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Veröffentlicht am 16.01.2021

Das schlechteste Buch, das ich seit langem gelesen habe!

365 Tage
0

"Hast du dich verlaufen, Kleines?"


Was darf Dark Romance? Diese Frage ist in letzter Zeit vermehrt aufgetaucht, seit der Blanvalet Verlag die polnische Romanvorlage des erfolgreichen, wenn auch heiß ...

"Hast du dich verlaufen, Kleines?"


Was darf Dark Romance? Diese Frage ist in letzter Zeit vermehrt aufgetaucht, seit der Blanvalet Verlag die polnische Romanvorlage des erfolgreichen, wenn auch heiß diskutierten Netflix-Films "365 Tage" herausgebracht hat. Nachdem ich schon sowohl flammende Plädoyers für die Freiheit der Unterhaltungsliteratur als auch scharfe Kritik und Zensurwünsche im Zusammenhang mit dieser Geschichte gelesen habe, wollte ich mir ein eigenes Bild verschaffen und habe den Roman beim Verlag angefragt. Schon nach wenigen Seiten war ich dann auch bei der Problematik angelangt, die die Bookcommunity so in Rage versetzt und stehe nun auch vor der eingangs erwähnten Frage: was darf Dark Romance? Im Laufe meiner Rezension will ich mich genau dieser Fragestellung annähern und gleichzeitig möglichst sachlich erläutern, was ich an der Geschichte nicht mochte.

Das Cover versetzt mich als passioniertes Mitglied des "Mimimi-keine-Personen-auf-Buchcover"-Clubs eindeutig nicht in Begeisterung, ist aber noch das geringste Problem des Romans. Zusehen ist die Hälfte eines männlichen Gesichts, das wahrscheinlich Massimo darstellen soll, Teile eines Anzugs und ein schwarzer Hintergrund. Der Titel "365 Tage" ist die genaue Übersetzung des polnischen Originaltitels "365 dni". Auch die beiden Folgebände, die im Laufe dieses Jahres ebenfalls bei Blanvalet erscheinen, sind nach demselben Muster konzipiert und zeigen jeweils ein Gesicht. Die 400 seitenlange Geschichte ist in 21 Kapitel eingeteilt, die aus Lauras Sicht geschrieben sind. Eingeführt in den Roman werden wir aber durch eine kurze Passage aus Massimos Sicht.


Erster Satz: "Weißt du was das bedeutet, Massimo?"


So, Einleitung ist geschrieben, ein paar Worte zum Cover - check -, wo soll ich jetzt weitermachen? Am besten beginnen wir mit meiner Kritik zum Dark Romance Part der Geschichte. Dieses Genre, dass die Faszination für das Böse, das Abgründige zum Thema nimmt, sich mit der Kehrseite des menschlichen Daseins beschäftigt, ist nicht gerade neu (die literarische Strömung existiert schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts), hat aber in den letzten 10 Jahren ordentlich Auftrieb erhalten. Unterwerfungsfantasien, dominante Alpha-Männer mit erotischer Aura, meist viel Geld und eine Menge fataler Düsternis und Gefahr - das verkauft sich spätestens seit "Fifty Shades of Grey" gut. Oftmals wird für dieses Genre das Argument vorgebracht, dass Geschichten auch mal abwegig sein dürfen, dass ja auch in Krimis oder Thriller oft Moralvorstellungen verletzt werden und fiktive Handlungen nun mal nicht in die Realität übersetzt werden müssen. Da kann ich auch teilweise zustimmen. Klar, man sollte beim Konsumieren von fiktiven Inhalten immer Realität und Fiktion genau trennen können und wer reif genug ist, das während dem Lesen oder Film schauen im Kopf zu behalten, der kann ja auch unbedenklich alles lesen oder schauen, was ihm/ihr Spaß macht.

