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Veröffentlicht am 02.05.2021

Eine einfühlsame und berührende Geschichte über Familie, Einsamkeit, Liebe und Orientierungslosigkeit!

Alles okay
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"Alles okay" ist einer dieser Romane, die zwar etwas mit einem anstellen, bei denen man aber dennoch nicht so recht weiß, was man von ihnen halten soll. Nina LaCour hat hier eine unbestreitbar einfühlsame ...

"Alles okay" ist einer dieser Romane, die zwar etwas mit einem anstellen, bei denen man aber dennoch nicht so recht weiß, was man von ihnen halten soll. Nina LaCour hat hier eine unbestreitbar einfühlsame und berührende Geschichte über Familie, Einsamkeit, Liebe und Orientierungslosigkeit geschrieben, die jedoch nicht ihr volles Potential ausschöpft.


„Das Problem beim Verdrängen ist, wenn die Wahrheit hochkommt, bist du nicht darauf vorbereitet.“


Das Cover passt unfassbar gut. Ein Mädchen zwischen irgendwo Meer und Wohnheimzimmer, vor der Welt versteckt, aber in die Ferne blickend, einsam träumend, still hoffend - der Verlag hat hier in Anlehnung an die Originalgestaltung den Nagel auf den Kopf getroffen und es geschafft, die Atmosphäre der Geschichte bildhaft und wunderschön darzustellen. Sehr schön sind auch die durch eine geschwungene Linie langgezogenen Kapitelanfänge, die die dreißig kurzen Kapitel miteinander verbinden. Das Triple der Gestaltungsperfektion wird dann durch den wunderbar passenden Titel komplettiert, der ebenfalls wie das Design glücklicherweise sehr nah am Original "We are okay" gehalten ist und perfekt zum Inhalt passt. Denn im Endeffekt geht es um eine junge Frau, die weit davon entfernt ist, "okay" zu sein, sich dies jedoch erst eingestehen und nach außen bewältigen muss.


Erster Satz: "Bevor Hannah ging, fragte sie noch einmal, ob wirklich alles okay sei."


"Alles okay" startet sehr zurückhaltend in das Leben von Marin, die über die Weihnachtszeit alleine im Studentenwohnheim verbleibt. Tütensuppen, Tee und Einsamkeit-Essays - das bestimmt ihr Alltag, bis ihre beste Freundin Mabel zu Besuch kommt, um zu versuchen, sie aus ihrer Lethargie zu reißen und herauszufinden, warum sie vor vier Monaten einfach abgehauen ist - mit nichts als ihrem Portemonnaie, ihrem Handy und einem Foto ihrer Mutter... Paradox ist am Einstieg in die Geschichte, dass die melancholische, unaufgeregte Stimmung sich sofort einstellt - nach wenigen Sätzen hat einen die bittersüße Stille und hallende Leere zwischen den Worten verschlungen -, die richtigen Gefühle der Protagonisten aber erst viel später auftauchen. Zwar fühlt sich Marin schon von Beginn an einsam und niedergeschlagen, hat ihre Gefühle jedoch sorgsam im Griff. Der Einstieg liest sich demnach so, als wäre eine dünne Membran zwischen einem selbst und all den verborgenen Emotionen und Gedanken, die in Marin unter der Oberfläche schwelen.


"Ich hatte die Traurigkeit verdrängt. Fand sie in Büchern. Weinte über Romane statt die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit war schnörkellos, bodenlos. Sie hatte keine poetische Sprache, keine gelben Schmetterlinge, keine epischen Regenfälle. In Wirklichkeit gab es keine Stadt unter Wasser, keine Generationen von Männern mit dem gleichen Namen, die dazu verdammt waren, immer die gleichen Fehler zu wiederholen. Die Wirklichkeit war tief genug, um darin zu ertrinken."


Während durch immer wieder auftauchende Rückblenden aus den letzten Jahren und Monaten langsam klar wird, was am Ende des Sommers passiert ist, wartet man auf den Moment, in dem der Schleier zerreißt und man zusammen mit Marin die ganzen Emotionen spürt, die sie tief in sich vergraben hat. Durch die vielen kleinen Puzzleteile, die durch die einzelnen Erinnerungsfetzen zusammengesetzt werden, wird die Ausgangslage der Protagonistin erst nach und nach erklärt. Das hatte leider zur Folge, dass ich zu Beginn gar nicht wusste, was ich nun mit der Protagonistin, der Stimmung der Handlung anfangen sollte. Klar, in dem besonderen Aufbau, der sich langsam auf die Enthüllung zuspitzenden Emotionalität, liegt ein Teil des Reizes des Romans und die Geschichte ist auch nicht so lang, dass wirkliche Längen aufkommen, in denen man damit spielt, die Geschichte abzubrechen, dennoch konnte mich der Beginn dadurch einfach nicht so sehr erreichen und ich war eher eine distanzierte Beobachterin dessen.


"Ich hoffe, du kriegst keinen Ärger", sagte ich, aber wie könnten wir Ärger kriegen? Wir waren verzaubert. Wir waren Strandgeschöpfe. Wie hatten die Taschen voller Schätze und einander auf der Haut."


Auch zwischen den einzelnen Rückblenden geschieht nicht allzu viel - "Alles okay" ist eher leise und handlungsarm erzählt, mit einem klaren Fokus auf den Gefühlen und Beziehungen der Figuren. Diese kamen jedoch leider über einen Großteil der Geschichte nicht ganz bei mir an. Ich habe zwar mit den beiden Mädchen mitgefühlt und mich gefragt, was damals denn geführt hat, dass sich Marin und Mabel nun in dieser Situation befinden, große Emotionen fehlten aber erstmal komplett. Um es mal mit Marins Worten auszudrücken: "Ich kann mir vorstellen, wie es wäre [...]. Nur spüren kann ich es nicht."


"Früher waren es nur Geschichten. Aber jetzt sickern sie ins Leben und werden immer schrecklicher. (...) Früher habe ich bei einer Geschichte geweint und das Buch zugeklappt und dann war es vorbei. Jetzt hallt alles nach, sitzt fest wie ein Splitter und eitert."


Umso mehr gefühlt habe ich die melancholische Stimmung, die zwischen behaglich und schmerzhaft, traurig auf die schöne Art und herzzerreißend tragisch schwankt. Alleine im Wohnheim, kurz vor Weihnachten, mitten in einem winterlichen Schneesturm - das Szenario ist geradezu prädestiniert für Einsamkeit, Verzweiflung und Traurigkeit, welche durch Nina LaCours poetische, ruhige Schreibweise auch sehr eindringlich transportiert werden. Ganz toll ist auch, dass die Autorin hier nicht nur zwei starke Frauenfiguren in den Vordergrund rückt, sondern auch die Liebe zwischen zwei besten Freundinnen, die langsam entdecken, dass sie auch mehr sein könnten, so unfassbar feinfühlig und lebensecht beschreibt, dass man keine Sekunde verpassen möchte. Dabei gibt es viele Stellen, bei denen es tief in mir Klick gemacht hat, leider jedoch auch einige Beschreibungen und Zustände, die nicht bei mir ankamen. Denn gleichzeitig gehen durch den Fokus auf Mabel und Marin potentiell spannende Nebenfiguren stark unter.


