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Veröffentlicht am 30.04.2021

Die moderne Umsetzung eines Schauermärchens...

Das wirkliche Leben
0

Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose ...

Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose Preise gewonnen und in verschiedenen Ländern die Bestsellerlisten gestürmt. Auf dem Cover ist neben einem springenden pinken Hasen und gekritzeltem Titel vor allem eines abgebildet: Lobpreisungen. Neben dem vielversprechenden Titel "Die Sensation aus Frankreich" wecken vor allem die begeisterten Blurbs in den Leselaschen hohe Erwartungen. Normalerweise mache ich um Empfehlungen des Feuilletons eher einen großen Bogen, da mich selten Geschichten überzeugen, die Literaturprofessoren für hochwertig halten. Hier hat mich die Geschichte mit jeder Begegnung im Netz und in Buchhandlungen einfach nicht mehr losgelassen, sodass ich zum Erscheinungstermin des Taschenbuchs letzte Woche beschlossen habe, doch mal einen Blick hineinzuwerfen. Eine gute Entscheidung, wie es sich herausstellte...


"Geschichten sind dazu da, alles hineinzupacken, was uns Angst macht. Denn so könne wir uns sicher sein, dass es nicht im wirklichen Leben passiert."


"Das wirkliche Leben" ist mit seinen 240 Seiten schnell gelesen, sich eine Meinung dazu zu bilden und mit der Geschichte abzuschließen, dauert jedoch viel länger. Noch im Sog der spannenden Atmosphäre gefangen wollte ich einfach nur wissen, wie es für die Erzählerin am Ende ausgeht und habe mir unabsichtlich im Leserausch eine Nacht um die Ohren geschlagen. Die Gedanken zu Handlung, Figuren, Motiven und Moral der Geschichte kamen dann erst später - als ich eigentlich einschlafen wollte, mich das Gelesene aber nachhaltig beschäftigt hat. Allein dafür würde ich dem Roman schon gerne 5 Sterne geben, denn auch wenn wenig Schönes in der Geschichte zu finden ist, ist mir das Schicksal der Erzählerin so nahgegangen, dass ich es bestimmt lange nicht vergessen werde.


"Es gibt Leute, die verdüstern euch den Himmel, stehlen euer Lachen oder setzen sich mit ihrem ganzen Gewicht auf eure Schultern, um euch am Fliegen zu hindern. Von solchen Menschen haltet euch bloß fern."


Das lag nicht nur an den eindrücklichen Beschreibungen des Schreckens, den unsere Erzählerin hier erdulden muss. Missbrauch, Tierquälerei, häusliche Gewalt, eine familiäre Atmosphäre geprägt von Angst und Kälte - so wächst unsere junge Heldin (und diese Bezeichnung benutze ich hier ganz bewusst) heran. Nein, die Magie der Geschichte liegt vor allem in den leisen Tönen. Adeline Dieudonné nutzt hier die außergewöhnlich lebendige Ich-Perspektive eines Mädchens, das wir im Alter von 10 Jahren kennenlernen und begleiten, bis sie 15 Jahren alt ist. In vielen sehr kurzen Kapiteln und mit großen Zeitsprüngen sehen wir ihr zu, wie sie reift, lernt und erwachsen wird. Egal ob ihre erwachende Sexualität, die körperlichen Veränderungen in der Pubertät, die sich wandelnde Beziehung zu ihrem Bruder und ihren Eltern oder ihr sich veränderndes Verständnis von Zusammenhängen - tritt man einen kleinen Schritt zurück und betrachtet die Entwicklung der Protagonistin mit etwas Abstand, kann man beobachten, wie sich ihre Weltsicht, von der eines Kindes zu der einer Frau wandelt. Zuzusehen, wie sie schleichend ihre eigene Identität und auch die Kraft, die in ihr wohnt, entdeckt, gibt der Geschichte trotz der grausamen Handlung etwas Einfühlsames, Zartes, das wie eine Blume mitten im Schlachtfeld erblüht.


"Wenn Gilles lachte, und das tat er ständig, sag man seine Milchzähne blitzen. Sein Lachen wärmte mich jedes Mal wie ein kleines Stromkraftwerk. Ich bastelte Handpuppen aus alten Socken, erfand dazu lustige Geschichten und führte sie für ihn auf. oder ich kitzelte ihn. Einfach nur, um ihn lachen zu hören. denn Gilles´ Lachen konnte alle Wunden heilen."


Die kurzen Szenen, der fragmentierten Erzählweisen wirken dabei jedoch weniger wie ein beschleunigter Zeitraffer und mehr wie eine reflektorische Rückschau - diffus, mit fließenden Übergänge und überlappenden Szenen hat der Roman etwas Albtraumhaftes. Dabei tut es der Spannung überhaupt keinen Abbruch, dass "Das wirkliche Leben" nicht wirklich ausgearbeitete Wendungen oder ähnliches zu bieten hat. Die Geschichte hat es gar nicht nötig, durch Handlung einen Spannungsbogen aufzubauen. Das geschieht von ganz allein durch die schmerzlich-echte und doch bedrückende Atmosphäre der Geschichte. Zu Beginn maskiert das Kindsein, die Unbeschwertheit der Erzählerin noch, was wirklich vor geht, je älter sie jedoch wird, desto genauer werden ihre Beobachtungen und desto mehr wird sie selbst mit der Opferrolle konfrontiert. Das hat zur Folge, dass sich die Lage im Laufe der Handlung immer weiter zuspitzt und die Spannung auf eine klar ersichtliche Eskalation zutreibt.


"Ich liebte die Natur und ihren unerschütterlichen Gleichmut. Ich liebte es, wie präzise und unbeeindruckt sie ihren Plan von Überleben und Fortpflanzung durchzog, ganz egal, was bei uns zu Hause gerade los war. Mein Vater schlug meine Mutter zusammen – und den Vögeln war das egal. Ich fand das tröstlich. Ich fand es tröstlich, dass sie einfach weiter zwitscherten, dass die Bäume knarrten und der Wind in den Blättern der Kastanie rauschte. Ich war nur eine unbedeutende Zuschauerin bei dem Stück, das ununterbrochen aufgeführt wurde."


Die bedrückende Stimmung der Geschichte spiegelt sich auch im Setting wider. So gibt es im Haus einen "Raum der Kadaver", hinter dem Haus beginnt das "Galgenwäldchen" und das Siedlungsviertel, die "Demo" ist ein grauer, einheitlicher Klotz mit ausgehangenen Gardinen und vertrockneten Vorgärten. Dazu gesellen sich einige magisch-anmutende Elemente wie der Prototyp einer Fee, oder der Einfluss einer dämonenartigen Kreatur, die der Erzählerin helfen, Geschehende zu verarbeiten und deren Darstellungsform sich zusammen mit dem Entwicklungsstand der Hauptfigur ausdifferenziert. Die teilweise absurden, horrorartigen Vorkommnisse und einige Splatter-Elemente kann man also eher als Motive für das Aufwachsen und den Freiheitskampf der Hauptfigur auffassen und weniger als exemplarische Handlung im wörtlichen Sinn.


"Die Lehrer hatten aufgrund ihres Alters keinen Tatendrang mehr und bei meinen Mitschülern war schon vorauszusehen, dass mit den Jahren dasselbe passieren würde. Ein bisschen Akne, ein paar Bettgeschichten, Studium, Ehe, Kindern, Arbeit und schwupps! werden sie alt und zu nichts nutze gewesen sein. Ich dagegen wollte eine Marie Curie sein. Und darum hatte ich keine Zeit zu verlieren."