Im Fantasy Genre gibt es klassischerweise ganz häufig das Strong-Guy-meets-Damsel-in-Distress-Szenario, in New Adult sind es die Good-Girl-Bad-Boy Konstellationen und bei der Dark Romance eben die Unterdrücker-Opfer-Fantasien, die die Beziehungen zwischen den Figuren aus dem Gleichgewicht bringen aber eben manchmal auch interessant machen. Solange die Figuren sich bewusst sind, dass die andere Person gerade Mist baut, kann man mit dieser Dynamik von mir aus ruhig spielen. Wenn eine Person aber ein Opfer der Manipulation und Gefühle des anderen wird, ohne dass dies kritisch hinterfragt wird, dann wird es toxisch statt sexy und ich will das eigentlich nicht mehr lesen. Als Messlatte für die Akzeptanz von potentiell problematischen Themen und Motiven würde ich also die Auseinandersetzung und Reflexion mit eben diesen ansetzen. Liest man von einer moralisch klar abwegigen Handlung - zum Beispiel einem Mord in einem Krimi - und kann trotz Täterperspektive oder kompliziertem Kontext erkennen, dass man sich auf der "dunklen Seite der Macht" befindet, kann man sich guten Gewissens unterhalten lassen. Wird das Dargestellte aber romantisiert oder vielleicht sogar glorifiziert, hat es meiner Meinung nach auch unter dem Renner "Unterhaltung" in der heutigen, aufgeklärten Gesellschaft nichts verloren.


"Ich werde nichts unversucht lassen, um deine Liebe zu gewinnen. Ich warte, bis du mich willst, mich begehrst und freiwillig zu mir kommst"


Warum habe ich diese allgemeinen Gedanken zum Genre meiner Rezension vorangestellt? Ganz einfach, weil ich das Thema als Psychothriller mit ausgereifter, ambivalenter Charaktergestaltung vielleicht ganz interessant gefunden hätte, es aber viel zu viele höchstfragwürdige Elemente gibt, als dass ich die Geschichte als Liebesroman akzeptieren könnte. Erstens: Massimo ist einfach die Inkonsequenz in Person. Er verspricht Laura zwar immer wieder, dass nichts passiert, was sie nicht auch will und gibt vor, ihren freien Willen zu achten, aber das hält ihn nicht davon ab, seine Hände ständig überall auf ihrem Körper zu platzieren, sie ständig unaufgefordert zu Küssen und großzügig darüber hinwegzusehen, wenn sie "nein" sagte. Doch nicht nur "Nein" heißt nach Massimos Interpretation "Ja", er versteht auch Lauras Scherze, Provokationen und Kleiderwahl als klare Einladung. Klar, Lauras Verhalten erscheint emotional äußerst labil und sprunghaft, aber die "joa, sie will es ja bestimmt auch"-Logik ist wohl als Grund für einen nicht unerheblichen Prozentsatz von realen Vergewaltigungen dennoch keine Entschuldigung. Zweitens: Das vor den Lesern damit zu rechtfertigen, dass der arme kleine Massimo gar nicht anders kann, da er nie gelernt hat, zärtlich zu sein und auch leider nicht damit umgehen kann, nicht zu bekommen, was er will, ist bestenfalls lächerlich und schlimmstenfalls ein perfektes Beispiel für eine toxische Beziehung.

Gewaltverherrlichung und Verharmlosung von Übergriffigkeit und Missbrauch ist ja ein allgemeines Dark-Romance-Problem, aber selbst wenn man die Geschichte unter der Prämisse "Dark Romance darf verwerflich sein, es spiegelt nicht die Realität wieder" liest, fallen offensichtliche Mängel ins Auge. Davon abgesehen, dass man die Handlung inhaltlich natürlich diskutieren muss, ist "365 Tage" leider auch handwerklich ziemlich mies umgesetzt meines Erwachens nach. Hier wurde sich ziemlich auf "Sex sells" verlassen und sowohl in der Plotgestaltung als auch in der Figurencharakterisierung oder in der Umsetzung wichtiger Motive lassen sich größere Mängel entdecken.

