-Motiv wird auch innerhalb des Buches an den Kapitelanfängen umgesetzt. Hier ist jeweils ein Pentagramm zusehen, das bei den Erzählenden der Familie Castairs mit unterschiedlich vielen Blumen verziert ist, während bei Sarah Ann Wittmores Perspektive das Pentagramm auf dem Kopf steht und mit jedem Kapitel mehr Blätter verliert. Das finde ich sehr spannend umgesetzt, da mir die subtilen Änderungen während der ersten Kapitel gar nicht aufgefallen sind.


Erster Satz: "Die Katze starrte mich an."


Lynn Raven beginnt ihre Geschichte gleich aus mehreren Perspektiven. Zuerst lernen wir unsere Ich-Erzählerin Cassandra Castairs kennen, die bis zu ihrem 18. Geburtstag bei der Familie Wittmore in Neuengland unterkommen soll, da ihre gesamte Familie in kurzer Zeit auf geheimnisvolle Art gestorben ist. Unterbrochen wird ihre Erzählung immer wieder durch kurze Einschübe aus der Vergangenheit, in der Cass´ Urahn William Castairs als personaler Er-Erzähler fungiert und durch kurze Einblicke in Sarah-Ann Wittmores Leben, der Tochter von Cass´ Gastgeber, in der Jetzt-Zeit. Wie die drei Handlungsstränge miteinander verbunden sind und weshalb Lynn Raven ausgerechnet diese Figuren zu Erzählern gemacht hat, erfahren wir erst im Laufe der Geschichte. Schon die Zeitebenen alleine wären verwirrend genug, hinzukommt, dass die Autorin schon in den ersten Kapiteln mit Spezial-Begriffen wie "Coven", "Richter" oder "Vertrauter" um sich wirft, ohne diese genauer zu erklären. Auch im späteren Verlauf der Geschichte wartet man vergeblich auf eine genauere Einführung in die Welt der Hexen und muss sich fast alles aus dem Zusammenhang erschließen. Zuerst irritierte mich das sehr, aber dann habe ich mit der Zeit begriffen, dass genau diese Überforderung beim Lesen auch einen Teil des Reizes der Geschichte ausmacht.


"Da war eine Baumwurzel unter den Blüten... Ich legte die Fingerspitzen auf sie, schickte das Brennen zu ihr. Es strich über meine Haut.
Castairs... Hexe...
Wie ein Flüstern. Etwas, das man hörte, ohne es verstehen zu können. Oder sich daran erinnern. Ich schloss die Augen. Atmete tief und langsam aus. Ein.
Aus.
Castairs... Schwester..."


Nach sehr verwirrenden ersten Seiten in denen wir mit etlichen neuen Namen, Zusammenhängen und Gruppierungen konfrontiert werden und uns in der präsentierten Welt erst einmal zurechtfinden müssen, wird die Handlung ein weniger beständiger als Cass sich auf dem Anwesen der Wittmores einlebt. Die Fragen werden jedoch nicht gerade weniger: Was wollen die Wittmores von Cass? Was hat es mit den mysteriösen Todesfällen in der Gegend auf sich? Wer ist der Geist, der Cass immer wieder erscheint? Auf welcher Seite steht Luke? Welche Fähigkeiten hat er als sogenannter "Vertrauter"? Genau wie Cass wird man vollkommen unvorbereitet in immer neue Situationen geworfen und muss sich vieles selbst erschließen. Das macht die Geschichte anspruchsvoll zu lesen, ist aber äußerst kurzweilig und ermöglicht einen stärkeren Fokus auf die Handlung an sich. Trotz, dass das Buch ein wahrhaftiger Schmöker ist, habe ich es runtergelesen wie 200 Seiten. Die ständig brodelnde Grundspannung, die vielen mystischen Zwischenfälle, Actionszenen, das abwechslungsreiches Setting und nicht zuletzt die Vielfalt an verschiedenen Gefühlen, die hier präsentiert werden, machen das Buch zu einem einzigen Abenteuer, von dem ich gar nicht mehr wollte, dass es zu Ende ging.


"Irgendwie kam ich mir gerade vor wie die Heldin in einem schlechten Horror-Film, die ab einem gewissen Punkt mehr Fragen als Antworten hatte und obendrein noch sehenden Auges in ihr Verderben rannte."


Als ich gelesen habe, es ginge hier um Hexen, war ich mir im ersten Moment nicht ganz sicher, wie ich das finden soll, da dieses Thema genau wie Vampire mittlerweile ein kleines bisschen überstrapaziert ist. Lynn Raven schafft es hier jedoch, alle möglichen Elemente aus Mythen, Sagen, Legenden und Realität zu vermischen, sodass eine Geschichte entsteht, die man noch nie in dieser Form gelesen hat. Geister, Hexen, Tierflüsterer, Zirkel, Rituale, Morde - das ergibt einfach ein unwiderstehlicher Mix. Dazu schreibt Lynn Raven sehr flüssig und leicht verständlich, worunter aber nicht der Detailreichtum der Geschichte leidet. Gefühle bannt sie greifbar in die Seiten und schafft es immer wieder aufs Neue, den Seelenzustand der Protagonistin auch sprachlich zu verkörpern: mal dominieren malerisch schöne Beschreibungen das Bild, in anderen Szenen bekommen wir abgehackte, gehetzte Szenenbeschreibungen in Form von Ein-Wort-Sätzen und Wiederholungen vorgesetzt. Trotzdem schafft es die Autorin in all der dunklen, von Angst und Leidenschaft geprägten Stimmung wunderbar modern und unheimlich erfrischend zu erzählen und Szenen durch humorvolle, sogar ironische Bemerkungen aufzulockern. Natürlich ist irgendwie von Anfang an klar, dass Cass sich in Luke verlieben und das Rätsel um die Morde lösen muss muss. Der Grundverlauf der Handlung ist also relativ vorhersehbar, durch den großen Facettenreichtum und den tollen Schreibstil der Autorin, bildet sich jedoch bald eine unerbittliche Sogwirkung aus.