"Sie schließt die Augen. Ich sehe sie an. Ich wünsche ihr von Herzen alles Gute. Einen freundlichen Taxifahrer und kurze Warteschlange. Einen Flug ohne Turbulenzen mit einem freien Platz neben ihr. Wunderschöne Weihnachten. Ich wünsche ihr mehr Glück, als in einen Menschen passt. Ich wünsche ihr so viel Glück, dass es überläuft."


Der genaue Zeitpunkt, an dem der oben genannte Gefühlsschleier dann endlich zerriss, kann ich im Nachhinein gar nicht mehr festmachen. Sicher ist nur, dass mich das Ende so unfassbar berührt hat, dass mir die letzten 20 Seiten über fast permanent Tränen über die Wangen gelaufen sind. Alles, was zuvor nur entfernt zu erahnen war, bricht plötzlich über Marin und somit auch die LeserInnen herein und zerstört die gewahrte Distanz komplett. Doch kann das emotionale Ende über den eher ziellosen Start hinwegtäuschen? Was soll ich also nur von der Geschichte halten? Ist die inhaltliche Auflösung gegen Ende unter all den Emotionen nicht ein bisschen schwach (sowohl das Familiendrama als auch die Lösung an sich scheinen recht konstruiert, wenn man mit Abstand zurückblickt) für den ansonsten so nachdenklichen Roman? Sind die beiden starken Frauenfiguren und die Liebe zwischen zwei Mädchen, die von Freundinnen zu mehr werden genug, um das fast vollständige Fehlen von starken Nebenfiguren auszugleichen? Und über allem steht die Frage, was mir die Autorin mit dieser Geschichte sagen wollte. Ja, ich habe gefühlt, aber begriffen nicht wirklich. Deshalb gibt es von mir für diese ambivalente, wunderschöne Geschichte nur 4 statt 5 Sterne.


"Ratlosigkeit ist ein dunkler Ort. Ein Ort, den man schlecht ertragen kann. Aber ich schätze, wir verbringen den größten Teil unseres Lebens dort. Und ich schätze, wir sind alle dort, deshalb muss es vielleicht gar nicht so einsam sein. Vielleicht kann ich mich einleben, es mir gemütlich machen, mich an die Ungewissheit gewöhnen."



Fazit:

"Alles okay" ist eine einfühlsame und berührende Geschichte über Familie, Einsamkeit, Liebe und Orientierungslosigkeit, die jedoch wie der Roman selbst voll Höhen und Tiefen ist. Das Ende ist wahnsinnig ergreifend, die inhaltliche Auflösung jedoch eher schwach. Die Atmosphäre, die durch die Seiten sickert, ist so erdrückend, schwermütig und bittersüß, dass man gar nicht weiß, wohin mit sich. Dagegen bleiben die Emotionen der Hauptfigur bis kurz vor dem Ende eher unnahbar. Nina LaCours Erstling ist also ein Herzensbuch, auch wenn ich keine 5 Sterne geben kann.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 02.05.2021

Eine einfühlsame und berührende Geschichte über Familie, Einsamkeit, Liebe und Orientierungslosigkeit!

Alles okay
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"Alles okay" ist einer dieser Romane, die zwar etwas mit einem anstellen, bei denen man aber dennoch nicht so recht weiß, was man von ihnen halten soll. Nina LaCour hat hier eine unbestreitbar einfühlsame ...

"Alles okay" ist einer dieser Romane, die zwar etwas mit einem anstellen, bei denen man aber dennoch nicht so recht weiß, was man von ihnen halten soll. Nina LaCour hat hier eine unbestreitbar einfühlsame und berührende Geschichte über Familie, Einsamkeit, Liebe und Orientierungslosigkeit geschrieben, die jedoch nicht ihr volles Potential ausschöpft.


„Das Problem beim Verdrängen ist, wenn die Wahrheit hochkommt, bist du nicht darauf vorbereitet.“


Das Cover passt unfassbar gut. Ein Mädchen zwischen irgendwo Meer und Wohnheimzimmer, vor der Welt versteckt, aber in die Ferne blickend, einsam träumend, still hoffend - der Verlag hat hier in Anlehnung an die Originalgestaltung den Nagel auf den Kopf getroffen und es geschafft, die Atmosphäre der Geschichte bildhaft und wunderschön darzustellen. Sehr schön sind auch die durch eine geschwungene Linie langgezogenen Kapitelanfänge, die die dreißig kurzen Kapitel miteinander verbinden. Das Triple der Gestaltungsperfektion wird dann durch den wunderbar passenden Titel komplettiert, der ebenfalls wie das Design glücklicherweise sehr nah am Original "We are okay" gehalten ist und perfekt zum Inhalt passt. Denn im Endeffekt geht es um eine junge Frau, die weit davon entfernt ist, "okay" zu sein, sich dies jedoch erst eingestehen und nach außen bewältigen muss.


Erster Satz: "Bevor Hannah ging, fragte sie noch einmal, ob wirklich alles okay sei."


"Alles okay" startet sehr zurückhaltend in das Leben von Marin, die über die Weihnachtszeit alleine im Studentenwohnheim verbleibt. Tütensuppen, Tee und Einsamkeit-Essays - das bestimmt ihr Alltag, bis ihre beste Freundin Mabel zu Besuch kommt, um zu versuchen, sie aus ihrer Lethargie zu reißen und herauszufinden, warum sie vor vier Monaten einfach abgehauen ist - mit nichts als ihrem Portemonnaie, ihrem Handy und einem Foto ihrer Mutter... Paradox ist am Einstieg in die Geschichte, dass die melancholische, unaufgeregte Stimmung sich sofort einstellt - nach wenigen Sätzen hat einen die bittersüße Stille und hallende Leere zwischen den Worten verschlungen -, die richtigen Gefühle der Protagonisten aber erst viel später auftauchen. Zwar fühlt sich Marin schon von Beginn an einsam und niedergeschlagen, hat ihre Gefühle jedoch sorgsam im Griff. Der Einstieg liest sich demnach so, als wäre eine dünne Membran zwischen einem selbst und all den verborgenen Emotionen und Gedanken, die in Marin unter der Oberfläche schwelen.


"Ich hatte die Traurigkeit verdrängt. Fand sie in Büchern. Weinte über Romane statt die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit war schnörkellos, bodenlos. Sie hatte keine poetische Sprache, keine gelben Schmetterlinge, keine epischen Regenfälle. In Wirklichkeit gab es keine Stadt unter Wasser, keine Generationen von Männern mit dem gleichen Namen, die dazu verdammt waren, immer die gleichen Fehler zu wiederholen. Die Wirklichkeit war tief genug, um darin zu ertrinken."


Während durch immer wieder auftauchende Rückblenden aus den letzten Jahren und Monaten langsam klar wird, was am Ende des Sommers passiert ist, wartet man auf den Moment, in dem der Schleier zerreißt und man zusammen mit Marin die ganzen Emotionen spürt, die sie tief in sich vergraben hat. Durch die vielen kleinen Puzzleteile, die durch die einzelnen Erinnerungsfetzen zusammengesetzt werden, wird die Ausgangslage der Protagonistin erst nach und nach erklärt. Das hatte leider zur Folge, dass ich zu Beginn gar nicht wusste, was ich nun mit der Protagonistin, der Stimmung der Handlung anfangen sollte. Klar, in dem besonderen Aufbau, der sich langsam auf die Enthüllung zuspitzenden Emotionalität, liegt ein Teil des Reizes des Romans und die Geschichte ist auch nicht so lang, dass wirkliche Längen aufkommen, in denen man damit spielt, die Geschichte abzubrechen, dennoch konnte mich der Beginn dadurch einfach nicht so sehr erreichen und ich war eher eine distanzierte Beobachterin dessen.