Was die Handlung betrifft war ich darauf vorbereitet, dass außer seitenlangen, ausufernden Sexszenen, dürftigen Gesprächen und einem wohl dossierten Schuss Gangster-Spannung nicht besonders viel passieren würde, doch dass hier wirklich jeder Versuch, Spannung aufzubauen, von einer Ansammlung (häufig sehr gleicher und für mich definitiv nicht reizvoller) Sexszenen zunichte gemacht wird, sorgt nicht unbedingt dafür, dass man die 400 Seiten an einem Tag lesen will. Dazu kommt, dass nicht nur die Ausgangssituation mit dem Entführungsthema einfach null problematisiert wird, sondern diese auch als Basis für die Geschichte höchst unglaubwürdig ist. Laura sieht ihre Situation nach wenigen Seiten als spannendes Abenteuer an, beschäftigt sich nicht lange mit der Tatsache, dass Massimo ihre Familie bedroht hat, ein mörderisch gefährlicher Mafiaboss ist und Blut an seinen Händen klebt, sondern lässt sich hoffnungslos schmachtend auf Machtspielchen mit ihm ein. Schon nach wenigen Seiten kann man das Ende der Geschichte erahnen. und auch wenn ich keine komplexe Story erwartet hatte, ist das ein bisschen schade.


"Dieses Auto war genauso wie Massimo: kompliziert, gefährlich, schwer zu beherrschen und unglaublich sinnlich."


Auch was die Protagonisten anbelangt hatte ich gar nicht viel und schon gar keine psychologisch ausgefeilte, tiefgründige Charakterdarstellungen erwartet. Leider sind die Figuren aber noch farbloser, nerviger und oberflächlicher, als ich das befürchtet hatte. Dass Massimos Innenwelt und dessen Handlungen oft mit einem "er kann es halt nicht anders" erklärt und somit jegliche tiefere Begründung abgeschmettert wird, hatte ich ja schon gesagt. Laura ist aber fast ein noch größeres Problem. Außer ihrem Aussehen, teurer Mode, Partys, Alkohol und Sex hat sie keine besonderen Interessen, trotz dass sie als erfolgreiche Geschäftsfrau beschrieben wird, erscheint sie erstaunlich dümmlich und wie sie es mit all ihren Exzessen zu einem sportlichen Traumkörper schaffen konnte, den ihr die Autorin selbstverständlich an den Leib geschrieben hat, ist auch ein Rätsel. Kein Wunder also, dass sie mir nicht besonders sympathisch war, sondern mich in erster Linie genervt hat.

Sie total sprunghaft, klischeehaft, lässt sich mit teuren Uhren total kaufen, hat dafür, dass sie sich selbst als intelligent beschreibt, null Reflexionsvermögen und ist gefühlt zu 98% der Geschichte entweder betrunken oder geil - oder beides. Ich habe absolut nichts gegen Feiern und Alkoholkonsum grundsätzlich in Büchern, aber hier zeichnen literweise Champagner und Wein in Kombination mit Tabletten und sporadischem Essen ein sehr ungesundes Bild. Und ja, es ist schön, wenn Protagonistinnen ein gesundes Interesse an Sex haben. Aber hier wird dieses dazu fast ausschließlich eingesetzt, um das Annähern von Massimo und Laura zu erklären. Die Autorin gibt sich gar nicht erst die Mühe, eine vielschichtige Beziehung aufzubauen und uns Schritt für Schritt zu erklären, warum sich Laura trotz allem in Massimo zu verlieben scheint. Stattdessen scheint die Standardantwort auf alle Probleme zu sein: sie will ihn. Wenn man nun also die ethische Seite der ganzen Thematik beiseitelässt, ist die Entwicklung der Geschichte einfach unfassbar unglaubwürdig und eindimensional.