Unterstützt wird die daraus entstehende ambivalente Stimmung zwischen Unschuld und Schrecken durch die sehr körperliche, auf die Erzählerin zugeschnittene Sprache, die sich vieler Vergleiche aus der direkten Lebenswelt des Mädchens bedient. Interessant ist, dass Gefühle, Gerüche, Erlebnisse mit vielen körperlichen Umschreibungen erzählt werden und auch Vergleiche aus der Tierwelt omnipräsent sind (die Amöbe, die Hyäne, das Pferd, ...). Auch dass nur der Bruder der Hauptfigur Gilles und unwichtige Randfiguren wie ihr Physikprofessor, oder einer ihrer Nachbarn Derek einen Namen erhalten und sogar die Hauptfigur namenlos bleibt, ist einer der interessanten Erzählkniffe, der Autorin, mit dem sie gleichzeitig intime Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt der Hauptfigur ermöglicht, sie jedoch auch etwas auf Distanz hält. Neben dem Mädchen erhalten auch Vater, Mutter und andere Figuren wie "die Feder", "der Champion" oder "der Eismann" keine Namen und sind dementsprechend als eindimensionale Figur-Prototypen angelegt, die man mit einfachen Labels versehen kann. Der Vater ist das "böse Monster", die Mutter die "gehirnlose Amöbe", die Feder steht für die "perfekte Mutterfigur", die das Mädchen sich wünscht und der Champion ist eine Verschmelzung aus Vater- und sexuelle Projektionsfigur. Das mag auf den ersten Blick vielleicht oberflächlich und plakativ wirken, passt aber erstaunlich gut zur allgemeinen Machart des Romans.


"Ich mochte meinen Körper. Und das hatte nichts mit Selbstverliebtheit zu tun. Wenn er hässlich gewesen wäre, hätte ich ihn genauso gemocht. Ich mochte meinen Körper einfach, weil er ein Weggefährte war, der mich nie verraten würde. Und den ich beschützen musste."


Denn wirft man all die genannten Elemente - die rollenhaften Figuren, die klare Abgrenzung von Gut und Böse, das Auftauchen magischer Teilelemente, die vielen Tiervergleiche, die Ansätze einer Heldenreise, die blutrünstige Umsetzung und die klare Moral, die sich hinter den Worten versteckt - zusammen, wird klar, dass "Das wirkliche Leben" im Aufbau und inhaltlich stark an ein Schauermärchen erinnert. Diese Erkenntnis rückt diese verwirrende Geschichte voller Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke in ein ganz neues Licht und macht klar, dass hinter dem Entwurf der Autorin mehr steckt, als der Wunsch zu schockieren.


„Ich hatte keine Ahnung, ob es so etwas wie ein gelungenes Leben gab und was das genau beinhaltete. Aber ich wusste, dass ein Leben ohne Lachen, ohne Wahlmöglichkeiten und ohne Liebe ein vergeudetes war. Und deshalb erhoffte ich mir eine Geschichte, die mir erklärte, warum meine Mutter ihr Leben weggeworfen hatte.“


Viele Rezensenten kritisieren an dieser Stelle, dass etliche Aspekte des Romans nur angedeutet bleiben. So ist auf den 240 Seiten beispielsweise kein Platz für die zusätzliche Ausführung und Vertiefung von Figuren wie Mutter oder Vaters und auch die Beziehung der Erzählerin zum "Champion" wird hier nicht problematisiert. Das kommt meines Erachtens jedoch nicht dadurch zustande, dass die Autorin ausdrücken wollte, dass es keine Gründe hinter dem Verhalten der Eltern gibt, oder das, was der Champion und die Erzählerin machen, moralisch einwandfrei ist, sondern ist einfach der Limitationen der Perspektive geschuldet. "Das wirkliche Leben" ist durch die Erzählart stark von der Hauptfigur und deren Sicht auf die Welt abhängig, was den Umgang mit etlichen Themen auf ihre subjektive Perspektive beschränkt. Klar, dass zum Beispiel gerade Mutter und Vater sehr einseitig dargestellt sind, da die Erzählerin den Gesamtkontext und die Einflüsse auf die Entwicklung ihrer Eltern nicht sieht oder sehen kann. Auch dass wir hier keine richtige Traumaverarbeitung erleben und vieles im Umfeld sich sprunghaft verändert muss man zugunsten des eingängigen Figurenporträts zurückstellen. Ich kann verstehen, dass manchen Lesern etwas fehlt und man es als unangenehm empfinden kann, dass viele Dinge gegen Ende einfach so stehen gelassen werden. Ich denke jedoch, dass genau dies beabsichtigt war, um zu zeigen, dass unsere Hauptfigur noch lange nicht am Ende ihrer Entwicklung ist und eine Lösung vieler Fragen und Konflikte in diesem Kontext utopisch wäre. Fand ich die Geschichte schön zu lesen? Nein. Dennoch: "Das wirkliche Leben" ist hochspannend, tiefgründig und vor allem hinterlässt es einen bleibenden Eindruck, den ich nicht missen wollte.



Fazit
:

Adeline Dieudionnés Geschichte über Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke ist nicht nur hochspannend erzählt, sondern auch überraschend zart und einfühlsam. "Das wirkliche Leben" ist die moderne Umsetzung eines Schauermärchens, die die weibliche Opferrolle anprangert und nicht mehr loslässt!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 30.04.2021

Die moderne Umsetzung eines Schauermärchens...

Das wirkliche Leben
0

Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose ...

Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose Preise gewonnen und in verschiedenen Ländern die Bestsellerlisten gestürmt. Auf dem Cover ist neben einem springenden pinken Hasen und gekritzeltem Titel vor allem eines abgebildet: Lobpreisungen. Neben dem vielversprechenden Titel "Die Sensation aus Frankreich" wecken vor allem die begeisterten Blurbs in den Leselaschen hohe Erwartungen. Normalerweise mache ich um Empfehlungen des Feuilletons eher einen großen Bogen, da mich selten Geschichten überzeugen, die Literaturprofessoren für hochwertig halten. Hier hat mich die Geschichte mit jeder Begegnung im Netz und in Buchhandlungen einfach nicht mehr losgelassen, sodass ich zum Erscheinungstermin des Taschenbuchs letzte Woche beschlossen habe, doch mal einen Blick hineinzuwerfen. Eine gute Entscheidung, wie es sich herausstellte...


"Geschichten sind dazu da, alles hineinzupacken, was uns Angst macht. Denn so könne wir uns sicher sein, dass es nicht im wirklichen Leben passiert."


"Das wirkliche Leben" ist mit seinen 240 Seiten schnell gelesen, sich eine Meinung dazu zu bilden und mit der Geschichte abzuschließen, dauert jedoch viel länger. Noch im Sog der spannenden Atmosphäre gefangen wollte ich einfach nur wissen, wie es für die Erzählerin am Ende ausgeht und habe mir unabsichtlich im Leserausch eine Nacht um die Ohren geschlagen. Die Gedanken zu Handlung, Figuren, Motiven und Moral der Geschichte kamen dann erst später - als ich eigentlich einschlafen wollte, mich das Gelesene aber nachhaltig beschäftigt hat. Allein dafür würde ich dem Roman schon gerne 5 Sterne geben, denn auch wenn wenig Schönes in der Geschichte zu finden ist, ist mir das Schicksal der Erzählerin so nahgegangen, dass ich es bestimmt lange nicht vergessen werde.


"Es gibt Leute, die verdüstern euch den Himmel, stehlen euer Lachen oder setzen sich mit ihrem ganzen Gewicht auf eure Schultern, um euch am Fliegen zu hindern. Von solchen Menschen haltet euch bloß fern."