"Wieder ein Fluch. Noch einer, gefolgt von einem weiteren Schrei. Noch einem.
Krachen.
Prasseln.
Wieder Flüche...
Gefolgt von Stille.
Die blieb.
Lange
-
"


Auch bezüglich der Figuren wird nur wenig erklärt. Hat Cass nun magische Fähigkeiten? Wurde sie zur Hexe ausgebildet? Was ist mit ihrer Familie passiert? Zwar lesen wir die Geschichte über die meiste Zeit aus ihrer Perspektive, sie ist jedoch keine besonders redselige Erzählerin und teilt mehr spöttische Gedanken als Gefühle oder Erinnerungen mit uns. Insgesamt habe ich sie dadurch als zwar sehr interessanter aber auch etwas eigenwilliger Charakter empfunden. Auf der einen Seite tritt sie als machtvolle, kämpferische Castairs Hexe auf, auf der anderen Seite ist da das verstörte Mädchen, das seine Familie verloren hat. Für eine wirkliche Entwicklung bleibt neben der sehr dominanten Handlung nicht wirklich Raum, das wird aber dadurch wettgemacht, dass wir sie nur nach und nach kennenlernen und die Dynamik in ihrer Person also aus einer zunehmenden Öffnung auch gegenüber dem Leser besteht.


"Hier war... nichts. Als würde sich alles vor einem unsichtbaren Raubtier ducken und den Atem anhalten. Ein Raubtier, das sich nach Hexerei anfühlte. Dunkel. Alt. Und faulig..."


Überrascht hat mich auch, dass die Liebesgeschichte sehr stark im Hintergrund steht. Luke ist zwar ein netter Kerl, bleibt hier aber deutlich blasser, als ich das von z.B. "Blutbraut" gewohnt war. Über den dortigen Love Interest, Joaquín, könnte ich seitenweise schwadronieren, Luke hingegen ist echt nicht schlecht, wird mir aber keine schlaflosen Nächte bescheren. Positiv gesehen läuft die sich anbahnende Liebe zwischen Luke und Cass aufgrund der fast vollkommen fehlenden Romantik an keiner Stelle Gefahr, kitschig oder nervig zu werden. Kritisch betrachtet bekommen wir erst gegen Ende die erotische Anziehungskraft zwischen den Beiden mit und können die wachsende Nähe zwischen der geheimnisvollen Hexe und ihrem zwielichtigen Vertrauten nur erahnen. Wer also auf glühende Liebesszenen und Liebe, Drama, Wahnsinn wartet, wird wahrscheinlich enttäuscht. Wer jedoch dem Romantik-Anteil in Fantasy-Geschichten sowieso keine große Bedeutung beimisst, wird hier von der rasanten Handlung überzeugt werden.


"Die Toten tun dir nichts, Cassandra", hatte Granny immer gesagt. "Du musst nur die Lebenden im Auge behalten. Und jene, die zurückkommen."


Als die Geschichte gegen Ende nochmal auf einen absoluten Showdown zuging, begann ich die Vorhersehbarkeit des Buches noch einmal zu hinterfragen und war mir plötzlich absolut nicht mehr sicher, wie das alles wirklich ausgehen würde. Irgendwie hatte ich so das Gefühl, dass Lynn Raven da tatsächlich alles zuzutrauen wäre. Ich hielt alle virtuellen Daumen für meine Protagonisten gedrückt, dass sie doch bitte - bitte - ein halbwegs schönes Ende finden würden. Anscheinend haben meine Stoßgebete zum Lesegott auch etwas gebracht, denn auch wenn das Ende viel zu kurz war und eine Menge Potential verschenkte, bekamen eigentlich alle alles was sie wollten.



Fazit:

Ein dunkler, mysteriöser Mix aus Fantasy, Romanze, Krimi und einigen wohl platzierten Horror-Elementen. Schreibstil, Handlung und Figuren sind mal wieder "typisch Lynn Raven", was leicht enttäuscht sind die Liebesgeschichte und das Ende.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 02.07.2021

Ein dunkler, mysteriöser Mix aus Fantasy, Romanze, Krimi und einigen Horror-Elementen

Witchghost
0

Wir Fans von Lynn Raven mussten ja eine ganze Weile auf ein neues Buch von ihr warten, vor drei Tagen war es aber endlich soweit und "Witchghost" hat die Welt erblickt. Nachdem die Autorin mich schon einmal ...

Wir Fans von Lynn Raven mussten ja eine ganze Weile auf ein neues Buch von ihr warten, vor drei Tagen war es aber endlich soweit und "Witchghost" hat die Welt erblickt. Nachdem die Autorin mich schon einmal im Dark Fantasy Genre mit "Blutbraut", welches zu einem wahren Jahreshighlight geworden ist, überzeugen konnte, hatte ich natürlich auch hohe Erwartungen an "Witchghost". Ganz an "Blutbraut" kommt die Geschichte von Cass und Luke nicht heran, aber auch hier reißt Lynn Raven mit dem dunklen, mysteriösen Mix aus Fantasy, Romanze, Krimi und einigen wohl platzierten Horror-Elementen mit.

Das Cover zeigt (wie eigentlich bei allen Standalones der Autorin, die im cbj-Verlag erschienen sind) das Close-Up einer Frau. Das hier abgebildete Modell hat dunkle Haare, einen stechenden Blick, rote Lippen und trägt ein weißes Kleid, wodurch sich ein interessanter Kontrast aus Hell-Dunkle mit einigen roten Akzenten ergibt. Abgerundet wird der mystische Effekt durch Nebelschwaden, die sich um den Kopf der Frau legen und die Andeutung eines düsteren Waldes im Hintergrund. Ob das Modell nun unsere Hauptfigur Cass, oder vielleicht den Geist der Hexe, die der Geschichte ihren Namen und ihre Spannung gibt, darstellen soll, ist mir nicht ganz klar, da es zu beiden nicht zu 100 Prozent passt. Da mir die Gesamtatmosphäre und Ausstrahlung des Covers aber sehr gut gefällt, ist das kein großes Problem. Das Hexen-Motiv wird auch innerhalb des Buches an den Kapitelanfängen umgesetzt. Hier ist jeweils ein Pentagramm zusehen, das bei den Erzählenden der Familie Castairs mit unterschiedlich vielen Blumen verziert ist, während bei Sarah Ann Wittmores Perspektive das Pentagramm auf dem Kopf steht und mit jedem Kapitel mehr Blätter verliert. Das finde ich sehr spannend umgesetzt, da mir die subtilen Änderungen während der ersten Kapitel gar nicht aufgefallen sind.