"Ich hoffe, du kriegst keinen Ärger", sagte ich, aber wie könnten wir Ärger kriegen? Wir waren verzaubert. Wir waren Strandgeschöpfe. Wie hatten die Taschen voller Schätze und einander auf der Haut."


Auch zwischen den einzelnen Rückblenden geschieht nicht allzu viel - "Alles okay" ist eher leise und handlungsarm erzählt, mit einem klaren Fokus auf den Gefühlen und Beziehungen der Figuren. Diese kamen jedoch leider über einen Großteil der Geschichte nicht ganz bei mir an. Ich habe zwar mit den beiden Mädchen mitgefühlt und mich gefragt, was damals denn geführt hat, dass sich Marin und Mabel nun in dieser Situation befinden, große Emotionen fehlten aber erstmal komplett. Um es mal mit Marins Worten auszudrücken: "Ich kann mir vorstellen, wie es wäre [...]. Nur spüren kann ich es nicht."


"Früher waren es nur Geschichten. Aber jetzt sickern sie ins Leben und werden immer schrecklicher. (...) Früher habe ich bei einer Geschichte geweint und das Buch zugeklappt und dann war es vorbei. Jetzt hallt alles nach, sitzt fest wie ein Splitter und eitert."


Umso mehr gefühlt habe ich die melancholische Stimmung, die zwischen behaglich und schmerzhaft, traurig auf die schöne Art und herzzerreißend tragisch schwankt. Alleine im Wohnheim, kurz vor Weihnachten, mitten in einem winterlichen Schneesturm - das Szenario ist geradezu prädestiniert für Einsamkeit, Verzweiflung und Traurigkeit, welche durch Nina LaCours poetische, ruhige Schreibweise auch sehr eindringlich transportiert werden. Ganz toll ist auch, dass die Autorin hier nicht nur zwei starke Frauenfiguren in den Vordergrund rückt, sondern auch die Liebe zwischen zwei besten Freundinnen, die langsam entdecken, dass sie auch mehr sein könnten, so unfassbar feinfühlig und lebensecht beschreibt, dass man keine Sekunde verpassen möchte. Dabei gibt es viele Stellen, bei denen es tief in mir Klick gemacht hat, leider jedoch auch einige Beschreibungen und Zustände, die nicht bei mir ankamen. Denn gleichzeitig gehen durch den Fokus auf Mabel und Marin potentiell spannende Nebenfiguren stark unter.


"Sie schließt die Augen. Ich sehe sie an. Ich wünsche ihr von Herzen alles Gute. Einen freundlichen Taxifahrer und kurze Warteschlange. Einen Flug ohne Turbulenzen mit einem freien Platz neben ihr. Wunderschöne Weihnachten. Ich wünsche ihr mehr Glück, als in einen Menschen passt. Ich wünsche ihr so viel Glück, dass es überläuft."


Der genaue Zeitpunkt, an dem der oben genannte Gefühlsschleier dann endlich zerriss, kann ich im Nachhinein gar nicht mehr festmachen. Sicher ist nur, dass mich das Ende so unfassbar berührt hat, dass mir die letzten 20 Seiten über fast permanent Tränen über die Wangen gelaufen sind. Alles, was zuvor nur entfernt zu erahnen war, bricht plötzlich über Marin und somit auch die LeserInnen herein und zerstört die gewahrte Distanz komplett. Doch kann das emotionale Ende über den eher ziellosen Start hinwegtäuschen? Was soll ich also nur von der Geschichte halten? Ist die inhaltliche Auflösung gegen Ende unter all den Emotionen nicht ein bisschen schwach (sowohl das Familiendrama als auch die Lösung an sich scheinen recht konstruiert, wenn man mit Abstand zurückblickt) für den ansonsten so nachdenklichen Roman? Sind die beiden starken Frauenfiguren und die Liebe zwischen zwei Mädchen, die von Freundinnen zu mehr werden genug, um das fast vollständige Fehlen von starken Nebenfiguren auszugleichen? Und über allem steht die Frage, was mir die Autorin mit dieser Geschichte sagen wollte. Ja, ich habe gefühlt, aber begriffen nicht wirklich. Deshalb gibt es von mir für diese ambivalente, wunderschöne Geschichte nur 4 statt 5 Sterne.


"Ratlosigkeit ist ein dunkler Ort. Ein Ort, den man schlecht ertragen kann. Aber ich schätze, wir verbringen den größten Teil unseres Lebens dort. Und ich schätze, wir sind alle dort, deshalb muss es vielleicht gar nicht so einsam sein. Vielleicht kann ich mich einleben, es mir gemütlich machen, mich an die Ungewissheit gewöhnen."



Fazit:

"Alles okay" ist eine einfühlsame und berührende Geschichte über Familie, Einsamkeit, Liebe und Orientierungslosigkeit, die jedoch wie der Roman selbst voll Höhen und Tiefen ist. Das Ende ist wahnsinnig ergreifend, die inhaltliche Auflösung jedoch eher schwach. Die Atmosphäre, die durch die Seiten sickert, ist so erdrückend, schwermütig und bittersüß, dass man gar nicht weiß, wohin mit sich. Dagegen bleiben die Emotionen der Hauptfigur bis kurz vor dem Ende eher unnahbar. Nina LaCours Erstling ist also ein Herzensbuch, auch wenn ich keine 5 Sterne geben kann.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 30.04.2021

Die moderne Umsetzung eines Schauermärchens...

Das wirkliche Leben
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Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose ...

Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose Preise gewonnen und in verschiedenen Ländern die Bestsellerlisten gestürmt. Auf dem Cover ist neben einem springenden pinken Hasen und gekritzeltem Titel vor allem eines abgebildet: Lobpreisungen. Neben dem vielversprechenden Titel "Die Sensation aus Frankreich" wecken vor allem die begeisterten Blurbs in den Leselaschen hohe Erwartungen. Normalerweise mache ich um Empfehlungen des Feuilletons eher einen großen Bogen, da mich selten Geschichten überzeugen, die Literaturprofessoren für hochwertig halten. Hier hat mich die Geschichte mit jeder Begegnung im Netz und in Buchhandlungen einfach nicht mehr losgelassen, sodass ich zum Erscheinungstermin des Taschenbuchs letzte Woche beschlossen habe, doch mal einen Blick hineinzuwerfen. Eine gute Entscheidung, wie es sich herausstellte...


"Geschichten sind dazu da, alles hineinzupacken, was uns Angst macht. Denn so könne wir uns sicher sein, dass es nicht im wirklichen Leben passiert."


"Das wirkliche Leben" ist mit seinen 240 Seiten schnell gelesen, sich eine Meinung dazu zu bilden und mit der Geschichte abzuschließen, dauert jedoch viel länger. Noch im Sog der spannenden Atmosphäre gefangen wollte ich einfach nur wissen, wie es für die Erzählerin am Ende ausgeht und habe mir unabsichtlich im Leserausch eine Nacht um die Ohren geschlagen. Die Gedanken zu Handlung, Figuren, Motiven und Moral der Geschichte kamen dann erst später - als ich eigentlich einschlafen wollte, mich das Gelesene aber nachhaltig beschäftigt hat. Allein dafür würde ich dem Roman schon gerne 5 Sterne geben, denn auch wenn wenig Schönes in der Geschichte zu finden ist, ist mir das Schicksal der Erzählerin so nahgegangen, dass ich es bestimmt lange nicht vergessen werde.