Das lag nicht nur an den eindrücklichen Beschreibungen des Schreckens, den unsere Erzählerin hier erdulden muss. Missbrauch, Tierquälerei, häusliche Gewalt, eine familiäre Atmosphäre geprägt von Angst und Kälte - so wächst unsere junge Heldin (und diese Bezeichnung benutze ich hier ganz bewusst) heran. Nein, die Magie der Geschichte liegt vor allem in den leisen Tönen. Adeline Dieudonné nutzt hier die außergewöhnlich lebendige Ich-Perspektive eines Mädchens, das wir im Alter von 10 Jahren kennenlernen und begleiten, bis sie 15 Jahren alt ist. In vielen sehr kurzen Kapiteln und mit großen Zeitsprüngen sehen wir ihr zu, wie sie reift, lernt und erwachsen wird. Egal ob ihre erwachende Sexualität, die körperlichen Veränderungen in der Pubertät, die sich wandelnde Beziehung zu ihrem Bruder und ihren Eltern oder ihr sich veränderndes Verständnis von Zusammenhängen - tritt man einen kleinen Schritt zurück und betrachtet die Entwicklung der Protagonistin mit etwas Abstand, kann man beobachten, wie sich ihre Weltsicht, von der eines Kindes zu der einer Frau wandelt. Zuzusehen, wie sie schleichend ihre eigene Identität und auch die Kraft, die in ihr wohnt, entdeckt, gibt der Geschichte trotz der grausamen Handlung etwas Einfühlsames, Zartes, das wie eine Blume mitten im Schlachtfeld erblüht.


"Wenn Gilles lachte, und das tat er ständig, sag man seine Milchzähne blitzen. Sein Lachen wärmte mich jedes Mal wie ein kleines Stromkraftwerk. Ich bastelte Handpuppen aus alten Socken, erfand dazu lustige Geschichten und führte sie für ihn auf. oder ich kitzelte ihn. Einfach nur, um ihn lachen zu hören. denn Gilles´ Lachen konnte alle Wunden heilen."


Die kurzen Szenen, der fragmentierten Erzählweisen wirken dabei jedoch weniger wie ein beschleunigter Zeitraffer und mehr wie eine reflektorische Rückschau - diffus, mit fließenden Übergänge und überlappenden Szenen hat der Roman etwas Albtraumhaftes. Dabei tut es der Spannung überhaupt keinen Abbruch, dass "Das wirkliche Leben" nicht wirklich ausgearbeitete Wendungen oder ähnliches zu bieten hat. Die Geschichte hat es gar nicht nötig, durch Handlung einen Spannungsbogen aufzubauen. Das geschieht von ganz allein durch die schmerzlich-echte und doch bedrückende Atmosphäre der Geschichte. Zu Beginn maskiert das Kindsein, die Unbeschwertheit der Erzählerin noch, was wirklich vor geht, je älter sie jedoch wird, desto genauer werden ihre Beobachtungen und desto mehr wird sie selbst mit der Opferrolle konfrontiert. Das hat zur Folge, dass sich die Lage im Laufe der Handlung immer weiter zuspitzt und die Spannung auf eine klar ersichtliche Eskalation zutreibt.


"Ich liebte die Natur und ihren unerschütterlichen Gleichmut. Ich liebte es, wie präzise und unbeeindruckt sie ihren Plan von Überleben und Fortpflanzung durchzog, ganz egal, was bei uns zu Hause gerade los war. Mein Vater schlug meine Mutter zusammen – und den Vögeln war das egal. Ich fand das tröstlich. Ich fand es tröstlich, dass sie einfach weiter zwitscherten, dass die Bäume knarrten und der Wind in den Blättern der Kastanie rauschte. Ich war nur eine unbedeutende Zuschauerin bei dem Stück, das ununterbrochen aufgeführt wurde."


Die bedrückende Stimmung der Geschichte spiegelt sich auch im Setting wider. So gibt es im Haus einen "Raum der Kadaver", hinter dem Haus beginnt das "Galgenwäldchen" und das Siedlungsviertel, die "Demo" ist ein grauer, einheitlicher Klotz mit ausgehangenen Gardinen und vertrockneten Vorgärten. Dazu gesellen sich einige magisch-anmutende Elemente wie der Prototyp einer Fee, oder der Einfluss einer dämonenartigen Kreatur, die der Erzählerin helfen, Geschehende zu verarbeiten und deren Darstellungsform sich zusammen mit dem Entwicklungsstand der Hauptfigur ausdifferenziert. Die teilweise absurden, horrorartigen Vorkommnisse und einige Splatter-Elemente kann man also eher als Motive für das Aufwachsen und den Freiheitskampf der Hauptfigur auffassen und weniger als exemplarische Handlung im wörtlichen Sinn.


"Die Lehrer hatten aufgrund ihres Alters keinen Tatendrang mehr und bei meinen Mitschülern war schon vorauszusehen, dass mit den Jahren dasselbe passieren würde. Ein bisschen Akne, ein paar Bettgeschichten, Studium, Ehe, Kindern, Arbeit und schwupps! werden sie alt und zu nichts nutze gewesen sein. Ich dagegen wollte eine Marie Curie sein. Und darum hatte ich keine Zeit zu verlieren."


Unterstützt wird die daraus entstehende ambivalente Stimmung zwischen Unschuld und Schrecken durch die sehr körperliche, auf die Erzählerin zugeschnittene Sprache, die sich vieler Vergleiche aus der direkten Lebenswelt des Mädchens bedient. Interessant ist, dass Gefühle, Gerüche, Erlebnisse mit vielen körperlichen Umschreibungen erzählt werden und auch Vergleiche aus der Tierwelt omnipräsent sind (die Amöbe, die Hyäne, das Pferd, ...). Auch dass nur der Bruder der Hauptfigur Gilles und unwichtige Randfiguren wie ihr Physikprofessor, oder einer ihrer Nachbarn Derek einen Namen erhalten und sogar die Hauptfigur namenlos bleibt, ist einer der interessanten Erzählkniffe, der Autorin, mit dem sie gleichzeitig intime Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt der Hauptfigur ermöglicht, sie jedoch auch etwas auf Distanz hält. Neben dem Mädchen erhalten auch Vater, Mutter und andere Figuren wie "die Feder", "der Champion" oder "der Eismann" keine Namen und sind dementsprechend als eindimensionale Figur-Prototypen angelegt, die man mit einfachen Labels versehen kann. Der Vater ist das "böse Monster", die Mutter die "gehirnlose Amöbe", die Feder steht für die "perfekte Mutterfigur", die das Mädchen sich wünscht und der Champion ist eine Verschmelzung aus Vater- und sexuelle Projektionsfigur. Das mag auf den ersten Blick vielleicht oberflächlich und plakativ wirken, passt aber erstaunlich gut zur allgemeinen Machart des Romans.


"Ich mochte meinen Körper. Und das hatte nichts mit Selbstverliebtheit zu tun. Wenn er hässlich gewesen wäre, hätte ich ihn genauso gemocht. Ich mochte meinen Körper einfach, weil er ein Weggefährte war, der mich nie verraten würde. Und den ich beschützen musste."


Denn wirft man all die genannten Elemente - die rollenhaften Figuren, die klare Abgrenzung von Gut und Böse, das Auftauchen magischer Teilelemente, die vielen Tiervergleiche, die Ansätze einer Heldenreise, die blutrünstige Umsetzung und die klare Moral, die sich hinter den Worten versteckt - zusammen, wird klar, dass "Das wirkliche Leben" im Aufbau und inhaltlich stark an ein Schauermärchen erinnert. Diese Erkenntnis rückt diese verwirrende Geschichte voller Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke in ein ganz neues Licht und macht klar, dass hinter dem Entwurf der Autorin mehr steckt, als der Wunsch zu schockieren.