Ein weiterer Punkt, der mich genervt hat und der handwerklich äußerst schäbig umgesetzt ist, ist der Umgang mit einigen erwähnten Themen. Zum einen wäre da die medikamentös behandelte Herzkrankheit der Protagonistin. Diese wird nämlich null aufgegriffen, Laura schluckt nur ab und an blisterweise Tabletten, fällt in den passenden Szenen dramatisch in Ohnmacht, lässt sich aber davon nicht abhalten, jeden Tag ihre Sorgen in ihrem Lieblingsschaumwein zu ertränken ... weil sich Alkohol und Herztabletten ja bekanntermaßen gut vertragen... Wenn man also schon nichts mit der Thematik anfängt und diese in starkem Widerspruch zu den Handlungen der Figuren stehen, warum lässt man sie dann nicht einfach weg?


"Ich bin kein Objekt, niemand kann mich besitzen."


Ein weiteres dieser Probleme ist der immer wieder auftauchende offene Sexismus und die Diskriminierung gegenüber Randgruppen. Aussagen wie "Eine Frau hat in jeder Lebenslage gutauszusehen", das Ziel Lauras Eltern, sie möglichst reich zu verheiraten und nicht zuletzt auch Lauras Oberflächlichkeit zeichnen ein sehr verdrehtes Frauenbild. Laura ist gerne dazu bereit, über gewaltige Probleme in ihrer Beziehung hinweg zu sehen, denn Massimo ist ja ansonsten ein totaler Traumtyp. Ja, er hat vor ihren Augen jemanden erschossen, ihre Eltern bedroht, sie muss ihn ständig davon abhalten, ihren Exfreund zu ermorden, er lässt ihr keinen Entscheidungsfreiraum und behandelt sie respektlos. Aber sonst ist er doch reich, gutaussehend, beschützend und... habe ich schon reich erwähnt? Obwohl Massimo sie physisch wie psychisch fortwährend erniedrigt, lösen exzessives Shopping, schicke Bälle und glamouröse Makeover jedes Problem. Darüber hinaus ist jeder vorkommende Friseur/Stylist homosexuell (und nicht nur das, sondern natürlich "der perfekte Homosexuelle", da er ein Auge für Mode hat), wenn man die neuste Kollektion von Chanel nicht kennt, ist man keine richtige Frau und Prostituierte werden beleidigt, während Lauras Freundin Olga, die keine Lust hat zu arbeiten und sich lieber von reichen Liebhabern aushalten lässt für ihren Lebensstil gefeiert wird. Würde man alle anderen Kritikpunkte außer Acht lassen, reichten allein diese groben Schnitzer schon aus, um das Buch in den unteren Sternebereich rutschen zu lassen. Denn selbst wenn man hier davon ausgehen würde, dass die Autorin gesellschaftliche Zustände in ihrem Heimatland Polen zur Sprache bringen will (was man nur mit viel gutem Willen annehmen kann), dann fehlt hier einfach die kritische Auseinandersetzung. So liest sich die Geschichte einfach sexistisch.

Neben der unglaubwürdigen, vorhersehbaren Handlung, der oberflächlichen Figurenzeichnung und den groben Schnitzern hinsichtlich mancher Themen lässt sich auch der Schreibstil in die Reihe der handwerklichen Mängel problemlos einreihen. Einige Rezensenten hatten Blanka Lipińska für ihre flüssige Sprache gelobt und ja, es stimmt, man kann die Geschichte leicht lesen, literarisch hochwertig geht aber definitiv anders. Plumpe Aneinanderreihung immer gleicher Sätze, seltsame Dialoge, viele Wiederholungen, primitive Ausdrücke und teilweise stümperhafte Übergänge - ob es nun an der Übersetzung aus dem polnischen liegt (ich habe leider keine Ahnung von dieser Sprache und kann nicht einschätzen, wie leicht die Übertragung ins deutsche möglich ist), oder ob der Stil der Autorin auch im Original sehr einfach ist - feststeht: ich habe schon lange kein so schlechtes Buch mehr gelesen. Den Netflix-Film und die Fortsetzungen spare ich mir also aus den offensichtlichen Gründen.