Erster Satz: "Die Katze starrte mich an."


Lynn Raven beginnt ihre Geschichte gleich aus mehreren Perspektiven. Zuerst lernen wir unsere Ich-Erzählerin Cassandra Castairs kennen, die bis zu ihrem 18. Geburtstag bei der Familie Wittmore in Neuengland unterkommen soll, da ihre gesamte Familie in kurzer Zeit auf geheimnisvolle Art gestorben ist. Unterbrochen wird ihre Erzählung immer wieder durch kurze Einschübe aus der Vergangenheit, in der Cass´ Urahn William Castairs als personaler Er-Erzähler fungiert und durch kurze Einblicke in Sarah-Ann Wittmores Leben, der Tochter von Cass´ Gastgeber, in der Jetzt-Zeit. Wie die drei Handlungsstränge miteinander verbunden sind und weshalb Lynn Raven ausgerechnet diese Figuren zu Erzählern gemacht hat, erfahren wir erst im Laufe der Geschichte. Schon die Zeitebenen alleine wären verwirrend genug, hinzukommt, dass die Autorin schon in den ersten Kapiteln mit Spezial-Begriffen wie "Coven", "Richter" oder "Vertrauter" um sich wirft, ohne diese genauer zu erklären. Auch im späteren Verlauf der Geschichte wartet man vergeblich auf eine genauere Einführung in die Welt der Hexen und muss sich fast alles aus dem Zusammenhang erschließen. Zuerst irritierte mich das sehr, aber dann habe ich mit der Zeit begriffen, dass genau diese Überforderung beim Lesen auch einen Teil des Reizes der Geschichte ausmacht.


"Da war eine Baumwurzel unter den Blüten... Ich legte die Fingerspitzen auf sie, schickte das Brennen zu ihr. Es strich über meine Haut.
Castairs... Hexe...
Wie ein Flüstern. Etwas, das man hörte, ohne es verstehen zu können. Oder sich daran erinnern. Ich schloss die Augen. Atmete tief und langsam aus. Ein.
Aus.
Castairs... Schwester..."


Nach sehr verwirrenden ersten Seiten in denen wir mit etlichen neuen Namen, Zusammenhängen und Gruppierungen konfrontiert werden und uns in der präsentierten Welt erst einmal zurechtfinden müssen, wird die Handlung ein weniger beständiger als Cass sich auf dem Anwesen der Wittmores einlebt. Die Fragen werden jedoch nicht gerade weniger: Was wollen die Wittmores von Cass? Was hat es mit den mysteriösen Todesfällen in der Gegend auf sich? Wer ist der Geist, der Cass immer wieder erscheint? Auf welcher Seite steht Luke? Welche Fähigkeiten hat er als sogenannter "Vertrauter"? Genau wie Cass wird man vollkommen unvorbereitet in immer neue Situationen geworfen und muss sich vieles selbst erschließen. Das macht die Geschichte anspruchsvoll zu lesen, ist aber äußerst kurzweilig und ermöglicht einen stärkeren Fokus auf die Handlung an sich. Trotz, dass das Buch ein wahrhaftiger Schmöker ist, habe ich es runtergelesen wie 200 Seiten. Die ständig brodelnde Grundspannung, die vielen mystischen Zwischenfälle, Actionszenen, das abwechslungsreiches Setting und nicht zuletzt die Vielfalt an verschiedenen Gefühlen, die hier präsentiert werden, machen das Buch zu einem einzigen Abenteuer, von dem ich gar nicht mehr wollte, dass es zu Ende ging.


"Irgendwie kam ich mir gerade vor wie die Heldin in einem schlechten Horror-Film, die ab einem gewissen Punkt mehr Fragen als Antworten hatte und obendrein noch sehenden Auges in ihr Verderben rannte."


Als ich gelesen habe, es ginge hier um Hexen, war ich mir im ersten Moment nicht ganz sicher, wie ich das finden soll, da dieses Thema genau wie Vampire mittlerweile ein kleines bisschen überstrapaziert ist. Lynn Raven schafft es hier jedoch, alle möglichen Elemente aus Mythen, Sagen, Legenden und Realität zu vermischen, sodass eine Geschichte entsteht, die man noch nie in dieser Form gelesen hat. Geister, Hexen, Tierflüsterer, Zirkel, Rituale, Morde - das ergibt einfach ein unwiderstehlicher Mix. Dazu schreibt Lynn Raven sehr flüssig und leicht verständlich, worunter aber nicht der Detailreichtum der Geschichte leidet. Gefühle bannt sie greifbar in die Seiten und schafft es immer wieder aufs Neue, den Seelenzustand der Protagonistin auch sprachlich zu verkörpern: mal dominieren malerisch schöne Beschreibungen das Bild, in anderen Szenen bekommen wir abgehackte, gehetzte Szenenbeschreibungen in Form von Ein-Wort-Sätzen und Wiederholungen vorgesetzt. Trotzdem schafft es die Autorin in all der dunklen, von Angst und Leidenschaft geprägten Stimmung wunderbar modern und unheimlich erfrischend zu erzählen und Szenen durch humorvolle, sogar ironische Bemerkungen aufzulockern. Natürlich ist irgendwie von Anfang an klar, dass Cass sich in Luke verlieben und das Rätsel um die Morde lösen muss muss. Der Grundverlauf der Handlung ist also relativ vorhersehbar, durch den großen Facettenreichtum und den tollen Schreibstil der Autorin, bildet sich jedoch bald eine unerbittliche Sogwirkung aus.