„Ich hatte keine Ahnung, ob es so etwas wie ein gelungenes Leben gab und was das genau beinhaltete. Aber ich wusste, dass ein Leben ohne Lachen, ohne Wahlmöglichkeiten und ohne Liebe ein vergeudetes war. Und deshalb erhoffte ich mir eine Geschichte, die mir erklärte, warum meine Mutter ihr Leben weggeworfen hatte.“


Viele Rezensenten kritisieren an dieser Stelle, dass etliche Aspekte des Romans nur angedeutet bleiben. So ist auf den 240 Seiten beispielsweise kein Platz für die zusätzliche Ausführung und Vertiefung von Figuren wie Mutter oder Vaters und auch die Beziehung der Erzählerin zum "Champion" wird hier nicht problematisiert. Das kommt meines Erachtens jedoch nicht dadurch zustande, dass die Autorin ausdrücken wollte, dass es keine Gründe hinter dem Verhalten der Eltern gibt, oder das, was der Champion und die Erzählerin machen, moralisch einwandfrei ist, sondern ist einfach der Limitationen der Perspektive geschuldet. "Das wirkliche Leben" ist durch die Erzählart stark von der Hauptfigur und deren Sicht auf die Welt abhängig, was den Umgang mit etlichen Themen auf ihre subjektive Perspektive beschränkt. Klar, dass zum Beispiel gerade Mutter und Vater sehr einseitig dargestellt sind, da die Erzählerin den Gesamtkontext und die Einflüsse auf die Entwicklung ihrer Eltern nicht sieht oder sehen kann. Auch dass wir hier keine richtige Traumaverarbeitung erleben und vieles im Umfeld sich sprunghaft verändert muss man zugunsten des eingängigen Figurenporträts zurückstellen. Ich kann verstehen, dass manchen Lesern etwas fehlt und man es als unangenehm empfinden kann, dass viele Dinge gegen Ende einfach so stehen gelassen werden. Ich denke jedoch, dass genau dies beabsichtigt war, um zu zeigen, dass unsere Hauptfigur noch lange nicht am Ende ihrer Entwicklung ist und eine Lösung vieler Fragen und Konflikte in diesem Kontext utopisch wäre. Fand ich die Geschichte schön zu lesen? Nein. Dennoch: "Das wirkliche Leben" ist hochspannend, tiefgründig und vor allem hinterlässt es einen bleibenden Eindruck, den ich nicht missen wollte.



Fazit
:

Adeline Dieudionnés Geschichte über Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke ist nicht nur hochspannend erzählt, sondern auch überraschend zart und einfühlsam. "Das wirkliche Leben" ist die moderne Umsetzung eines Schauermärchens, die die weibliche Opferrolle anprangert und nicht mehr loslässt!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 30.04.2021

Die moderne Umsetzung eines Schauermärchens...

Das wirkliche Leben
0

Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose ...

Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose Preise gewonnen und in verschiedenen Ländern die Bestsellerlisten gestürmt. Auf dem Cover ist neben einem springenden pinken Hasen und gekritzeltem Titel vor allem eines abgebildet: Lobpreisungen. Neben dem vielversprechenden Titel "Die Sensation aus Frankreich" wecken vor allem die begeisterten Blurbs in den Leselaschen hohe Erwartungen. Normalerweise mache ich um Empfehlungen des Feuilletons eher einen großen Bogen, da mich selten Geschichten überzeugen, die Literaturprofessoren für hochwertig halten. Hier hat mich die Geschichte mit jeder Begegnung im Netz und in Buchhandlungen einfach nicht mehr losgelassen, sodass ich zum Erscheinungstermin des Taschenbuchs letzte Woche beschlossen habe, doch mal einen Blick hineinzuwerfen. Eine gute Entscheidung, wie es sich herausstellte...


"Geschichten sind dazu da, alles hineinzupacken, was uns Angst macht. Denn so könne wir uns sicher sein, dass es nicht im wirklichen Leben passiert."


"Das wirkliche Leben" ist mit seinen 240 Seiten schnell gelesen, sich eine Meinung dazu zu bilden und mit der Geschichte abzuschließen, dauert jedoch viel länger. Noch im Sog der spannenden Atmosphäre gefangen wollte ich einfach nur wissen, wie es für die Erzählerin am Ende ausgeht und habe mir unabsichtlich im Leserausch eine Nacht um die Ohren geschlagen. Die Gedanken zu Handlung, Figuren, Motiven und Moral der Geschichte kamen dann erst später - als ich eigentlich einschlafen wollte, mich das Gelesene aber nachhaltig beschäftigt hat. Allein dafür würde ich dem Roman schon gerne 5 Sterne geben, denn auch wenn wenig Schönes in der Geschichte zu finden ist, ist mir das Schicksal der Erzählerin so nahgegangen, dass ich es bestimmt lange nicht vergessen werde.


"Es gibt Leute, die verdüstern euch den Himmel, stehlen euer Lachen oder setzen sich mit ihrem ganzen Gewicht auf eure Schultern, um euch am Fliegen zu hindern. Von solchen Menschen haltet euch bloß fern."


Das lag nicht nur an den eindrücklichen Beschreibungen des Schreckens, den unsere Erzählerin hier erdulden muss. Missbrauch, Tierquälerei, häusliche Gewalt, eine familiäre Atmosphäre geprägt von Angst und Kälte - so wächst unsere junge Heldin (und diese Bezeichnung benutze ich hier ganz bewusst) heran. Nein, die Magie der Geschichte liegt vor allem in den leisen Tönen. Adeline Dieudonné nutzt hier die außergewöhnlich lebendige Ich-Perspektive eines Mädchens, das wir im Alter von 10 Jahren kennenlernen und begleiten, bis sie 15 Jahren alt ist. In vielen sehr kurzen Kapiteln und mit großen Zeitsprüngen sehen wir ihr zu, wie sie reift, lernt und erwachsen wird. Egal ob ihre erwachende Sexualität, die körperlichen Veränderungen in der Pubertät, die sich wandelnde Beziehung zu ihrem Bruder und ihren Eltern oder ihr sich veränderndes Verständnis von Zusammenhängen - tritt man einen kleinen Schritt zurück und betrachtet die Entwicklung der Protagonistin mit etwas Abstand, kann man beobachten, wie sich ihre Weltsicht, von der eines Kindes zu der einer Frau wandelt. Zuzusehen, wie sie schleichend ihre eigene Identität und auch die Kraft, die in ihr wohnt, entdeckt, gibt der Geschichte trotz der grausamen Handlung etwas Einfühlsames, Zartes, das wie eine Blume mitten im Schlachtfeld erblüht.


"Wenn Gilles lachte, und das tat er ständig, sag man seine Milchzähne blitzen. Sein Lachen wärmte mich jedes Mal wie ein kleines Stromkraftwerk. Ich bastelte Handpuppen aus alten Socken, erfand dazu lustige Geschichten und führte sie für ihn auf. oder ich kitzelte ihn. Einfach nur, um ihn lachen zu hören. denn Gilles´ Lachen konnte alle Wunden heilen."


Die kurzen Szenen, der fragmentierten Erzählweisen wirken dabei jedoch weniger wie ein beschleunigter Zeitraffer und mehr wie eine reflektorische Rückschau - diffus, mit fließenden Übergänge und überlappenden Szenen hat der Roman etwas Albtraumhaftes. Dabei tut es der Spannung überhaupt keinen Abbruch, dass "Das wirkliche Leben" nicht wirklich ausgearbeitete Wendungen oder ähnliches zu bieten hat. Die Geschichte hat es gar nicht nötig, durch Handlung einen Spannungsbogen aufzubauen. Das geschieht von ganz allein durch die schmerzlich-echte und doch bedrückende Atmosphäre der Geschichte. Zu Beginn maskiert das Kindsein, die Unbeschwertheit der Erzählerin noch, was wirklich vor geht, je älter sie jedoch wird, desto genauer werden ihre Beobachtungen und desto mehr wird sie selbst mit der Opferrolle konfrontiert. Das hat zur Folge, dass sich die Lage im Laufe der Handlung immer weiter zuspitzt und die Spannung auf eine klar ersichtliche Eskalation zutreibt.