"Es gibt Leute, die verdüstern euch den Himmel, stehlen euer Lachen oder setzen sich mit ihrem ganzen Gewicht auf eure Schultern, um euch am Fliegen zu hindern. Von solchen Menschen haltet euch bloß fern."


Das lag nicht nur an den eindrücklichen Beschreibungen des Schreckens, den unsere Erzählerin hier erdulden muss. Missbrauch, Tierquälerei, häusliche Gewalt, eine familiäre Atmosphäre geprägt von Angst und Kälte - so wächst unsere junge Heldin (und diese Bezeichnung benutze ich hier ganz bewusst) heran. Nein, die Magie der Geschichte liegt vor allem in den leisen Tönen. Adeline Dieudonné nutzt hier die außergewöhnlich lebendige Ich-Perspektive eines Mädchens, das wir im Alter von 10 Jahren kennenlernen und begleiten, bis sie 15 Jahren alt ist. In vielen sehr kurzen Kapiteln und mit großen Zeitsprüngen sehen wir ihr zu, wie sie reift, lernt und erwachsen wird. Egal ob ihre erwachende Sexualität, die körperlichen Veränderungen in der Pubertät, die sich wandelnde Beziehung zu ihrem Bruder und ihren Eltern oder ihr sich veränderndes Verständnis von Zusammenhängen - tritt man einen kleinen Schritt zurück und betrachtet die Entwicklung der Protagonistin mit etwas Abstand, kann man beobachten, wie sich ihre Weltsicht, von der eines Kindes zu der einer Frau wandelt. Zuzusehen, wie sie schleichend ihre eigene Identität und auch die Kraft, die in ihr wohnt, entdeckt, gibt der Geschichte trotz der grausamen Handlung etwas Einfühlsames, Zartes, das wie eine Blume mitten im Schlachtfeld erblüht.


"Wenn Gilles lachte, und das tat er ständig, sag man seine Milchzähne blitzen. Sein Lachen wärmte mich jedes Mal wie ein kleines Stromkraftwerk. Ich bastelte Handpuppen aus alten Socken, erfand dazu lustige Geschichten und führte sie für ihn auf. oder ich kitzelte ihn. Einfach nur, um ihn lachen zu hören. denn Gilles´ Lachen konnte alle Wunden heilen."


Die kurzen Szenen, der fragmentierten Erzählweisen wirken dabei jedoch weniger wie ein beschleunigter Zeitraffer und mehr wie eine reflektorische Rückschau - diffus, mit fließenden Übergänge und überlappenden Szenen hat der Roman etwas Albtraumhaftes. Dabei tut es der Spannung überhaupt keinen Abbruch, dass "Das wirkliche Leben" nicht wirklich ausgearbeitete Wendungen oder ähnliches zu bieten hat. Die Geschichte hat es gar nicht nötig, durch Handlung einen Spannungsbogen aufzubauen. Das geschieht von ganz allein durch die schmerzlich-echte und doch bedrückende Atmosphäre der Geschichte. Zu Beginn maskiert das Kindsein, die Unbeschwertheit der Erzählerin noch, was wirklich vor geht, je älter sie jedoch wird, desto genauer werden ihre Beobachtungen und desto mehr wird sie selbst mit der Opferrolle konfrontiert. Das hat zur Folge, dass sich die Lage im Laufe der Handlung immer weiter zuspitzt und die Spannung auf eine klar ersichtliche Eskalation zutreibt.


"Ich liebte die Natur und ihren unerschütterlichen Gleichmut. Ich liebte es, wie präzise und unbeeindruckt sie ihren Plan von Überleben und Fortpflanzung durchzog, ganz egal, was bei uns zu Hause gerade los war. Mein Vater schlug meine Mutter zusammen – und den Vögeln war das egal. Ich fand das tröstlich. Ich fand es tröstlich, dass sie einfach weiter zwitscherten, dass die Bäume knarrten und der Wind in den Blättern der Kastanie rauschte. Ich war nur eine unbedeutende Zuschauerin bei dem Stück, das ununterbrochen aufgeführt wurde."


Die bedrückende Stimmung der Geschichte spiegelt sich auch im Setting wider. So gibt es im Haus einen "Raum der Kadaver", hinter dem Haus beginnt das "Galgenwäldchen" und das Siedlungsviertel, die "Demo" ist ein grauer, einheitlicher Klotz mit ausgehangenen Gardinen und vertrockneten Vorgärten. Dazu gesellen sich einige magisch-anmutende Elemente wie der Prototyp einer Fee, oder der Einfluss einer dämonenartigen Kreatur, die der Erzählerin helfen, Geschehende zu verarbeiten und deren Darstellungsform sich zusammen mit dem Entwicklungsstand der Hauptfigur ausdifferenziert. Die teilweise absurden, horrorartigen Vorkommnisse und einige Splatter-Elemente kann man also eher als Motive für das Aufwachsen und den Freiheitskampf der Hauptfigur auffassen und weniger als exemplarische Handlung im wörtlichen Sinn.


"Die Lehrer hatten aufgrund ihres Alters keinen Tatendrang mehr und bei meinen Mitschülern war schon vorauszusehen, dass mit den Jahren dasselbe passieren würde. Ein bisschen Akne, ein paar Bettgeschichten, Studium, Ehe, Kindern, Arbeit und schwupps! werden sie alt und zu nichts nutze gewesen sein. Ich dagegen wollte eine Marie Curie sein. Und darum hatte ich keine Zeit zu verlieren."


Unterstützt wird die daraus entstehende ambivalente Stimmung zwischen Unschuld und Schrecken durch die sehr körperliche, auf die Erzählerin zugeschnittene Sprache, die sich vieler Vergleiche aus der direkten Lebenswelt des Mädchens bedient. Interessant ist, dass Gefühle, Gerüche, Erlebnisse mit vielen körperlichen Umschreibungen erzählt werden und auch Vergleiche aus der Tierwelt omnipräsent sind (die Amöbe, die Hyäne, das Pferd, ...). Auch dass nur der Bruder der Hauptfigur Gilles und unwichtige Randfiguren wie ihr Physikprofessor, oder einer ihrer Nachbarn Derek einen Namen erhalten und sogar die Hauptfigur namenlos bleibt, ist einer der interessanten Erzählkniffe, der Autorin, mit dem sie gleichzeitig intime Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt der Hauptfigur ermöglicht, sie jedoch auch etwas auf Distanz hält. Neben dem Mädchen erhalten auch Vater, Mutter und andere Figuren wie "die Feder", "der Champion" oder "der Eismann" keine Namen und sind dementsprechend als eindimensionale Figur-Prototypen angelegt, die man mit einfachen Labels versehen kann. Der Vater ist das "böse Monster", die Mutter die "gehirnlose Amöbe", die Feder steht für die "perfekte Mutterfigur", die das Mädchen sich wünscht und der Champion ist eine Verschmelzung aus Vater- und sexuelle Projektionsfigur. Das mag auf den ersten Blick vielleicht oberflächlich und plakativ wirken, passt aber erstaunlich gut zur allgemeinen Machart des Romans.