"Wieder ein Fluch. Noch einer, gefolgt von einem weiteren Schrei. Noch einem.
Krachen.
Prasseln.
Wieder Flüche...
Gefolgt von Stille.
Die blieb.
Lange
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"


Auch bezüglich der Figuren wird nur wenig erklärt. Hat Cass nun magische Fähigkeiten? Wurde sie zur Hexe ausgebildet? Was ist mit ihrer Familie passiert? Zwar lesen wir die Geschichte über die meiste Zeit aus ihrer Perspektive, sie ist jedoch keine besonders redselige Erzählerin und teilt mehr spöttische Gedanken als Gefühle oder Erinnerungen mit uns. Insgesamt habe ich sie dadurch als zwar sehr interessanter aber auch etwas eigenwilliger Charakter empfunden. Auf der einen Seite tritt sie als machtvolle, kämpferische Castairs Hexe auf, auf der anderen Seite ist da das verstörte Mädchen, das seine Familie verloren hat. Für eine wirkliche Entwicklung bleibt neben der sehr dominanten Handlung nicht wirklich Raum, das wird aber dadurch wettgemacht, dass wir sie nur nach und nach kennenlernen und die Dynamik in ihrer Person also aus einer zunehmenden Öffnung auch gegenüber dem Leser besteht.


"Hier war... nichts. Als würde sich alles vor einem unsichtbaren Raubtier ducken und den Atem anhalten. Ein Raubtier, das sich nach Hexerei anfühlte. Dunkel. Alt. Und faulig..."


Überrascht hat mich auch, dass die Liebesgeschichte sehr stark im Hintergrund steht. Luke ist zwar ein netter Kerl, bleibt hier aber deutlich blasser, als ich das von z.B. "Blutbraut" gewohnt war. Über den dortigen Love Interest, Joaquín, könnte ich seitenweise schwadronieren, Luke hingegen ist echt nicht schlecht, wird mir aber keine schlaflosen Nächte bescheren. Positiv gesehen läuft die sich anbahnende Liebe zwischen Luke und Cass aufgrund der fast vollkommen fehlenden Romantik an keiner Stelle Gefahr, kitschig oder nervig zu werden. Kritisch betrachtet bekommen wir erst gegen Ende die erotische Anziehungskraft zwischen den Beiden mit und können die wachsende Nähe zwischen der geheimnisvollen Hexe und ihrem zwielichtigen Vertrauten nur erahnen. Wer also auf glühende Liebesszenen und Liebe, Drama, Wahnsinn wartet, wird wahrscheinlich enttäuscht. Wer jedoch dem Romantik-Anteil in Fantasy-Geschichten sowieso keine große Bedeutung beimisst, wird hier von der rasanten Handlung überzeugt werden.


"Die Toten tun dir nichts, Cassandra", hatte Granny immer gesagt. "Du musst nur die Lebenden im Auge behalten. Und jene, die zurückkommen."


Als die Geschichte gegen Ende nochmal auf einen absoluten Showdown zuging, begann ich die Vorhersehbarkeit des Buches noch einmal zu hinterfragen und war mir plötzlich absolut nicht mehr sicher, wie das alles wirklich ausgehen würde. Irgendwie hatte ich so das Gefühl, dass Lynn Raven da tatsächlich alles zuzutrauen wäre. Ich hielt alle virtuellen Daumen für meine Protagonisten gedrückt, dass sie doch bitte - bitte - ein halbwegs schönes Ende finden würden. Anscheinend haben meine Stoßgebete zum Lesegott auch etwas gebracht, denn auch wenn das Ende viel zu kurz war und eine Menge Potential verschenkte, bekamen eigentlich alle alles was sie wollten.



Fazit:

Ein dunkler, mysteriöser Mix aus Fantasy, Romanze, Krimi und einigen wohl platzierten Horror-Elementen. Schreibstil, Handlung und Figuren sind mal wieder "typisch Lynn Raven", was leicht enttäuscht sind die Liebesgeschichte und das Ende.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 01.07.2021

Eine anstrengende, emotionale Bergsteigetour...

Only One Note
1

Als ich "Only One Letter" im April begeistert beendet hatte, war ich ein bisschen geknickt, dass ich bis zum Erscheinungstermin von "Only One Note" noch drei Monate warten musste. Als mich dann die Autorin ...

Als ich "Only One Letter" im April begeistert beendet hatte, war ich ein bisschen geknickt, dass ich bis zum Erscheinungstermin von "Only One Note" noch drei Monate warten musste. Als mich dann die Autorin angeschrieben hat, sie könnte noch ein zusätzliches Augenpaar bei der letzten Kontrolle vor der Freigabe zum Druck gebrauchen, habe ich nicht lange gefackelt und strahlend zugesagt. Aus diesem Arrangement entwickelt hat sich dann - da wir beinahe zeitgleich durch die Geschichte gegangen sind- ein total grandioser Buddyread, der mir im Endeffekt nicht nur den früheren Zugang zu Charles´ und Nells Geschichte, sondern auch eine Menge Hintergründe, Insider und Überlegungen zur Geschichte beschert hat. Vielen Dank, Anne, hier ist ein Lesertraum in Erfüllung gegangen!

So, doch nun zum Wesentlichen! Das Cover ist mit dem bordeauxrot eingefärbten Close-Up eines Paares und dem sehr großen Titel zwar sehr hübsch anzusehen, hat aber meiner Meinung nach keinen besonderen Wiedererkennungswert. Auch der Titel hat mich nicht unbedingt vom Hocker gehauen. "Only One Note" setzt das Reihenmotiv zwar wieder stimmig fort, ist mir aber wieder zu generisch. Dasselbe habe ich schon bei Band 1 und 2 kritisiert, positiv anmerken muss ich aber, dass die drei Teile der Reihe optisch ganz wunderbar zusammenpassen und im Bücherregal nebeneinander ein schönes Bild abgeben. Ebenfalls ein großes Plus gibt es dafür, dass es hier endlich eine ausführliche, dem Buch hinten angefügte Triggerwarnung gibt, die ich bei den Bänden zuvor etwas vermisst hatte.


"Die Rechnung war ziemlich simpel und logisch. Wer die Schuld trug, konnte nicht auch noch Entscheidungen treffen. Allerdings war ich mir ehrlich nicht sicher, ob das fair oder eher grausam war."