"Ich liebte die Natur und ihren unerschütterlichen Gleichmut. Ich liebte es, wie präzise und unbeeindruckt sie ihren Plan von Überleben und Fortpflanzung durchzog, ganz egal, was bei uns zu Hause gerade los war. Mein Vater schlug meine Mutter zusammen – und den Vögeln war das egal. Ich fand das tröstlich. Ich fand es tröstlich, dass sie einfach weiter zwitscherten, dass die Bäume knarrten und der Wind in den Blättern der Kastanie rauschte. Ich war nur eine unbedeutende Zuschauerin bei dem Stück, das ununterbrochen aufgeführt wurde."


Die bedrückende Stimmung der Geschichte spiegelt sich auch im Setting wider. So gibt es im Haus einen "Raum der Kadaver", hinter dem Haus beginnt das "Galgenwäldchen" und das Siedlungsviertel, die "Demo" ist ein grauer, einheitlicher Klotz mit ausgehangenen Gardinen und vertrockneten Vorgärten. Dazu gesellen sich einige magisch-anmutende Elemente wie der Prototyp einer Fee, oder der Einfluss einer dämonenartigen Kreatur, die der Erzählerin helfen, Geschehende zu verarbeiten und deren Darstellungsform sich zusammen mit dem Entwicklungsstand der Hauptfigur ausdifferenziert. Die teilweise absurden, horrorartigen Vorkommnisse und einige Splatter-Elemente kann man also eher als Motive für das Aufwachsen und den Freiheitskampf der Hauptfigur auffassen und weniger als exemplarische Handlung im wörtlichen Sinn.


"Die Lehrer hatten aufgrund ihres Alters keinen Tatendrang mehr und bei meinen Mitschülern war schon vorauszusehen, dass mit den Jahren dasselbe passieren würde. Ein bisschen Akne, ein paar Bettgeschichten, Studium, Ehe, Kindern, Arbeit und schwupps! werden sie alt und zu nichts nutze gewesen sein. Ich dagegen wollte eine Marie Curie sein. Und darum hatte ich keine Zeit zu verlieren."


Unterstützt wird die daraus entstehende ambivalente Stimmung zwischen Unschuld und Schrecken durch die sehr körperliche, auf die Erzählerin zugeschnittene Sprache, die sich vieler Vergleiche aus der direkten Lebenswelt des Mädchens bedient. Interessant ist, dass Gefühle, Gerüche, Erlebnisse mit vielen körperlichen Umschreibungen erzählt werden und auch Vergleiche aus der Tierwelt omnipräsent sind (die Amöbe, die Hyäne, das Pferd, ...). Auch dass nur der Bruder der Hauptfigur Gilles und unwichtige Randfiguren wie ihr Physikprofessor, oder einer ihrer Nachbarn Derek einen Namen erhalten und sogar die Hauptfigur namenlos bleibt, ist einer der interessanten Erzählkniffe, der Autorin, mit dem sie gleichzeitig intime Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt der Hauptfigur ermöglicht, sie jedoch auch etwas auf Distanz hält. Neben dem Mädchen erhalten auch Vater, Mutter und andere Figuren wie "die Feder", "der Champion" oder "der Eismann" keine Namen und sind dementsprechend als eindimensionale Figur-Prototypen angelegt, die man mit einfachen Labels versehen kann. Der Vater ist das "böse Monster", die Mutter die "gehirnlose Amöbe", die Feder steht für die "perfekte Mutterfigur", die das Mädchen sich wünscht und der Champion ist eine Verschmelzung aus Vater- und sexuelle Projektionsfigur. Das mag auf den ersten Blick vielleicht oberflächlich und plakativ wirken, passt aber erstaunlich gut zur allgemeinen Machart des Romans.


"Ich mochte meinen Körper. Und das hatte nichts mit Selbstverliebtheit zu tun. Wenn er hässlich gewesen wäre, hätte ich ihn genauso gemocht. Ich mochte meinen Körper einfach, weil er ein Weggefährte war, der mich nie verraten würde. Und den ich beschützen musste."


Denn wirft man all die genannten Elemente - die rollenhaften Figuren, die klare Abgrenzung von Gut und Böse, das Auftauchen magischer Teilelemente, die vielen Tiervergleiche, die Ansätze einer Heldenreise, die blutrünstige Umsetzung und die klare Moral, die sich hinter den Worten versteckt - zusammen, wird klar, dass "Das wirkliche Leben" im Aufbau und inhaltlich stark an ein Schauermärchen erinnert. Diese Erkenntnis rückt diese verwirrende Geschichte voller Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke in ein ganz neues Licht und macht klar, dass hinter dem Entwurf der Autorin mehr steckt, als der Wunsch zu schockieren.


„Ich hatte keine Ahnung, ob es so etwas wie ein gelungenes Leben gab und was das genau beinhaltete. Aber ich wusste, dass ein Leben ohne Lachen, ohne Wahlmöglichkeiten und ohne Liebe ein vergeudetes war. Und deshalb erhoffte ich mir eine Geschichte, die mir erklärte, warum meine Mutter ihr Leben weggeworfen hatte.“


Viele Rezensenten kritisieren an dieser Stelle, dass etliche Aspekte des Romans nur angedeutet bleiben. So ist auf den 240 Seiten beispielsweise kein Platz für die zusätzliche Ausführung und Vertiefung von Figuren wie Mutter oder Vaters und auch die Beziehung der Erzählerin zum "Champion" wird hier nicht problematisiert. Das kommt meines Erachtens jedoch nicht dadurch zustande, dass die Autorin ausdrücken wollte, dass es keine Gründe hinter dem Verhalten der Eltern gibt, oder das, was der Champion und die Erzählerin machen, moralisch einwandfrei ist, sondern ist einfach der Limitationen der Perspektive geschuldet. "Das wirkliche Leben" ist durch die Erzählart stark von der Hauptfigur und deren Sicht auf die Welt abhängig, was den Umgang mit etlichen Themen auf ihre subjektive Perspektive beschränkt. Klar, dass zum Beispiel gerade Mutter und Vater sehr einseitig dargestellt sind, da die Erzählerin den Gesamtkontext und die Einflüsse auf die Entwicklung ihrer Eltern nicht sieht oder sehen kann. Auch dass wir hier keine richtige Traumaverarbeitung erleben und vieles im Umfeld sich sprunghaft verändert muss man zugunsten des eingängigen Figurenporträts zurückstellen. Ich kann verstehen, dass manchen Lesern etwas fehlt und man es als unangenehm empfinden kann, dass viele Dinge gegen Ende einfach so stehen gelassen werden. Ich denke jedoch, dass genau dies beabsichtigt war, um zu zeigen, dass unsere Hauptfigur noch lange nicht am Ende ihrer Entwicklung ist und eine Lösung vieler Fragen und Konflikte in diesem Kontext utopisch wäre. Fand ich die Geschichte schön zu lesen? Nein. Dennoch: "Das wirkliche Leben" ist hochspannend, tiefgründig und vor allem hinterlässt es einen bleibenden Eindruck, den ich nicht missen wollte.



Fazit
:

Adeline Dieudionnés Geschichte über Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke ist nicht nur hochspannend erzählt, sondern auch überraschend zart und einfühlsam. "Das wirkliche Leben" ist die moderne Umsetzung eines Schauermärchens, die die weibliche Opferrolle anprangert und nicht mehr loslässt!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 30.04.2021

Die moderne Umsetzung eines Schauermärchens...