Ich hoffe, es kam in dieser leider sehr negativen Rezension heraus, dass ich die Geschichte nicht nur mit der "Mimimi-Dark-Romance-ist-böse"-Karte abstempele, sondern sie auch aus sachlichen, handwerklichen Gründen ablehne. Ich habe mir die größte Mühe gegeben, unvoreingenommen an den Roman heranzutreten und meine Rezension auch so objektiv und belegt wie mir möglich zu verfassen und bin jetzt sehr gespannt, was Ihr zu dem Thema zu sagen habt.



Fazit:

Das schlechteste Buch, das ich seit langem gelesen habe. Hier geben nicht nur eine toxische Beziehung, ein sexistisches Frauenbild, die Diskriminierung von Randgruppen und die Verherrlichung von Gewalt Anlass zur Diskussion - auch andere Teile der Geschichte wie die Figuren, der Schreibstil und die Handlung weisen größere Mängel auf, über die ich nicht hinwegsehen will und kann.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 16.01.2021

Das schlechteste Buch, das ich seit langem gelesen habe!

365 Tage
0

"Hast du dich verlaufen, Kleines?"


Was darf Dark Romance? Diese Frage ist in letzter Zeit vermehrt aufgetaucht, seit der Blanvalet Verlag die polnische Romanvorlage des erfolgreichen, wenn auch heiß ...

"Hast du dich verlaufen, Kleines?"


Was darf Dark Romance? Diese Frage ist in letzter Zeit vermehrt aufgetaucht, seit der Blanvalet Verlag die polnische Romanvorlage des erfolgreichen, wenn auch heiß diskutierten Netflix-Films "365 Tage" herausgebracht hat. Nachdem ich schon sowohl flammende Plädoyers für die Freiheit der Unterhaltungsliteratur als auch scharfe Kritik und Zensurwünsche im Zusammenhang mit dieser Geschichte gelesen habe, wollte ich mir ein eigenes Bild verschaffen und habe den Roman beim Verlag angefragt. Schon nach wenigen Seiten war ich dann auch bei der Problematik angelangt, die die Bookcommunity so in Rage versetzt und stehe nun auch vor der eingangs erwähnten Frage: was darf Dark Romance? Im Laufe meiner Rezension will ich mich genau dieser Fragestellung annähern und gleichzeitig möglichst sachlich erläutern, was ich an der Geschichte nicht mochte.

Das Cover versetzt mich als passioniertes Mitglied des "Mimimi-keine-Personen-auf-Buchcover"-Clubs eindeutig nicht in Begeisterung, ist aber noch das geringste Problem des Romans. Zusehen ist die Hälfte eines männlichen Gesichts, das wahrscheinlich Massimo darstellen soll, Teile eines Anzugs und ein schwarzer Hintergrund. Der Titel "365 Tage" ist die genaue Übersetzung des polnischen Originaltitels "365 dni". Auch die beiden Folgebände, die im Laufe dieses Jahres ebenfalls bei Blanvalet erscheinen, sind nach demselben Muster konzipiert und zeigen jeweils ein Gesicht. Die 400 seitenlange Geschichte ist in 21 Kapitel eingeteilt, die aus Lauras Sicht geschrieben sind. Eingeführt in den Roman werden wir aber durch eine kurze Passage aus Massimos Sicht.


Erster Satz: "Weißt du was das bedeutet, Massimo?"


So, Einleitung ist geschrieben, ein paar Worte zum Cover - check -, wo soll ich jetzt weitermachen? Am besten beginnen wir mit meiner Kritik zum Dark Romance Part der Geschichte. Dieses Genre, dass die Faszination für das Böse, das Abgründige zum Thema nimmt, sich mit der Kehrseite des menschlichen Daseins beschäftigt, ist nicht gerade neu (die literarische Strömung existiert schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts), hat aber in den letzten 10 Jahren ordentlich Auftrieb erhalten. Unterwerfungsfantasien, dominante Alpha-Männer mit erotischer Aura, meist viel Geld und eine Menge fataler Düsternis und Gefahr - das verkauft sich spätestens seit "Fifty Shades of Grey" gut. Oftmals wird für dieses Genre das Argument vorgebracht, dass Geschichten auch mal abwegig sein dürfen, dass ja auch in Krimis oder Thriller oft Moralvorstellungen verletzt werden und fiktive Handlungen nun mal nicht in die Realität übersetzt werden müssen. Da kann ich auch teilweise zustimmen. Klar, man sollte beim Konsumieren von fiktiven Inhalten immer Realität und Fiktion genau trennen können und wer reif genug ist, das während dem Lesen oder Film schauen im Kopf zu behalten, der kann ja auch unbedenklich alles lesen oder schauen, was ihm/ihr Spaß macht.