Der Rezension kurz voranstellen will ich noch, dass es sich hier um den dritten Teil einer Reihe handelt, deren drei Bände sich um EIN verbindendes Ereignis drehen. Die Ansatzpunkte der drei Geschichten, die sich darum entspinnen sind jedoch sehr unterschiedlich, genau wie das Alter der Figuren, die Stimmung der Geschichte und die Behandlungstiefe des Themas. Während der Vorfall in Band 1 den Höhepunkt der Geschichte darstellte, es dort viel um Träume, Chancen und neue Liebe ging und die Stimmung einer Rockstar-Romance entsprechend eher lockerer war, ging es im zweiten Band vermehrt um den Umgang mit dem Erlebten. Doch nicht nur Zeitpunkt und Themenschwerpunkt veränderten sind von Band 1 zu Band 2 - die beiden Protagonisten sind jünger, die Erzählart ganz anders, der Erzählton ernster. Ebenso unterscheidet sich auch Band 3 in vielen Punkten von seinen Vorgängern. In "Only One Note" geht es nun um Entfremdung, Verzeihen, Glück, Verlust und Trauer. Die Handlung setzt eine ganze Weile vor dem Ereignis an, spielt im irischen Belfast und die Figuren sind schon etwas älter und kennen sich seit 14 Jahren. Da die Geschichten sich alle nur minimal überschneiden, können sie auch wunderbar als Einzelbände gelesen werden.


"Kinder sind nicht die unfertigen, minderintelligenten Gnome, für die Erwachsene sie halten. Nell und ich wussten das aus eigener Erfahrung eigentlich ziemlich gut. Aber man vergisst ein paar Dinge, wenn man groß wird. Manchmal vergisst man sogar eine ganze Menge."


Dennoch: erst gemeinsam entfalten sie ein stimmiges Gesamtbild voller gegenseitiger Andeutungen, Begegnungen und Überschneidungen (Stichwort: Songzeilen am Ende jedes Bandes). Außerdem habe ich das Gefühl, dass die "Only One"-Reihe von Band zu Band besser geworden ist, ganz so, als hätte sich die Autorin mit jedem Teil etwas von der typischen Romanze gelöst und mehr zu ihrer eigenen Form gefunden. Was den Aufbau ihrer einzelnen Geschichte und die Einstiege in die Kapitel angeht, hat sich Anne Goldberg bei jedem ihrer Romane etwas anderes überlegt. Bei "Only One Song" waren es Textnachrichten, die einen geheimnisvollen Ausblick auf das Kommende geliefert haben, bei "Only One Letter" war es die Abwechslung von Gegenwart und eines rückblickenden "Logbuchs" und bei "Only One Note" sind die 29 Kapitelanfänge nun mit "Weißt du noch"-Post-its versehen. Die kurzen Erinnerungsschnipsel zu Beginn jedes Kapitels verwirren zunächst noch, mit fortlaufender Handlung beginnen sie dann jedoch immer mehr zum Inhalt der jeweiligen Kapitel zu passen und die fragezeichenversehene Leerstellen im Kopf füllen sich mit immer mehr Szenen und Erinnerungen, die die Geschichte bis zu dem Punkt lebendiger machen, an dem klar wird, was dahinter steckt...


Erster Satz: "Shampoo, Duschgel, Bodylotion"


Doch ich greife zu weit vor: lasst uns erst noch kurz über den Beginn der Geschichte sprechen. Wir steigen nämlich sehr ungewohnt mit einem ordentlichen Fehltritt des männlichen Protagonisten und Erzählers Charles in die Geschichte ein. Wer jetzt denkt "oje, das ist ja denkbar ungünstig, wie soll eine solche Figur Sympathieträger werden?", der unterschätzt wie geschickt uns Anne Goldberg diese Figur ins Herz schmuggelt. Schon nach wenigen Kapiteln hatte ich Charles alles verziehen, was er seiner Verlobten Nell so unbedacht angetan hat und war hilflos verliebt in diesen reflektieren, feinfühligen Charakter, der mit seinen scharfsinnigen Beobachtungen, spannendem Input aus seinem Kommunikationspsychologie-Repertoire und einmaligen Charles-Zitaten jede Szene bereichert. Wie kann man jemanden, der Dinge sagt wie "Nicht jeden macht unüberwindbare Hilflosigkeit laut. Manche von uns werden leise" oder "Man kann von Fehlern halten, was man will, aber Fakt ist: Ein schlechtes Gewissen rückt manche Dinge wieder gerade. Prioritäten, zum Beispiel" oder "Zuweilen ist es erstaunlich, wie viel besser ich darin bin, Dinge richtig zu machen, wenn ich das mit dem Denken einfach überspringe." oder (setze hier jedes beliebige andere tolle Zitat von Charles ein - und davon gibt es eine Meeeeenge...) auch nicht lieben?


"Wir wollten es besser machen, schon vergessen? Wir wollten es verdammt noch mal perfekt machen. Es war über dreizehn Jahre her, dass wir uns das versprochen hatten. Doch wie gesagt – man vergisst sehr viel, wenn man erwachsen wird. Und viel zu oft das Wesentliche."


Sein Gegenpart ist die fröhliche Nell, die er schon seit der Schulzeit kennt und mit der er den Großteil seines Lebens verbracht hat. Allzu viel will ich Euch noch gar nicht über die beiden, ihre Beziehung, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft verraten, da viel der Handlung sich auf ebensolche Details stützt und auf der zwischenmenschlichen Ebene zwischen Nell und Charles abläuft. "Es sind die kleinen Dinge, nicht wahr? Es sind immer die kleinen Dinge." Egal, ob sie planen: "Wir machen viele kleine Monster, und mit denen reißen wir die Weltherrschaft an uns.", oder sich die kitschigsten Liebeserklärungen machen, wie "Du bist der Himmelsschein auf meinem Herzen. Du bist wie Gummibärchen, nur die roten. Du bist wie das größte Geschenk zu Weihnachten. Du bist wie das süßeste Hundebaby und wie von der Schaukel springen. Du bist wie, wenn der Stein fünf Mal über das Wasser hüpft und wie den ganzen Tag Fernsehen gucken dürfen." - Die beiden reden und schweigen, streiten und lieben, reflektieren und ignorieren, erinnern und vergessen (vor allem die Milch) und zeigen uns Lesern damit ein ums andere Mal, dass Liebe nicht perfekt sein muss um zu funktionieren.