Das wirkliche Leben
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Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose ...

Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose Preise gewonnen und in verschiedenen Ländern die Bestsellerlisten gestürmt. Auf dem Cover ist neben einem springenden pinken Hasen und gekritzeltem Titel vor allem eines abgebildet: Lobpreisungen. Neben dem vielversprechenden Titel "Die Sensation aus Frankreich" wecken vor allem die begeisterten Blurbs in den Leselaschen hohe Erwartungen. Normalerweise mache ich um Empfehlungen des Feuilletons eher einen großen Bogen, da mich selten Geschichten überzeugen, die Literaturprofessoren für hochwertig halten. Hier hat mich die Geschichte mit jeder Begegnung im Netz und in Buchhandlungen einfach nicht mehr losgelassen, sodass ich zum Erscheinungstermin des Taschenbuchs letzte Woche beschlossen habe, doch mal einen Blick hineinzuwerfen. Eine gute Entscheidung, wie es sich herausstellte...


"Geschichten sind dazu da, alles hineinzupacken, was uns Angst macht. Denn so könne wir uns sicher sein, dass es nicht im wirklichen Leben passiert."


"Das wirkliche Leben" ist mit seinen 240 Seiten schnell gelesen, sich eine Meinung dazu zu bilden und mit der Geschichte abzuschließen, dauert jedoch viel länger. Noch im Sog der spannenden Atmosphäre gefangen wollte ich einfach nur wissen, wie es für die Erzählerin am Ende ausgeht und habe mir unabsichtlich im Leserausch eine Nacht um die Ohren geschlagen. Die Gedanken zu Handlung, Figuren, Motiven und Moral der Geschichte kamen dann erst später - als ich eigentlich einschlafen wollte, mich das Gelesene aber nachhaltig beschäftigt hat. Allein dafür würde ich dem Roman schon gerne 5 Sterne geben, denn auch wenn wenig Schönes in der Geschichte zu finden ist, ist mir das Schicksal der Erzählerin so nahgegangen, dass ich es bestimmt lange nicht vergessen werde.


"Es gibt Leute, die verdüstern euch den Himmel, stehlen euer Lachen oder setzen sich mit ihrem ganzen Gewicht auf eure Schultern, um euch am Fliegen zu hindern. Von solchen Menschen haltet euch bloß fern."


Das lag nicht nur an den eindrücklichen Beschreibungen des Schreckens, den unsere Erzählerin hier erdulden muss. Missbrauch, Tierquälerei, häusliche Gewalt, eine familiäre Atmosphäre geprägt von Angst und Kälte - so wächst unsere junge Heldin (und diese Bezeichnung benutze ich hier ganz bewusst) heran. Nein, die Magie der Geschichte liegt vor allem in den leisen Tönen. Adeline Dieudonné nutzt hier die außergewöhnlich lebendige Ich-Perspektive eines Mädchens, das wir im Alter von 10 Jahren kennenlernen und begleiten, bis sie 15 Jahren alt ist. In vielen sehr kurzen Kapiteln und mit großen Zeitsprüngen sehen wir ihr zu, wie sie reift, lernt und erwachsen wird. Egal ob ihre erwachende Sexualität, die körperlichen Veränderungen in der Pubertät, die sich wandelnde Beziehung zu ihrem Bruder und ihren Eltern oder ihr sich veränderndes Verständnis von Zusammenhängen - tritt man einen kleinen Schritt zurück und betrachtet die Entwicklung der Protagonistin mit etwas Abstand, kann man beobachten, wie sich ihre Weltsicht, von der eines Kindes zu der einer Frau wandelt. Zuzusehen, wie sie schleichend ihre eigene Identität und auch die Kraft, die in ihr wohnt, entdeckt, gibt der Geschichte trotz der grausamen Handlung etwas Einfühlsames, Zartes, das wie eine Blume mitten im Schlachtfeld erblüht.


"Wenn Gilles lachte, und das tat er ständig, sag man seine Milchzähne blitzen. Sein Lachen wärmte mich jedes Mal wie ein kleines Stromkraftwerk. Ich bastelte Handpuppen aus alten Socken, erfand dazu lustige Geschichten und führte sie für ihn auf. oder ich kitzelte ihn. Einfach nur, um ihn lachen zu hören. denn Gilles´ Lachen konnte alle Wunden heilen."


Die kurzen Szenen, der fragmentierten Erzählweisen wirken dabei jedoch weniger wie ein beschleunigter Zeitraffer und mehr wie eine reflektorische Rückschau - diffus, mit fließenden Übergänge und überlappenden Szenen hat der Roman etwas Albtraumhaftes. Dabei tut es der Spannung überhaupt keinen Abbruch, dass "Das wirkliche Leben" nicht wirklich ausgearbeitete Wendungen oder ähnliches zu bieten hat. Die Geschichte hat es gar nicht nötig, durch Handlung einen Spannungsbogen aufzubauen. Das geschieht von ganz allein durch die schmerzlich-echte und doch bedrückende Atmosphäre der Geschichte. Zu Beginn maskiert das Kindsein, die Unbeschwertheit der Erzählerin noch, was wirklich vor geht, je älter sie jedoch wird, desto genauer werden ihre Beobachtungen und desto mehr wird sie selbst mit der Opferrolle konfrontiert. Das hat zur Folge, dass sich die Lage im Laufe der Handlung immer weiter zuspitzt und die Spannung auf eine klar ersichtliche Eskalation zutreibt.


"Ich liebte die Natur und ihren unerschütterlichen Gleichmut. Ich liebte es, wie präzise und unbeeindruckt sie ihren Plan von Überleben und Fortpflanzung durchzog, ganz egal, was bei uns zu Hause gerade los war. Mein Vater schlug meine Mutter zusammen – und den Vögeln war das egal. Ich fand das tröstlich. Ich fand es tröstlich, dass sie einfach weiter zwitscherten, dass die Bäume knarrten und der Wind in den Blättern der Kastanie rauschte. Ich war nur eine unbedeutende Zuschauerin bei dem Stück, das ununterbrochen aufgeführt wurde."


Die bedrückende Stimmung der Geschichte spiegelt sich auch im Setting wider. So gibt es im Haus einen "Raum der Kadaver", hinter dem Haus beginnt das "Galgenwäldchen" und das Siedlungsviertel, die "Demo" ist ein grauer, einheitlicher Klotz mit ausgehangenen Gardinen und vertrockneten Vorgärten. Dazu gesellen sich einige magisch-anmutende Elemente wie der Prototyp einer Fee, oder der Einfluss einer dämonenartigen Kreatur, die der Erzählerin helfen, Geschehende zu verarbeiten und deren Darstellungsform sich zusammen mit dem Entwicklungsstand der Hauptfigur ausdifferenziert. Die teilweise absurden, horrorartigen Vorkommnisse und einige Splatter-Elemente kann man also eher als Motive für das Aufwachsen und den Freiheitskampf der Hauptfigur auffassen und weniger als exemplarische Handlung im wörtlichen Sinn.


"Die Lehrer hatten aufgrund ihres Alters keinen Tatendrang mehr und bei meinen Mitschülern war schon vorauszusehen, dass mit den Jahren dasselbe passieren würde. Ein bisschen Akne, ein paar Bettgeschichten, Studium, Ehe, Kindern, Arbeit und schwupps! werden sie alt und zu nichts nutze gewesen sein. Ich dagegen wollte eine Marie Curie sein. Und darum hatte ich keine Zeit zu verlieren."