"Ich mochte meinen Körper. Und das hatte nichts mit Selbstverliebtheit zu tun. Wenn er hässlich gewesen wäre, hätte ich ihn genauso gemocht. Ich mochte meinen Körper einfach, weil er ein Weggefährte war, der mich nie verraten würde. Und den ich beschützen musste."


Denn wirft man all die genannten Elemente - die rollenhaften Figuren, die klare Abgrenzung von Gut und Böse, das Auftauchen magischer Teilelemente, die vielen Tiervergleiche, die Ansätze einer Heldenreise, die blutrünstige Umsetzung und die klare Moral, die sich hinter den Worten versteckt - zusammen, wird klar, dass "Das wirkliche Leben" im Aufbau und inhaltlich stark an ein Schauermärchen erinnert. Diese Erkenntnis rückt diese verwirrende Geschichte voller Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke in ein ganz neues Licht und macht klar, dass hinter dem Entwurf der Autorin mehr steckt, als der Wunsch zu schockieren.


„Ich hatte keine Ahnung, ob es so etwas wie ein gelungenes Leben gab und was das genau beinhaltete. Aber ich wusste, dass ein Leben ohne Lachen, ohne Wahlmöglichkeiten und ohne Liebe ein vergeudetes war. Und deshalb erhoffte ich mir eine Geschichte, die mir erklärte, warum meine Mutter ihr Leben weggeworfen hatte.“


Viele Rezensenten kritisieren an dieser Stelle, dass etliche Aspekte des Romans nur angedeutet bleiben. So ist auf den 240 Seiten beispielsweise kein Platz für die zusätzliche Ausführung und Vertiefung von Figuren wie Mutter oder Vaters und auch die Beziehung der Erzählerin zum "Champion" wird hier nicht problematisiert. Das kommt meines Erachtens jedoch nicht dadurch zustande, dass die Autorin ausdrücken wollte, dass es keine Gründe hinter dem Verhalten der Eltern gibt, oder das, was der Champion und die Erzählerin machen, moralisch einwandfrei ist, sondern ist einfach der Limitationen der Perspektive geschuldet. "Das wirkliche Leben" ist durch die Erzählart stark von der Hauptfigur und deren Sicht auf die Welt abhängig, was den Umgang mit etlichen Themen auf ihre subjektive Perspektive beschränkt. Klar, dass zum Beispiel gerade Mutter und Vater sehr einseitig dargestellt sind, da die Erzählerin den Gesamtkontext und die Einflüsse auf die Entwicklung ihrer Eltern nicht sieht oder sehen kann. Auch dass wir hier keine richtige Traumaverarbeitung erleben und vieles im Umfeld sich sprunghaft verändert muss man zugunsten des eingängigen Figurenporträts zurückstellen. Ich kann verstehen, dass manchen Lesern etwas fehlt und man es als unangenehm empfinden kann, dass viele Dinge gegen Ende einfach so stehen gelassen werden. Ich denke jedoch, dass genau dies beabsichtigt war, um zu zeigen, dass unsere Hauptfigur noch lange nicht am Ende ihrer Entwicklung ist und eine Lösung vieler Fragen und Konflikte in diesem Kontext utopisch wäre. Fand ich die Geschichte schön zu lesen? Nein. Dennoch: "Das wirkliche Leben" ist hochspannend, tiefgründig und vor allem hinterlässt es einen bleibenden Eindruck, den ich nicht missen wollte.



Fazit
:

Adeline Dieudionnés Geschichte über Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke ist nicht nur hochspannend erzählt, sondern auch überraschend zart und einfühlsam. "Das wirkliche Leben" ist die moderne Umsetzung eines Schauermärchens, die die weibliche Opferrolle anprangert und nicht mehr loslässt!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 30.04.2021

Die moderne Umsetzung eines Schauermärchens...

Das wirkliche Leben
0

Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose ...

Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose Preise gewonnen und in verschiedenen Ländern die Bestsellerlisten gestürmt. Auf dem Cover ist neben einem springenden pinken Hasen und gekritzeltem Titel vor allem eines abgebildet: Lobpreisungen. Neben dem vielversprechenden Titel "Die Sensation aus Frankreich" wecken vor allem die begeisterten Blurbs in den Leselaschen hohe Erwartungen. Normalerweise mache ich um Empfehlungen des Feuilletons eher einen großen Bogen, da mich selten Geschichten überzeugen, die Literaturprofessoren für hochwertig halten. Hier hat mich die Geschichte mit jeder Begegnung im Netz und in Buchhandlungen einfach nicht mehr losgelassen, sodass ich zum Erscheinungstermin des Taschenbuchs letzte Woche beschlossen habe, doch mal einen Blick hineinzuwerfen. Eine gute Entscheidung, wie es sich herausstellte...


"Geschichten sind dazu da, alles hineinzupacken, was uns Angst macht. Denn so könne wir uns sicher sein, dass es nicht im wirklichen Leben passiert."


"Das wirkliche Leben" ist mit seinen 240 Seiten schnell gelesen, sich eine Meinung dazu zu bilden und mit der Geschichte abzuschließen, dauert jedoch viel länger. Noch im Sog der spannenden Atmosphäre gefangen wollte ich einfach nur wissen, wie es für die Erzählerin am Ende ausgeht und habe mir unabsichtlich im Leserausch eine Nacht um die Ohren geschlagen. Die Gedanken zu Handlung, Figuren, Motiven und Moral der Geschichte kamen dann erst später - als ich eigentlich einschlafen wollte, mich das Gelesene aber nachhaltig beschäftigt hat. Allein dafür würde ich dem Roman schon gerne 5 Sterne geben, denn auch wenn wenig Schönes in der Geschichte zu finden ist, ist mir das Schicksal der Erzählerin so nahgegangen, dass ich es bestimmt lange nicht vergessen werde.


"Es gibt Leute, die verdüstern euch den Himmel, stehlen euer Lachen oder setzen sich mit ihrem ganzen Gewicht auf eure Schultern, um euch am Fliegen zu hindern. Von solchen Menschen haltet euch bloß fern."


Das lag nicht nur an den eindrücklichen Beschreibungen des Schreckens, den unsere Erzählerin hier erdulden muss. Missbrauch, Tierquälerei, häusliche Gewalt, eine familiäre Atmosphäre geprägt von Angst und Kälte - so wächst unsere junge Heldin (und diese Bezeichnung benutze ich hier ganz bewusst) heran. Nein, die Magie der Geschichte liegt vor allem in den leisen Tönen. Adeline Dieudonné nutzt hier die außergewöhnlich lebendige Ich-Perspektive eines Mädchens, das wir im Alter von 10 Jahren kennenlernen und begleiten, bis sie 15 Jahren alt ist. In vielen sehr kurzen Kapiteln und mit großen Zeitsprüngen sehen wir ihr zu, wie sie reift, lernt und erwachsen wird. Egal ob ihre erwachende Sexualität, die körperlichen Veränderungen in der Pubertät, die sich wandelnde Beziehung zu ihrem Bruder und ihren Eltern oder ihr sich veränderndes Verständnis von Zusammenhängen - tritt man einen kleinen Schritt zurück und betrachtet die Entwicklung der Protagonistin mit etwas Abstand, kann man beobachten, wie sich ihre Weltsicht, von der eines Kindes zu der einer Frau wandelt. Zuzusehen, wie sie schleichend ihre eigene Identität und auch die Kraft, die in ihr wohnt, entdeckt, gibt der Geschichte trotz der grausamen Handlung etwas Einfühlsames, Zartes, das wie eine Blume mitten im Schlachtfeld erblüht.