"Aber …", setzte Nell noch mal an. "Das ist … Du hast ihn wirklich so lange aufgehoben." Nach dem Wieso fragte sie nicht. Sie kannte es. Im Prinzip wissen wir immer um das Wieso, denke ich. Mit der Zeit hören wir nur auf, darüber zu staunen. Dann helfen alte, knittrige Zettel mit vier Buchstaben. Und Erinnerungen an Dinge, die nie passiert sind."


Auch wenn man von Charles und Nell absieht, steckt "Only One Note" voller großer und kleiner Alltagshelden. Egal ob die Peter Harolds und Octis dieser Welt (sorry, ich musste einfach ein paar Insider einbauen), oder Nells beste Freundin Chris und deren fünfjährige Tochter Sadie, die den beiden in jeder Lebenslage zur Seite stehen - dieses Buch hat einige schrecklich liebenswerte Figuren, die uns darüber hinwegtrösten, dass die Autorin anscheinend Spaß daran hat, Wunden aufzureißen und ordentlich darin herumzurühren. Der bekannte Ausdruck "emotionale Achterbahnfahrt" trifft es hier nicht ganz. "Only One Note" ist eher eine emotionale Bergsteigetour. Wir beginnen ganz unten im Tal und kämpfen uns zusammen mit Nell und Charles Schritt für Schritt den Berg empor. Mit jeder Seite, mit jedem Konflikt, mit jeder Erinnerung können wir weiter in die Vergangenheit der beiden sehen und uns langsam auch eine gemeinsame Zukunft vorstellen. Geführt wird diese emotional anstrengende Wanderung durch den gewohnt intensiven, aber lockeren Schreibstil, der mit vielen wiederkehrenden Motiven, treffenden Beobachtungen und vielschichtigen Figuren glänzt. "Kein Melodrama, nur handfeste Gefühle, kein Glitzer, nur Konfetti", so hat die Autorin ihre Geschichte in unserem "Buddyread" bezeichnet und ich finde das trifft den Nagel genau auf den Kopf.


"Aber so verhält sich das wohl mit der Verlustangst. In ihrem Licht erhalten Kleinigkeiten ein fast schon erdrückendes Gewicht. Und sie werden zu schwer, um sie weit zu tragen."


Doch wie bei jeder Wanderung kann es natürlich nicht für immer nach oben gehen und durch den neu gewonnenen Weitblick sieht man nicht nur, woher man kommt, sondern erahnt auch, welchen Weg man noch gehen muss. Irgendwann ist man auf dem Gipfel angelangt und man weiß, dass es jetzt unvermeidbar wieder bergab gehen wird. Das ist das fieseste an der Geschichte: dass man als aufmerksamer Leser der Reihe schon früh weiß, in welche Richtung es sich bewegen wird und befürchtet, welche emotionale Zerstörung noch auf einen zukommen wird. Das tut der Spannung jedoch keinen Abbruch, sondern verstärkt sie eigentlich nur noch, da man gleichzeitig unbedingt wissen will, wie es enden wird, auf der anderen Seite aber niemals an eben jenem Ende abkommen würde.


"Ich weiß. Nell nippte an ihrer Flasche, und wieder verzog sie das Gesicht. Kurz dachte ich, dass wir mittlerweile sehr gut darin geworden waren, als Einheit vor dem Scherbenhaufen unserer Beziehung zu sitzen und dieses Chaos zu bewundern – in kollektiver Ratlosigkeit."


Das eigentliche Ende kommt dann genauso erbarmungslos dramatisch wie erwartet, ist dabei aber auch so authentisch und herzerwärmend, dass ich es nur als "schlimmschön" bezeichnen kann. Ich hasse es, ich bin aber auch so verliebt in die vielen Kleinigkeiten, die Anne Goldberg hier geschickt miteinbringt: die Zettel, die Wächter gegen die Albträume und die leise Andeutung, dass es auch nach der schlimmen siebten Welle immer weitergeht... "Only One Note" reiht sich somit in die Reihe der wenigen Bücher ein, die mich jemals richtig zum Weinen gebracht haben. Und so enden wir, wie wir begonnen haben: wieder unten am Boden, abgekämpft von dieser Erfahrung, aber auch glücklich, sie gemacht zu haben und mit leisem positiven Ausblick auf die nächste Tour... Ich bin dann auf jeden Fall wieder dabei!


"Mittlerweile glaube ich, dass Trauer aus beidem besteht – aus Momenten, die okay sind. Und aus solchen, an denen man erstickt. Nur die Aufteilung ist nicht immer fair."





Fazit:


Eine anstrengende, emotionale Bergsteigetour, deren großartiger Schreibstil, viele passenden Details, tolle Zitate und große und kleine Alltagshelden aber für jede geweinte Träne entschädigen. Dringende Leseempfehlung für alle, die große Gefühle abseits der melodramatischen New-Adult-Wege lesen wollen!

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Veröffentlicht am 01.07.2021

Eine anstrengende, emotionale Bergsteigetour...

Only One Note
1

Als ich "Only One Letter" im April begeistert beendet hatte, war ich ein bisschen geknickt, dass ich bis zum Erscheinungstermin von "Only One Note" noch drei Monate warten musste. Als mich dann die Autorin ...

Als ich "Only One Letter" im April begeistert beendet hatte, war ich ein bisschen geknickt, dass ich bis zum Erscheinungstermin von "Only One Note" noch drei Monate warten musste. Als mich dann die Autorin angeschrieben hat, sie könnte noch ein zusätzliches Augenpaar bei der letzten Kontrolle vor der Freigabe zum Druck gebrauchen, habe ich nicht lange gefackelt und strahlend zugesagt. Aus diesem Arrangement entwickelt hat sich dann - da wir beinahe zeitgleich durch die Geschichte gegangen sind- ein total grandioser Buddyread, der mir im Endeffekt nicht nur den früheren Zugang zu Charles´ und Nells Geschichte, sondern auch eine Menge Hintergründe, Insider und Überlegungen zur Geschichte beschert hat. Vielen Dank, Anne, hier ist ein Lesertraum in Erfüllung gegangen!