Unterstützt wird die daraus entstehende ambivalente Stimmung zwischen Unschuld und Schrecken durch die sehr körperliche, auf die Erzählerin zugeschnittene Sprache, die sich vieler Vergleiche aus der direkten Lebenswelt des Mädchens bedient. Interessant ist, dass Gefühle, Gerüche, Erlebnisse mit vielen körperlichen Umschreibungen erzählt werden und auch Vergleiche aus der Tierwelt omnipräsent sind (die Amöbe, die Hyäne, das Pferd, ...). Auch dass nur der Bruder der Hauptfigur Gilles und unwichtige Randfiguren wie ihr Physikprofessor, oder einer ihrer Nachbarn Derek einen Namen erhalten und sogar die Hauptfigur namenlos bleibt, ist einer der interessanten Erzählkniffe, der Autorin, mit dem sie gleichzeitig intime Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt der Hauptfigur ermöglicht, sie jedoch auch etwas auf Distanz hält. Neben dem Mädchen erhalten auch Vater, Mutter und andere Figuren wie "die Feder", "der Champion" oder "der Eismann" keine Namen und sind dementsprechend als eindimensionale Figur-Prototypen angelegt, die man mit einfachen Labels versehen kann. Der Vater ist das "böse Monster", die Mutter die "gehirnlose Amöbe", die Feder steht für die "perfekte Mutterfigur", die das Mädchen sich wünscht und der Champion ist eine Verschmelzung aus Vater- und sexuelle Projektionsfigur. Das mag auf den ersten Blick vielleicht oberflächlich und plakativ wirken, passt aber erstaunlich gut zur allgemeinen Machart des Romans.


"Ich mochte meinen Körper. Und das hatte nichts mit Selbstverliebtheit zu tun. Wenn er hässlich gewesen wäre, hätte ich ihn genauso gemocht. Ich mochte meinen Körper einfach, weil er ein Weggefährte war, der mich nie verraten würde. Und den ich beschützen musste."


Denn wirft man all die genannten Elemente - die rollenhaften Figuren, die klare Abgrenzung von Gut und Böse, das Auftauchen magischer Teilelemente, die vielen Tiervergleiche, die Ansätze einer Heldenreise, die blutrünstige Umsetzung und die klare Moral, die sich hinter den Worten versteckt - zusammen, wird klar, dass "Das wirkliche Leben" im Aufbau und inhaltlich stark an ein Schauermärchen erinnert. Diese Erkenntnis rückt diese verwirrende Geschichte voller Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke in ein ganz neues Licht und macht klar, dass hinter dem Entwurf der Autorin mehr steckt, als der Wunsch zu schockieren.


„Ich hatte keine Ahnung, ob es so etwas wie ein gelungenes Leben gab und was das genau beinhaltete. Aber ich wusste, dass ein Leben ohne Lachen, ohne Wahlmöglichkeiten und ohne Liebe ein vergeudetes war. Und deshalb erhoffte ich mir eine Geschichte, die mir erklärte, warum meine Mutter ihr Leben weggeworfen hatte.“


Viele Rezensenten kritisieren an dieser Stelle, dass etliche Aspekte des Romans nur angedeutet bleiben. So ist auf den 240 Seiten beispielsweise kein Platz für die zusätzliche Ausführung und Vertiefung von Figuren wie Mutter oder Vaters und auch die Beziehung der Erzählerin zum "Champion" wird hier nicht problematisiert. Das kommt meines Erachtens jedoch nicht dadurch zustande, dass die Autorin ausdrücken wollte, dass es keine Gründe hinter dem Verhalten der Eltern gibt, oder das, was der Champion und die Erzählerin machen, moralisch einwandfrei ist, sondern ist einfach der Limitationen der Perspektive geschuldet. "Das wirkliche Leben" ist durch die Erzählart stark von der Hauptfigur und deren Sicht auf die Welt abhängig, was den Umgang mit etlichen Themen auf ihre subjektive Perspektive beschränkt. Klar, dass zum Beispiel gerade Mutter und Vater sehr einseitig dargestellt sind, da die Erzählerin den Gesamtkontext und die Einflüsse auf die Entwicklung ihrer Eltern nicht sieht oder sehen kann. Auch dass wir hier keine richtige Traumaverarbeitung erleben und vieles im Umfeld sich sprunghaft verändert muss man zugunsten des eingängigen Figurenporträts zurückstellen. Ich kann verstehen, dass manchen Lesern etwas fehlt und man es als unangenehm empfinden kann, dass viele Dinge gegen Ende einfach so stehen gelassen werden. Ich denke jedoch, dass genau dies beabsichtigt war, um zu zeigen, dass unsere Hauptfigur noch lange nicht am Ende ihrer Entwicklung ist und eine Lösung vieler Fragen und Konflikte in diesem Kontext utopisch wäre. Fand ich die Geschichte schön zu lesen? Nein. Dennoch: "Das wirkliche Leben" ist hochspannend, tiefgründig und vor allem hinterlässt es einen bleibenden Eindruck, den ich nicht missen wollte.



Fazit
:

Adeline Dieudionnés Geschichte über Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke ist nicht nur hochspannend erzählt, sondern auch überraschend zart und einfühlsam. "Das wirkliche Leben" ist die moderne Umsetzung eines Schauermärchens, die die weibliche Opferrolle anprangert und nicht mehr loslässt!

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Veröffentlicht am 30.04.2021

Locker, leicht, atmosphärisch und romantisch!

Und dann war es Liebe
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In einer der letzten Montagsfragen ging es um unsere liebsten Eskapismus-Bücher, die uns auch in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen und Reiseverboten an Traumorte entführen können. Letzte Woche durfte dank ...

In einer der letzten Montagsfragen ging es um unsere liebsten Eskapismus-Bücher, die uns auch in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen und Reiseverboten an Traumorte entführen können. Letzte Woche durfte dank des Vorabexemplars der Bastei Lübbe auch "Und dann war es Liebe" von Lorraine Brown, welches genau heute Buchgeburtstag feiert, dem Corona-Fernweg-Club beitreten. Dieser zuckersüße Liebesroman über den Selbstfindungsprozess einer Frau, die in einer der schönsten Großstädte der Welt strandet und zwischen Montmartre und dem Gare du Nord einen neuen Lebensweg einschlägt, entführt nicht nur in ein traumhaftes Setting, sondern ist auch so spritzig geschrieben, dass man ihn in einem Rutsch weglesen kann.

Allein die äußerliche Gestaltung finde ich schon wunderschön. Der Lübbe Verlag hat sich hier für einen kartonierten Umschlag mit Klappbroschur entschieden, der von oben bis unten mit dem winzigen Blueprint der Buchseiten bedruckt ist. Vor dem Hintergrund der klitzekleinen Schrift ist ein buntes Aquarell-Motiv zu sehen, das die Skyline einer Stadt und ein sich küssendes Paar zeigt. Der geschwungene Titel und die bunt angedeuteten Feuerwerke runden das Bild ab. Sehr schön ist außerdem, dass sich die hintere Klappbroschur als Buchschnitt über den Buchblock umschlagen lässt. Auch wenn ich die Gestaltung des deutschen Covers wirklich hinreißend finde, gefällt mir das Originalcover fast noch besser, da es mit dem angedeuteten Zugabteil, dem Eifelturm und dem Titel konkreter ist und besser zur Handlung passt.


Erster Satz: "Ich sprintete die Treppe zum Bahnhof Venezia Santa Lucia hinauf."