"Wenn Gilles lachte, und das tat er ständig, sag man seine Milchzähne blitzen. Sein Lachen wärmte mich jedes Mal wie ein kleines Stromkraftwerk. Ich bastelte Handpuppen aus alten Socken, erfand dazu lustige Geschichten und führte sie für ihn auf. oder ich kitzelte ihn. Einfach nur, um ihn lachen zu hören. denn Gilles´ Lachen konnte alle Wunden heilen."


Die kurzen Szenen, der fragmentierten Erzählweisen wirken dabei jedoch weniger wie ein beschleunigter Zeitraffer und mehr wie eine reflektorische Rückschau - diffus, mit fließenden Übergänge und überlappenden Szenen hat der Roman etwas Albtraumhaftes. Dabei tut es der Spannung überhaupt keinen Abbruch, dass "Das wirkliche Leben" nicht wirklich ausgearbeitete Wendungen oder ähnliches zu bieten hat. Die Geschichte hat es gar nicht nötig, durch Handlung einen Spannungsbogen aufzubauen. Das geschieht von ganz allein durch die schmerzlich-echte und doch bedrückende Atmosphäre der Geschichte. Zu Beginn maskiert das Kindsein, die Unbeschwertheit der Erzählerin noch, was wirklich vor geht, je älter sie jedoch wird, desto genauer werden ihre Beobachtungen und desto mehr wird sie selbst mit der Opferrolle konfrontiert. Das hat zur Folge, dass sich die Lage im Laufe der Handlung immer weiter zuspitzt und die Spannung auf eine klar ersichtliche Eskalation zutreibt.


"Ich liebte die Natur und ihren unerschütterlichen Gleichmut. Ich liebte es, wie präzise und unbeeindruckt sie ihren Plan von Überleben und Fortpflanzung durchzog, ganz egal, was bei uns zu Hause gerade los war. Mein Vater schlug meine Mutter zusammen – und den Vögeln war das egal. Ich fand das tröstlich. Ich fand es tröstlich, dass sie einfach weiter zwitscherten, dass die Bäume knarrten und der Wind in den Blättern der Kastanie rauschte. Ich war nur eine unbedeutende Zuschauerin bei dem Stück, das ununterbrochen aufgeführt wurde."


Die bedrückende Stimmung der Geschichte spiegelt sich auch im Setting wider. So gibt es im Haus einen "Raum der Kadaver", hinter dem Haus beginnt das "Galgenwäldchen" und das Siedlungsviertel, die "Demo" ist ein grauer, einheitlicher Klotz mit ausgehangenen Gardinen und vertrockneten Vorgärten. Dazu gesellen sich einige magisch-anmutende Elemente wie der Prototyp einer Fee, oder der Einfluss einer dämonenartigen Kreatur, die der Erzählerin helfen, Geschehende zu verarbeiten und deren Darstellungsform sich zusammen mit dem Entwicklungsstand der Hauptfigur ausdifferenziert. Die teilweise absurden, horrorartigen Vorkommnisse und einige Splatter-Elemente kann man also eher als Motive für das Aufwachsen und den Freiheitskampf der Hauptfigur auffassen und weniger als exemplarische Handlung im wörtlichen Sinn.


"Die Lehrer hatten aufgrund ihres Alters keinen Tatendrang mehr und bei meinen Mitschülern war schon vorauszusehen, dass mit den Jahren dasselbe passieren würde. Ein bisschen Akne, ein paar Bettgeschichten, Studium, Ehe, Kindern, Arbeit und schwupps! werden sie alt und zu nichts nutze gewesen sein. Ich dagegen wollte eine Marie Curie sein. Und darum hatte ich keine Zeit zu verlieren."


Unterstützt wird die daraus entstehende ambivalente Stimmung zwischen Unschuld und Schrecken durch die sehr körperliche, auf die Erzählerin zugeschnittene Sprache, die sich vieler Vergleiche aus der direkten Lebenswelt des Mädchens bedient. Interessant ist, dass Gefühle, Gerüche, Erlebnisse mit vielen körperlichen Umschreibungen erzählt werden und auch Vergleiche aus der Tierwelt omnipräsent sind (die Amöbe, die Hyäne, das Pferd, ...). Auch dass nur der Bruder der Hauptfigur Gilles und unwichtige Randfiguren wie ihr Physikprofessor, oder einer ihrer Nachbarn Derek einen Namen erhalten und sogar die Hauptfigur namenlos bleibt, ist einer der interessanten Erzählkniffe, der Autorin, mit dem sie gleichzeitig intime Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt der Hauptfigur ermöglicht, sie jedoch auch etwas auf Distanz hält. Neben dem Mädchen erhalten auch Vater, Mutter und andere Figuren wie "die Feder", "der Champion" oder "der Eismann" keine Namen und sind dementsprechend als eindimensionale Figur-Prototypen angelegt, die man mit einfachen Labels versehen kann. Der Vater ist das "böse Monster", die Mutter die "gehirnlose Amöbe", die Feder steht für die "perfekte Mutterfigur", die das Mädchen sich wünscht und der Champion ist eine Verschmelzung aus Vater- und sexuelle Projektionsfigur. Das mag auf den ersten Blick vielleicht oberflächlich und plakativ wirken, passt aber erstaunlich gut zur allgemeinen Machart des Romans.


"Ich mochte meinen Körper. Und das hatte nichts mit Selbstverliebtheit zu tun. Wenn er hässlich gewesen wäre, hätte ich ihn genauso gemocht. Ich mochte meinen Körper einfach, weil er ein Weggefährte war, der mich nie verraten würde. Und den ich beschützen musste."


Denn wirft man all die genannten Elemente - die rollenhaften Figuren, die klare Abgrenzung von Gut und Böse, das Auftauchen magischer Teilelemente, die vielen Tiervergleiche, die Ansätze einer Heldenreise, die blutrünstige Umsetzung und die klare Moral, die sich hinter den Worten versteckt - zusammen, wird klar, dass "Das wirkliche Leben" im Aufbau und inhaltlich stark an ein Schauermärchen erinnert. Diese Erkenntnis rückt diese verwirrende Geschichte voller Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke in ein ganz neues Licht und macht klar, dass hinter dem Entwurf der Autorin mehr steckt, als der Wunsch zu schockieren.


