Eine einfühlsame und berührende Geschichte über Familie, Einsamkeit, Liebe und Orientierungslosigkeit!
Alles okay"Alles okay" ist einer dieser Romane, die zwar etwas mit einem anstellen, bei denen man aber dennoch nicht so recht weiß, was man von ihnen halten soll. Nina LaCour hat hier eine unbestreitbar einfühlsame ...
"Alles okay" ist einer dieser Romane, die zwar etwas mit einem anstellen, bei denen man aber dennoch nicht so recht weiß, was man von ihnen halten soll. Nina LaCour hat hier eine unbestreitbar einfühlsame und berührende Geschichte über Familie, Einsamkeit, Liebe und Orientierungslosigkeit geschrieben, die jedoch nicht ihr volles Potential ausschöpft.
„Das Problem beim Verdrängen ist, wenn die Wahrheit hochkommt, bist du nicht darauf vorbereitet.“
Das Cover passt unfassbar gut. Ein Mädchen zwischen irgendwo Meer und Wohnheimzimmer, vor der Welt versteckt, aber in die Ferne blickend, einsam träumend, still hoffend - der Verlag hat hier in Anlehnung an die Originalgestaltung den Nagel auf den Kopf getroffen und es geschafft, die Atmosphäre der Geschichte bildhaft und wunderschön darzustellen. Sehr schön sind auch die durch eine geschwungene Linie langgezogenen Kapitelanfänge, die die dreißig kurzen Kapitel miteinander verbinden. Das Triple der Gestaltungsperfektion wird dann durch den wunderbar passenden Titel komplettiert, der ebenfalls wie das Design glücklicherweise sehr nah am Original "We are okay" gehalten ist und perfekt zum Inhalt passt. Denn im Endeffekt geht es um eine junge Frau, die weit davon entfernt ist, "okay" zu sein, sich dies jedoch erst eingestehen und nach außen bewältigen muss.
Erster Satz: "Bevor Hannah ging, fragte sie noch einmal, ob wirklich alles okay sei."
"Alles okay" startet sehr zurückhaltend in das Leben von Marin, die über die Weihnachtszeit alleine im Studentenwohnheim verbleibt. Tütensuppen, Tee und Einsamkeit-Essays - das bestimmt ihr Alltag, bis ihre beste Freundin Mabel zu Besuch kommt, um zu versuchen, sie aus ihrer Lethargie zu reißen und herauszufinden, warum sie vor vier Monaten einfach abgehauen ist - mit nichts als ihrem Portemonnaie, ihrem Handy und einem Foto ihrer Mutter... Paradox ist am Einstieg in die Geschichte, dass die melancholische, unaufgeregte Stimmung sich sofort einstellt - nach wenigen Sätzen hat einen die bittersüße Stille und hallende Leere zwischen den Worten verschlungen -, die richtigen Gefühle der Protagonisten aber erst viel später auftauchen. Zwar fühlt sich Marin schon von Beginn an einsam und niedergeschlagen, hat ihre Gefühle jedoch sorgsam im Griff. Der Einstieg liest sich demnach so, als wäre eine dünne Membran zwischen einem selbst und all den verborgenen Emotionen und Gedanken, die in Marin unter der Oberfläche schwelen.
"Ich hatte die Traurigkeit verdrängt. Fand sie in Büchern. Weinte über Romane statt die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit war schnörkellos, bodenlos. Sie hatte keine poetische Sprache, keine gelben Schmetterlinge, keine epischen Regenfälle. In Wirklichkeit gab es keine Stadt unter Wasser, keine Generationen von Männern mit dem gleichen Namen, die dazu verdammt waren, immer die gleichen Fehler zu wiederholen. Die Wirklichkeit war tief genug, um darin zu ertrinken."
Während durch immer wieder auftauchende Rückblenden aus den letzten Jahren und Monaten langsam klar wird, was am Ende des Sommers passiert ist, wartet man auf den Moment, in dem der Schleier zerreißt und man zusammen mit Marin die ganzen Emotionen spürt, die sie tief in sich vergraben hat. Durch die vielen kleinen Puzzleteile, die durch die einzelnen Erinnerungsfetzen zusammengesetzt werden, wird die Ausgangslage der Protagonistin erst nach und nach erklärt. Das hatte leider zur Folge, dass ich zu Beginn gar nicht wusste, was ich nun mit der Protagonistin, der Stimmung der Handlung anfangen sollte. Klar, in dem besonderen Aufbau, der sich langsam auf die Enthüllung zuspitzenden Emotionalität, liegt ein Teil des Reizes des Romans und die Geschichte ist auch nicht so lang, dass wirkliche Längen aufkommen, in denen man damit spielt, die Geschichte abzubrechen, dennoch konnte mich der Beginn dadurch einfach nicht so sehr erreichen und ich war eher eine distanzierte Beobachterin dessen.
"Ich hoffe, du kriegst keinen Ärger", sagte ich, aber wie könnten wir Ärger kriegen? Wir waren verzaubert. Wir waren Strandgeschöpfe. Wie hatten die Taschen voller Schätze und einander auf der Haut."