Die dreißigjährige Hannah ist eigentlich an einem Punkt in ihrem Leben angelangt, an dem all ihre Träume in greifbarer Nähe scheinen. Bei einer romantischen Reise nach Venedig mit ihrem reichen, gutaussehenden Freund hat sie einen Verlobungsring gefunden und sieht dem Rest ihres gemeinsamen Lebens mit Freunde entgegen. Simon kümmert sich pflichtbewusst um alles Organisatorische, würde sie entgegengesetzt zu ihrem Vater niemals im Stich lassen und gibt ihr die Sicherheit und Stabilität, die sie sich schon immer gewünscht hat. Doch als sie im Nachtzug nach Amsterdam, wo sie die Hochzeit von Simons Schwester besuchen wollen, in einen falschen Waggon einsteigt und morgens in Paris landet, ist plötzlich alles anders. Ohne Portemonnaie, Handy und Gepäck in einer fremden Stadt ist sie zum ersten Mal seit langem wieder komplett auf sich allein gestellt und entdeckt ihre spontane und abenteuerliche Seite, als der ebenfalls gestrandete Franzose Leo sie kurzerhand auf eine Stadttour einlädt, um die Zeit zum nächsten Zug nach Amsterdam zu überbrücken. Nicht nur der charmante Fremde und die plötzliche Vertrautheit zwischen den beiden stürzt sie in Verwirrung, auch auftauchende Ungereimtheiten in Simons Äußerungen bezüglich einer der Brautjungfern, lässt sie ihr Lebensentwurf überdenken. Zwischen Montmartre, dem Eifelturm und der Seine stellt sie sich die Frage, ob Sicherheit wirklich das ist, was sie sich wünscht...

Anders als der Titel es impliziert, ist "Und dann war es Liebe" keine epische, leidenschaftliche Liebesgeschichte. Im Vordergrund steht hier viel mehr unsere Protagonistin Hannah und deren Erkenntnisprozess. Wer ist sie, was wünscht sie sich und wer will sie sein? Diese Fragen stellen wir uns zusammen mit unserer Hauptfigur, während sie einen spontanen, wunderschönen Tag in der Stadt der Liebe erlebt. Zwar hat Hannah zwischen den vielen kleinen Stationen der Stadttour nicht besonders viel Zeit zum Grübeln, die Entwicklung vollzieht sich also eher unterschwellig. Durch Erinnerungen und Rückblenden reflektiert sie jedoch immer wieder ihr bisheriges Leben, was uns Lesern das Kennenlernen zusätzlich vereinfacht. Die Beziehung zu ihrer Mutter, ihrem Vater, die Anfänge ihrer Partnerschaft mit Simon, ihre Jugend und ihre Freundschaft zu Elli... Lorraine Brown erweitert durch diese Rückblenden geschickt den Erzählausschnitt und vervollständigt nach und nach das Puzzle um Hannahs Leben, ohne ihren Haupterzählstrang damit zu stören. Die etwas chaotische, schlecht organisierte Powerfrau ist mir dabei schnell sehr ans Herz gewachsen. Unser zweiter Protagonist, Léo bleibt hingegen leider relativ blass. Wir erfahren während der 332 Seiten nur recht wenig über ihn, da er sich Hannah gegenüber nicht so sehr öffnet und durch die Erzählperspektive viele Fragen ihn betreffend offenbleiben. Er funktioniert hier also eher als Anstoß, Stadtführer und interessante Bekanntschaft, sein eigenes Innenleben bleibt eher grob umrissen.


"Was auch immer ich brauchte, Simon fand einen Weg, es mir zu ermöglichen - ich musste ihn nur darum bitten. Aber mittlerweile wohnten wir zusammen und dachten darüber nach, den Rest unseres Lebens gemeinsam zu verbringen, und ich kam nicht umhin, mich zu fragen, ob Simon gekommen war und mich gerettet hatte, bevor ich überhaupt herausfinden konnte, ob ich es auch selbst geschafft hätte."


Dementsprechend im Hintergrund bleibt auch die Liebesgeschichte, die zwar leise angedeutet wird, dem Setting und der Selbstfindungsgeschichte der Protagonistin aber den Vortritt lässt. Auch wenn ich zwischen den beiden keine große Chemie gespürt habe, hat mir sehr gut gefallen, dass die Autorin ein behutsames und wohlüberlegtes Tempo vorlegt: hier geht es nicht zu schnell, nicht zu langsam, nichts ist unrealistisch, weit hergeholt oder langweilig. Als die Beiden sich das erste Mal sehen, ist sofort eine gegenseitige Faszination zu spüren und auch wenn sie wissen, dass sich ihre Wege bald wieder trennen würden, wollen sie den anderen noch nicht gehen lassen. Dadurch dass die gesamte Handlung nur an einem Tag passiert und die Protagonisten kaum 24 Stunden miteinander verbringen, ist das, was sie teilen intensiver, spontaner und ungehemmter als in anderen Liebesgeschichten. Hier sprühen zwar keine Funken und auch das Schmieden großer Zukunftspläne ist hier nicht zu finden. Stattdessen beobachten wir hier die allerersten Schritte eines Annäherungsprozesses und das sich langsam aufbauende Vertrauen, das entsteht, während sich zwei Fremde, die nicht damit rechnen, sich nochmal zu begegnen, das Herz ausschütten...

Die wenigen Seiten der Geschichte täuschen: durch die kompakte Erzählweise und das kurze Erzählintervall passiert hier eine ganze Menge und es wird garantiert nicht langweilig. Ein fröhliches Prickeln, kaum Zeit zum Nachdenken, die ständige Gegenwart des anderen und eine sich schleichend einstellende Nähe - So entwickelt sich die Liebe zwischen ihnen langsam Schritt für Schritt, sodass trotz der vielen Ereignisse eine gemütliche Ruhe über die Geschichte liegt. Mir gefällt, dass hier alles im Fluss ist - die Geschichte, die Beziehung, die Charaktere, die Dialoge - hier gibt es keine schlagfertigen Wortgefechte, die sich lesen, als hätten sie die Autorin Tage gekostet, sie sich auszudenken oder schwülstige Liebeserklärungen. Stattdessen schreibt Lorraine Brown charmant, modern, einfühlsam und einfach ECHT, sodass man ihr jede Wendung abnimmt, bis man mit dem offenen und recht plötzlichen, aber süßen Ende die Geschichte abschließt.


"Okay, gehen wir", sagte ich stattdessen und drehte mich auf der Suche nach meiner Tasche im Kreis. "Bevor ich meine Meinung ändere." Léo musterte mich. "Du bist immer für Überraschungen gut, Hannah." "Oh ja, ich bin voll davon", erwiderte ich."


Wunderbar untermauert wird die sich langsam entwickelnde Liebesgeschichte natürlich durch das wundervolle Setting. Dass es kaum einen passenderen Ort für eine sich langsam entwickelnde Liebesgeschichte gibt als das romantische Paris, muss ich wohl kaum begründen. Vom Gare du Nord geht es mit dem Motorrad über den chaotischsten Kreisverkehr der Welt, weiter auf die Champs-Élysées zum Eifelturm und natürlich zur Sacré-Coeur. Abseits der typischen Touristenattraktionen führt Léos und Hannahs Weg entlang des Canal Saint-Martin oder in den Parc des Buttes Chaumont. Auch eine kulinarische Verköstigung der Spezialitäten wie die beste heiße Schokolade im Café Angelina, süße Kunstwerke in einer Patisserie auf der Quai de Valmy direkt am Wasser, Crêpes und eine Flasche Wein dürfen nicht fehlen. Lorraine Brown nutzt ihren Spielort jedoch nicht nur als Kulisse, sondern beschreibt die einzelnen Stationen der kurzen Tour so prägnant, dass diese einen Wert an sich haben und zum Träumen anregen. Ich war noch niemals in Paris, habe mich aber sehr gefreut, mir diese wundervolle Stadt durch Hannahs Augen ansehen zu können.



Fazit:


Locker, leicht, atmosphärisch und romantisch! Lorraine Brown erzählt die Geschichte einer chaotischen, liebenswerten Protagonistin, die in Mitten der Stadt der Liebe ihr Leben überdenkt und dabei mit alten Problemen und neuen Chancen fertig wird.

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