So, doch nun zum Wesentlichen! Das Cover ist mit dem bordeauxrot eingefärbten Close-Up eines Paares und dem sehr großen Titel zwar sehr hübsch anzusehen, hat aber meiner Meinung nach keinen besonderen Wiedererkennungswert. Auch der Titel hat mich nicht unbedingt vom Hocker gehauen. "Only One Note" setzt das Reihenmotiv zwar wieder stimmig fort, ist mir aber wieder zu generisch. Dasselbe habe ich schon bei Band 1 und 2 kritisiert, positiv anmerken muss ich aber, dass die drei Teile der Reihe optisch ganz wunderbar zusammenpassen und im Bücherregal nebeneinander ein schönes Bild abgeben. Ebenfalls ein großes Plus gibt es dafür, dass es hier endlich eine ausführliche, dem Buch hinten angefügte Triggerwarnung gibt, die ich bei den Bänden zuvor etwas vermisst hatte.


"Die Rechnung war ziemlich simpel und logisch. Wer die Schuld trug, konnte nicht auch noch Entscheidungen treffen. Allerdings war ich mir ehrlich nicht sicher, ob das fair oder eher grausam war."


Der Rezension kurz voranstellen will ich noch, dass es sich hier um den dritten Teil einer Reihe handelt, deren drei Bände sich um EIN verbindendes Ereignis drehen. Die Ansatzpunkte der drei Geschichten, die sich darum entspinnen sind jedoch sehr unterschiedlich, genau wie das Alter der Figuren, die Stimmung der Geschichte und die Behandlungstiefe des Themas. Während der Vorfall in Band 1 den Höhepunkt der Geschichte darstellte, es dort viel um Träume, Chancen und neue Liebe ging und die Stimmung einer Rockstar-Romance entsprechend eher lockerer war, ging es im zweiten Band vermehrt um den Umgang mit dem Erlebten. Doch nicht nur Zeitpunkt und Themenschwerpunkt veränderten sind von Band 1 zu Band 2 - die beiden Protagonisten sind jünger, die Erzählart ganz anders, der Erzählton ernster. Ebenso unterscheidet sich auch Band 3 in vielen Punkten von seinen Vorgängern. In "Only One Note" geht es nun um Entfremdung, Verzeihen, Glück, Verlust und Trauer. Die Handlung setzt eine ganze Weile vor dem Ereignis an, spielt im irischen Belfast und die Figuren sind schon etwas älter und kennen sich seit 14 Jahren. Da die Geschichten sich alle nur minimal überschneiden, können sie auch wunderbar als Einzelbände gelesen werden.


"Kinder sind nicht die unfertigen, minderintelligenten Gnome, für die Erwachsene sie halten. Nell und ich wussten das aus eigener Erfahrung eigentlich ziemlich gut. Aber man vergisst ein paar Dinge, wenn man groß wird. Manchmal vergisst man sogar eine ganze Menge."


Dennoch: erst gemeinsam entfalten sie ein stimmiges Gesamtbild voller gegenseitiger Andeutungen, Begegnungen und Überschneidungen (Stichwort: Songzeilen am Ende jedes Bandes). Außerdem habe ich das Gefühl, dass die "Only One"-Reihe von Band zu Band besser geworden ist, ganz so, als hätte sich die Autorin mit jedem Teil etwas von der typischen Romanze gelöst und mehr zu ihrer eigenen Form gefunden. Was den Aufbau ihrer einzelnen Geschichte und die Einstiege in die Kapitel angeht, hat sich Anne Goldberg bei jedem ihrer Romane etwas anderes überlegt. Bei "Only One Song" waren es Textnachrichten, die einen geheimnisvollen Ausblick auf das Kommende geliefert haben, bei "Only One Letter" war es die Abwechslung von Gegenwart und eines rückblickenden "Logbuchs" und bei "Only One Note" sind die 29 Kapitelanfänge nun mit "Weißt du noch"-Post-its versehen. Die kurzen Erinnerungsschnipsel zu Beginn jedes Kapitels verwirren zunächst noch, mit fortlaufender Handlung beginnen sie dann jedoch immer mehr zum Inhalt der jeweiligen Kapitel zu passen und die fragezeichenversehene Leerstellen im Kopf füllen sich mit immer mehr Szenen und Erinnerungen, die die Geschichte bis zu dem Punkt lebendiger machen, an dem klar wird, was dahinter steckt...


Erster Satz: "Shampoo, Duschgel, Bodylotion"


Doch ich greife zu weit vor: lasst uns erst noch kurz über den Beginn der Geschichte sprechen. Wir steigen nämlich sehr ungewohnt mit einem ordentlichen Fehltritt des männlichen Protagonisten und Erzählers Charles in die Geschichte ein. Wer jetzt denkt "oje, das ist ja denkbar ungünstig, wie soll eine solche Figur Sympathieträger werden?", der unterschätzt wie geschickt uns Anne Goldberg diese Figur ins Herz schmuggelt. Schon nach wenigen Kapiteln hatte ich Charles alles verziehen, was er seiner Verlobten Nell so unbedacht angetan hat und war hilflos verliebt in diesen reflektieren, feinfühligen Charakter, der mit seinen scharfsinnigen Beobachtungen, spannendem Input aus seinem Kommunikationspsychologie-Repertoire und einmaligen Charles-Zitaten jede Szene bereichert. Wie kann man jemanden, der Dinge sagt wie "Nicht jeden macht unüberwindbare Hilflosigkeit laut. Manche von uns werden leise" oder "Man kann von Fehlern halten, was man will, aber Fakt ist: Ein schlechtes Gewissen rückt manche Dinge wieder gerade. Prioritäten, zum Beispiel" oder "Zuweilen ist es erstaunlich, wie viel besser ich darin bin, Dinge richtig zu machen, wenn ich das mit dem Denken einfach überspringe." oder (setze hier jedes beliebige andere tolle Zitat von Charles ein - und davon gibt es eine Meeeeenge...) auch nicht lieben?


"Wir wollten es besser machen, schon vergessen? Wir wollten es verdammt noch mal perfekt machen. Es war über dreizehn Jahre her, dass wir uns das versprochen hatten. Doch wie gesagt – man vergisst sehr viel, wenn man erwachsen wird. Und viel zu oft das Wesentliche."