Auch zwischen den einzelnen Rückblenden geschieht nicht allzu viel - "Alles okay" ist eher leise und handlungsarm erzählt, mit einem klaren Fokus auf den Gefühlen und Beziehungen der Figuren. Diese kamen jedoch leider über einen Großteil der Geschichte nicht ganz bei mir an. Ich habe zwar mit den beiden Mädchen mitgefühlt und mich gefragt, was damals denn geführt hat, dass sich Marin und Mabel nun in dieser Situation befinden, große Emotionen fehlten aber erstmal komplett. Um es mal mit Marins Worten auszudrücken: "Ich kann mir vorstellen, wie es wäre [...]. Nur spüren kann ich es nicht."
"Früher waren es nur Geschichten. Aber jetzt sickern sie ins Leben und werden immer schrecklicher. (...) Früher habe ich bei einer Geschichte geweint und das Buch zugeklappt und dann war es vorbei. Jetzt hallt alles nach, sitzt fest wie ein Splitter und eitert."
Umso mehr gefühlt habe ich die melancholische Stimmung, die zwischen behaglich und schmerzhaft, traurig auf die schöne Art und herzzerreißend tragisch schwankt. Alleine im Wohnheim, kurz vor Weihnachten, mitten in einem winterlichen Schneesturm - das Szenario ist geradezu prädestiniert für Einsamkeit, Verzweiflung und Traurigkeit, welche durch Nina LaCours poetische, ruhige Schreibweise auch sehr eindringlich transportiert werden. Ganz toll ist auch, dass die Autorin hier nicht nur zwei starke Frauenfiguren in den Vordergrund rückt, sondern auch die Liebe zwischen zwei besten Freundinnen, die langsam entdecken, dass sie auch mehr sein könnten, so unfassbar feinfühlig und lebensecht beschreibt, dass man keine Sekunde verpassen möchte. Dabei gibt es viele Stellen, bei denen es tief in mir Klick gemacht hat, leider jedoch auch einige Beschreibungen und Zustände, die nicht bei mir ankamen. Denn gleichzeitig gehen durch den Fokus auf Mabel und Marin potentiell spannende Nebenfiguren stark unter.
"Sie schließt die Augen. Ich sehe sie an. Ich wünsche ihr von Herzen alles Gute. Einen freundlichen Taxifahrer und kurze Warteschlange. Einen Flug ohne Turbulenzen mit einem freien Platz neben ihr. Wunderschöne Weihnachten. Ich wünsche ihr mehr Glück, als in einen Menschen passt. Ich wünsche ihr so viel Glück, dass es überläuft."
Der genaue Zeitpunkt, an dem der oben genannte Gefühlsschleier dann endlich zerriss, kann ich im Nachhinein gar nicht mehr festmachen. Sicher ist nur, dass mich das Ende so unfassbar berührt hat, dass mir die letzten 20 Seiten über fast permanent Tränen über die Wangen gelaufen sind. Alles, was zuvor nur entfernt zu erahnen war, bricht plötzlich über Marin und somit auch die LeserInnen herein und zerstört die gewahrte Distanz komplett. Doch kann das emotionale Ende über den eher ziellosen Start hinwegtäuschen? Was soll ich also nur von der Geschichte halten? Ist die inhaltliche Auflösung gegen Ende unter all den Emotionen nicht ein bisschen schwach (sowohl das Familiendrama als auch die Lösung an sich scheinen recht konstruiert, wenn man mit Abstand zurückblickt) für den ansonsten so nachdenklichen Roman? Sind die beiden starken Frauenfiguren und die Liebe zwischen zwei Mädchen, die von Freundinnen zu mehr werden genug, um das fast vollständige Fehlen von starken Nebenfiguren auszugleichen? Und über allem steht die Frage, was mir die Autorin mit dieser Geschichte sagen wollte. Ja, ich habe gefühlt, aber begriffen nicht wirklich. Deshalb gibt es von mir für diese ambivalente, wunderschöne Geschichte nur 4 statt 5 Sterne.
"Ratlosigkeit ist ein dunkler Ort. Ein Ort, den man schlecht ertragen kann. Aber ich schätze, wir verbringen den größten Teil unseres Lebens dort. Und ich schätze, wir sind alle dort, deshalb muss es vielleicht gar nicht so einsam sein. Vielleicht kann ich mich einleben, es mir gemütlich machen, mich an die Ungewissheit gewöhnen."
Fazit:
"Alles okay" ist eine einfühlsame und berührende Geschichte über Familie, Einsamkeit, Liebe und Orientierungslosigkeit, die jedoch wie der Roman selbst voll Höhen und Tiefen ist. Das Ende ist wahnsinnig ergreifend, die inhaltliche Auflösung jedoch eher schwach. Die Atmosphäre, die durch die Seiten sickert, ist so erdrückend, schwermütig und bittersüß, dass man gar nicht weiß, wohin mit sich. Dagegen bleiben die Emotionen der Hauptfigur bis kurz vor dem Ende eher unnahbar. Nina LaCours Erstling ist also ein Herzensbuch, auch wenn ich keine 5 Sterne geben kann.