„Ich hatte keine Ahnung, ob es so etwas wie ein gelungenes Leben gab und was das genau beinhaltete. Aber ich wusste, dass ein Leben ohne Lachen, ohne Wahlmöglichkeiten und ohne Liebe ein vergeudetes war. Und deshalb erhoffte ich mir eine Geschichte, die mir erklärte, warum meine Mutter ihr Leben weggeworfen hatte.“


Viele Rezensenten kritisieren an dieser Stelle, dass etliche Aspekte des Romans nur angedeutet bleiben. So ist auf den 240 Seiten beispielsweise kein Platz für die zusätzliche Ausführung und Vertiefung von Figuren wie Mutter oder Vaters und auch die Beziehung der Erzählerin zum "Champion" wird hier nicht problematisiert. Das kommt meines Erachtens jedoch nicht dadurch zustande, dass die Autorin ausdrücken wollte, dass es keine Gründe hinter dem Verhalten der Eltern gibt, oder das, was der Champion und die Erzählerin machen, moralisch einwandfrei ist, sondern ist einfach der Limitationen der Perspektive geschuldet. "Das wirkliche Leben" ist durch die Erzählart stark von der Hauptfigur und deren Sicht auf die Welt abhängig, was den Umgang mit etlichen Themen auf ihre subjektive Perspektive beschränkt. Klar, dass zum Beispiel gerade Mutter und Vater sehr einseitig dargestellt sind, da die Erzählerin den Gesamtkontext und die Einflüsse auf die Entwicklung ihrer Eltern nicht sieht oder sehen kann. Auch dass wir hier keine richtige Traumaverarbeitung erleben und vieles im Umfeld sich sprunghaft verändert muss man zugunsten des eingängigen Figurenporträts zurückstellen. Ich kann verstehen, dass manchen Lesern etwas fehlt und man es als unangenehm empfinden kann, dass viele Dinge gegen Ende einfach so stehen gelassen werden. Ich denke jedoch, dass genau dies beabsichtigt war, um zu zeigen, dass unsere Hauptfigur noch lange nicht am Ende ihrer Entwicklung ist und eine Lösung vieler Fragen und Konflikte in diesem Kontext utopisch wäre. Fand ich die Geschichte schön zu lesen? Nein. Dennoch: "Das wirkliche Leben" ist hochspannend, tiefgründig und vor allem hinterlässt es einen bleibenden Eindruck, den ich nicht missen wollte.



Fazit
:

Adeline Dieudionnés Geschichte über Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke ist nicht nur hochspannend erzählt, sondern auch überraschend zart und einfühlsam. "Das wirkliche Leben" ist die moderne Umsetzung eines Schauermärchens, die die weibliche Opferrolle anprangert und nicht mehr loslässt!

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Veröffentlicht am 30.04.2021

Die moderne Umsetzung eines Schauermärchens...

Das wirkliche Leben
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Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose ...

Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose Preise gewonnen und in verschiedenen Ländern die Bestsellerlisten gestürmt. Auf dem Cover ist neben einem springenden pinken Hasen und gekritzeltem Titel vor allem eines abgebildet: Lobpreisungen. Neben dem vielversprechenden Titel "Die Sensation aus Frankreich" wecken vor allem die begeisterten Blurbs in den Leselaschen hohe Erwartungen. Normalerweise mache ich um Empfehlungen des Feuilletons eher einen großen Bogen, da mich selten Geschichten überzeugen, die Literaturprofessoren für hochwertig halten. Hier hat mich die Geschichte mit jeder Begegnung im Netz und in Buchhandlungen einfach nicht mehr losgelassen, sodass ich zum Erscheinungstermin des Taschenbuchs letzte Woche beschlossen habe, doch mal einen Blick hineinzuwerfen. Eine gute Entscheidung, wie es sich herausstellte...


"Geschichten sind dazu da, alles hineinzupacken, was uns Angst macht. Denn so könne wir uns sicher sein, dass es nicht im wirklichen Leben passiert."


"Das wirkliche Leben" ist mit seinen 240 Seiten schnell gelesen, sich eine Meinung dazu zu bilden und mit der Geschichte abzuschließen, dauert jedoch viel länger. Noch im Sog der spannenden Atmosphäre gefangen wollte ich einfach nur wissen, wie es für die Erzählerin am Ende ausgeht und habe mir unabsichtlich im Leserausch eine Nacht um die Ohren geschlagen. Die Gedanken zu Handlung, Figuren, Motiven und Moral der Geschichte kamen dann erst später - als ich eigentlich einschlafen wollte, mich das Gelesene aber nachhaltig beschäftigt hat. Allein dafür würde ich dem Roman schon gerne 5 Sterne geben, denn auch wenn wenig Schönes in der Geschichte zu finden ist, ist mir das Schicksal der Erzählerin so nahgegangen, dass ich es bestimmt lange nicht vergessen werde.


"Es gibt Leute, die verdüstern euch den Himmel, stehlen euer Lachen oder setzen sich mit ihrem ganzen Gewicht auf eure Schultern, um euch am Fliegen zu hindern. Von solchen Menschen haltet euch bloß fern."


Das lag nicht nur an den eindrücklichen Beschreibungen des Schreckens, den unsere Erzählerin hier erdulden muss. Missbrauch, Tierquälerei, häusliche Gewalt, eine familiäre Atmosphäre geprägt von Angst und Kälte - so wächst unsere junge Heldin (und diese Bezeichnung benutze ich hier ganz bewusst) heran. Nein, die Magie der Geschichte liegt vor allem in den leisen Tönen. Adeline Dieudonné nutzt hier die außergewöhnlich lebendige Ich-Perspektive eines Mädchens, das wir im Alter von 10 Jahren kennenlernen und begleiten, bis sie 15 Jahren alt ist. In vielen sehr kurzen Kapiteln und mit großen Zeitsprüngen sehen wir ihr zu, wie sie reift, lernt und erwachsen wird. Egal ob ihre erwachende Sexualität, die körperlichen Veränderungen in der Pubertät, die sich wandelnde Beziehung zu ihrem Bruder und ihren Eltern oder ihr sich veränderndes Verständnis von Zusammenhängen - tritt man einen kleinen Schritt zurück und betrachtet die Entwicklung der Protagonistin mit etwas Abstand, kann man beobachten, wie sich ihre Weltsicht, von der eines Kindes zu der einer Frau wandelt. Zuzusehen, wie sie schleichend ihre eigene Identität und auch die Kraft, die in ihr wohnt, entdeckt, gibt der Geschichte trotz der grausamen Handlung etwas Einfühlsames, Zartes, das wie eine Blume mitten im Schlachtfeld erblüht.


"Wenn Gilles lachte, und das tat er ständig, sag man seine Milchzähne blitzen. Sein Lachen wärmte mich jedes Mal wie ein kleines Stromkraftwerk. Ich bastelte Handpuppen aus alten Socken, erfand dazu lustige Geschichten und führte sie für ihn auf. oder ich kitzelte ihn. Einfach nur, um ihn lachen zu hören. denn Gilles´ Lachen konnte alle Wunden heilen."


Die kurzen Szenen, der fragmentierten Erzählweisen wirken dabei jedoch weniger wie ein beschleunigter Zeitraffer und mehr wie eine reflektorische Rückschau - diffus, mit fließenden Übergänge und überlappenden Szenen hat der Roman etwas Albtraumhaftes. Dabei tut es der Spannung überhaupt keinen Abbruch, dass "Das wirkliche Leben" nicht wirklich ausgearbeitete Wendungen oder ähnliches zu bieten hat. Die Geschichte hat es gar nicht nötig, durch Handlung einen Spannungsbogen aufzubauen. Das geschieht von ganz allein durch die schmerzlich-echte und doch bedrückende Atmosphäre der Geschichte. Zu Beginn maskiert das Kindsein, die Unbeschwertheit der Erzählerin noch, was wirklich vor geht, je älter sie jedoch wird, desto genauer werden ihre Beobachtungen und desto mehr wird sie selbst mit der Opferrolle konfrontiert. Das hat zur Folge, dass sich die Lage im Laufe der Handlung immer weiter zuspitzt und die Spannung auf eine klar ersichtliche Eskalation zutreibt.