Sein Gegenpart ist die fröhliche Nell, die er schon seit der Schulzeit kennt und mit der er den Großteil seines Lebens verbracht hat. Allzu viel will ich Euch noch gar nicht über die beiden, ihre Beziehung, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft verraten, da viel der Handlung sich auf ebensolche Details stützt und auf der zwischenmenschlichen Ebene zwischen Nell und Charles abläuft. "Es sind die kleinen Dinge, nicht wahr? Es sind immer die kleinen Dinge." Egal, ob sie planen: "Wir machen viele kleine Monster, und mit denen reißen wir die Weltherrschaft an uns.", oder sich die kitschigsten Liebeserklärungen machen, wie "Du bist der Himmelsschein auf meinem Herzen. Du bist wie Gummibärchen, nur die roten. Du bist wie das größte Geschenk zu Weihnachten. Du bist wie das süßeste Hundebaby und wie von der Schaukel springen. Du bist wie, wenn der Stein fünf Mal über das Wasser hüpft und wie den ganzen Tag Fernsehen gucken dürfen." - Die beiden reden und schweigen, streiten und lieben, reflektieren und ignorieren, erinnern und vergessen (vor allem die Milch) und zeigen uns Lesern damit ein ums andere Mal, dass Liebe nicht perfekt sein muss um zu funktionieren.


"Aber …", setzte Nell noch mal an. "Das ist … Du hast ihn wirklich so lange aufgehoben." Nach dem Wieso fragte sie nicht. Sie kannte es. Im Prinzip wissen wir immer um das Wieso, denke ich. Mit der Zeit hören wir nur auf, darüber zu staunen. Dann helfen alte, knittrige Zettel mit vier Buchstaben. Und Erinnerungen an Dinge, die nie passiert sind."


Auch wenn man von Charles und Nell absieht, steckt "Only One Note" voller großer und kleiner Alltagshelden. Egal ob die Peter Harolds und Octis dieser Welt (sorry, ich musste einfach ein paar Insider einbauen), oder Nells beste Freundin Chris und deren fünfjährige Tochter Sadie, die den beiden in jeder Lebenslage zur Seite stehen - dieses Buch hat einige schrecklich liebenswerte Figuren, die uns darüber hinwegtrösten, dass die Autorin anscheinend Spaß daran hat, Wunden aufzureißen und ordentlich darin herumzurühren. Der bekannte Ausdruck "emotionale Achterbahnfahrt" trifft es hier nicht ganz. "Only One Note" ist eher eine emotionale Bergsteigetour. Wir beginnen ganz unten im Tal und kämpfen uns zusammen mit Nell und Charles Schritt für Schritt den Berg empor. Mit jeder Seite, mit jedem Konflikt, mit jeder Erinnerung können wir weiter in die Vergangenheit der beiden sehen und uns langsam auch eine gemeinsame Zukunft vorstellen. Geführt wird diese emotional anstrengende Wanderung durch den gewohnt intensiven, aber lockeren Schreibstil, der mit vielen wiederkehrenden Motiven, treffenden Beobachtungen und vielschichtigen Figuren glänzt. "Kein Melodrama, nur handfeste Gefühle, kein Glitzer, nur Konfetti", so hat die Autorin ihre Geschichte in unserem "Buddyread" bezeichnet und ich finde das trifft den Nagel genau auf den Kopf.


"Aber so verhält sich das wohl mit der Verlustangst. In ihrem Licht erhalten Kleinigkeiten ein fast schon erdrückendes Gewicht. Und sie werden zu schwer, um sie weit zu tragen."


Doch wie bei jeder Wanderung kann es natürlich nicht für immer nach oben gehen und durch den neu gewonnenen Weitblick sieht man nicht nur, woher man kommt, sondern erahnt auch, welchen Weg man noch gehen muss. Irgendwann ist man auf dem Gipfel angelangt und man weiß, dass es jetzt unvermeidbar wieder bergab gehen wird. Das ist das fieseste an der Geschichte: dass man als aufmerksamer Leser der Reihe schon früh weiß, in welche Richtung es sich bewegen wird und befürchtet, welche emotionale Zerstörung noch auf einen zukommen wird. Das tut der Spannung jedoch keinen Abbruch, sondern verstärkt sie eigentlich nur noch, da man gleichzeitig unbedingt wissen will, wie es enden wird, auf der anderen Seite aber niemals an eben jenem Ende abkommen würde.


"Ich weiß. Nell nippte an ihrer Flasche, und wieder verzog sie das Gesicht. Kurz dachte ich, dass wir mittlerweile sehr gut darin geworden waren, als Einheit vor dem Scherbenhaufen unserer Beziehung zu sitzen und dieses Chaos zu bewundern – in kollektiver Ratlosigkeit."


Das eigentliche Ende kommt dann genauso erbarmungslos dramatisch wie erwartet, ist dabei aber auch so authentisch und herzerwärmend, dass ich es nur als "schlimmschön" bezeichnen kann. Ich hasse es, ich bin aber auch so verliebt in die vielen Kleinigkeiten, die Anne Goldberg hier geschickt miteinbringt: die Zettel, die Wächter gegen die Albträume und die leise Andeutung, dass es auch nach der schlimmen siebten Welle immer weitergeht... "Only One Note" reiht sich somit in die Reihe der wenigen Bücher ein, die mich jemals richtig zum Weinen gebracht haben. Und so enden wir, wie wir begonnen haben: wieder unten am Boden, abgekämpft von dieser Erfahrung, aber auch glücklich, sie gemacht zu haben und mit leisem positiven Ausblick auf die nächste Tour... Ich bin dann auf jeden Fall wieder dabei!


"Mittlerweile glaube ich, dass Trauer aus beidem besteht – aus Momenten, die okay sind. Und aus solchen, an denen man erstickt. Nur die Aufteilung ist nicht immer fair."





Fazit:


Eine anstrengende, emotionale Bergsteigetour, deren großartiger Schreibstil, viele passenden Details, tolle Zitate und große und kleine Alltagshelden aber für jede geweinte Träne entschädigen. Dringende Leseempfehlung für alle, die große Gefühle abseits der melodramatischen New-Adult-Wege lesen wollen!

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