"Ich liebte die Natur und ihren unerschütterlichen Gleichmut. Ich liebte es, wie präzise und unbeeindruckt sie ihren Plan von Überleben und Fortpflanzung durchzog, ganz egal, was bei uns zu Hause gerade los war. Mein Vater schlug meine Mutter zusammen – und den Vögeln war das egal. Ich fand das tröstlich. Ich fand es tröstlich, dass sie einfach weiter zwitscherten, dass die Bäume knarrten und der Wind in den Blättern der Kastanie rauschte. Ich war nur eine unbedeutende Zuschauerin bei dem Stück, das ununterbrochen aufgeführt wurde."


Die bedrückende Stimmung der Geschichte spiegelt sich auch im Setting wider. So gibt es im Haus einen "Raum der Kadaver", hinter dem Haus beginnt das "Galgenwäldchen" und das Siedlungsviertel, die "Demo" ist ein grauer, einheitlicher Klotz mit ausgehangenen Gardinen und vertrockneten Vorgärten. Dazu gesellen sich einige magisch-anmutende Elemente wie der Prototyp einer Fee, oder der Einfluss einer dämonenartigen Kreatur, die der Erzählerin helfen, Geschehende zu verarbeiten und deren Darstellungsform sich zusammen mit dem Entwicklungsstand der Hauptfigur ausdifferenziert. Die teilweise absurden, horrorartigen Vorkommnisse und einige Splatter-Elemente kann man also eher als Motive für das Aufwachsen und den Freiheitskampf der Hauptfigur auffassen und weniger als exemplarische Handlung im wörtlichen Sinn.


"Die Lehrer hatten aufgrund ihres Alters keinen Tatendrang mehr und bei meinen Mitschülern war schon vorauszusehen, dass mit den Jahren dasselbe passieren würde. Ein bisschen Akne, ein paar Bettgeschichten, Studium, Ehe, Kindern, Arbeit und schwupps! werden sie alt und zu nichts nutze gewesen sein. Ich dagegen wollte eine Marie Curie sein. Und darum hatte ich keine Zeit zu verlieren."


Unterstützt wird die daraus entstehende ambivalente Stimmung zwischen Unschuld und Schrecken durch die sehr körperliche, auf die Erzählerin zugeschnittene Sprache, die sich vieler Vergleiche aus der direkten Lebenswelt des Mädchens bedient. Interessant ist, dass Gefühle, Gerüche, Erlebnisse mit vielen körperlichen Umschreibungen erzählt werden und auch Vergleiche aus der Tierwelt omnipräsent sind (die Amöbe, die Hyäne, das Pferd, ...). Auch dass nur der Bruder der Hauptfigur Gilles und unwichtige Randfiguren wie ihr Physikprofessor, oder einer ihrer Nachbarn Derek einen Namen erhalten und sogar die Hauptfigur namenlos bleibt, ist einer der interessanten Erzählkniffe, der Autorin, mit dem sie gleichzeitig intime Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt der Hauptfigur ermöglicht, sie jedoch auch etwas auf Distanz hält. Neben dem Mädchen erhalten auch Vater, Mutter und andere Figuren wie "die Feder", "der Champion" oder "der Eismann" keine Namen und sind dementsprechend als eindimensionale Figur-Prototypen angelegt, die man mit einfachen Labels versehen kann. Der Vater ist das "böse Monster", die Mutter die "gehirnlose Amöbe", die Feder steht für die "perfekte Mutterfigur", die das Mädchen sich wünscht und der Champion ist eine Verschmelzung aus Vater- und sexuelle Projektionsfigur. Das mag auf den ersten Blick vielleicht oberflächlich und plakativ wirken, passt aber erstaunlich gut zur allgemeinen Machart des Romans.


"Ich mochte meinen Körper. Und das hatte nichts mit Selbstverliebtheit zu tun. Wenn er hässlich gewesen wäre, hätte ich ihn genauso gemocht. Ich mochte meinen Körper einfach, weil er ein Weggefährte war, der mich nie verraten würde. Und den ich beschützen musste."


Denn wirft man all die genannten Elemente - die rollenhaften Figuren, die klare Abgrenzung von Gut und Böse, das Auftauchen magischer Teilelemente, die vielen Tiervergleiche, die Ansätze einer Heldenreise, die blutrünstige Umsetzung und die klare Moral, die sich hinter den Worten versteckt - zusammen, wird klar, dass "Das wirkliche Leben" im Aufbau und inhaltlich stark an ein Schauermärchen erinnert. Diese Erkenntnis rückt diese verwirrende Geschichte voller Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke in ein ganz neues Licht und macht klar, dass hinter dem Entwurf der Autorin mehr steckt, als der Wunsch zu schockieren.


„Ich hatte keine Ahnung, ob es so etwas wie ein gelungenes Leben gab und was das genau beinhaltete. Aber ich wusste, dass ein Leben ohne Lachen, ohne Wahlmöglichkeiten und ohne Liebe ein vergeudetes war. Und deshalb erhoffte ich mir eine Geschichte, die mir erklärte, warum meine Mutter ihr Leben weggeworfen hatte.“


Viele Rezensenten kritisieren an dieser Stelle, dass etliche Aspekte des Romans nur angedeutet bleiben. So ist auf den 240 Seiten beispielsweise kein Platz für die zusätzliche Ausführung und Vertiefung von Figuren wie Mutter oder Vaters und auch die Beziehung der Erzählerin zum "Champion" wird hier nicht problematisiert. Das kommt meines Erachtens jedoch nicht dadurch zustande, dass die Autorin ausdrücken wollte, dass es keine Gründe hinter dem Verhalten der Eltern gibt, oder das, was der Champion und die Erzählerin machen, moralisch einwandfrei ist, sondern ist einfach der Limitationen der Perspektive geschuldet. "Das wirkliche Leben" ist durch die Erzählart stark von der Hauptfigur und deren Sicht auf die Welt abhängig, was den Umgang mit etlichen Themen auf ihre subjektive Perspektive beschränkt. Klar, dass zum Beispiel gerade Mutter und Vater sehr einseitig dargestellt sind, da die Erzählerin den Gesamtkontext und die Einflüsse auf die Entwicklung ihrer Eltern nicht sieht oder sehen kann. Auch dass wir hier keine richtige Traumaverarbeitung erleben und vieles im Umfeld sich sprunghaft verändert muss man zugunsten des eingängigen Figurenporträts zurückstellen. Ich kann verstehen, dass manchen Lesern etwas fehlt und man es als unangenehm empfinden kann, dass viele Dinge gegen Ende einfach so stehen gelassen werden. Ich denke jedoch, dass genau dies beabsichtigt war, um zu zeigen, dass unsere Hauptfigur noch lange nicht am Ende ihrer Entwicklung ist und eine Lösung vieler Fragen und Konflikte in diesem Kontext utopisch wäre. Fand ich die Geschichte schön zu lesen? Nein. Dennoch: "Das wirkliche Leben" ist hochspannend, tiefgründig und vor allem hinterlässt es einen bleibenden Eindruck, den ich nicht missen wollte.



Fazit
:

Adeline Dieudionnés Geschichte über Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke ist nicht nur hochspannend erzählt, sondern auch überraschend zart und einfühlsam. "Das wirkliche Leben" ist die moderne Umsetzung eines Schauermärchens, die die weibliche Opferrolle anprangert und nicht mehr loslässt!

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