Im Fantasy Genre gibt es klassischerweise ganz häufig das Strong-Guy-meets-Damsel-in-Distress-Szenario, in New Adult sind es die Good-Girl-Bad-Boy Konstellationen und bei der Dark Romance eben die Unterdrücker-Opfer-Fantasien, die die Beziehungen zwischen den Figuren aus dem Gleichgewicht bringen aber eben manchmal auch interessant machen. Solange die Figuren sich bewusst sind, dass die andere Person gerade Mist baut, kann man mit dieser Dynamik von mir aus ruhig spielen. Wenn eine Person aber ein Opfer der Manipulation und Gefühle des anderen wird, ohne dass dies kritisch hinterfragt wird, dann wird es toxisch statt sexy und ich will das eigentlich nicht mehr lesen. Als Messlatte für die Akzeptanz von potentiell problematischen Themen und Motiven würde ich also die Auseinandersetzung und Reflexion mit eben diesen ansetzen. Liest man von einer moralisch klar abwegigen Handlung - zum Beispiel einem Mord in einem Krimi - und kann trotz Täterperspektive oder kompliziertem Kontext erkennen, dass man sich auf der "dunklen Seite der Macht" befindet, kann man sich guten Gewissens unterhalten lassen. Wird das Dargestellte aber romantisiert oder vielleicht sogar glorifiziert, hat es meiner Meinung nach auch unter dem Renner "Unterhaltung" in der heutigen, aufgeklärten Gesellschaft nichts verloren.


"Ich werde nichts unversucht lassen, um deine Liebe zu gewinnen. Ich warte, bis du mich willst, mich begehrst und freiwillig zu mir kommst"


Warum habe ich diese allgemeinen Gedanken zum Genre meiner Rezension vorangestellt? Ganz einfach, weil ich das Thema als Psychothriller mit ausgereifter, ambivalenter Charaktergestaltung vielleicht ganz interessant gefunden hätte, es aber viel zu viele höchstfragwürdige Elemente gibt, als dass ich die Geschichte als Liebesroman akzeptieren könnte. Erstens: Massimo ist einfach die Inkonsequenz in Person. Er verspricht Laura zwar immer wieder, dass nichts passiert, was sie nicht auch will und gibt vor, ihren freien Willen zu achten, aber das hält ihn nicht davon ab, seine Hände ständig überall auf ihrem Körper zu platzieren, sie ständig unaufgefordert zu Küssen und großzügig darüber hinwegzusehen, wenn sie "nein" sagte. Doch nicht nur "Nein" heißt nach Massimos Interpretation "Ja", er versteht auch Lauras Scherze, Provokationen und Kleiderwahl als klare Einladung. Klar, Lauras Verhalten erscheint emotional äußerst labil und sprunghaft, aber die "joa, sie will es ja bestimmt auch"-Logik ist wohl als Grund für einen nicht unerheblichen Prozentsatz von realen Vergewaltigungen dennoch keine Entschuldigung. Zweitens: Das vor den Lesern damit zu rechtfertigen, dass der arme kleine Massimo gar nicht anders kann, da er nie gelernt hat, zärtlich zu sein und auch leider nicht damit umgehen kann, nicht zu bekommen, was er will, ist bestenfalls lächerlich und schlimmstenfalls ein perfektes Beispiel für eine toxische Beziehung.

Gewaltverherrlichung und Verharmlosung von Übergriffigkeit und Missbrauch ist ja ein allgemeines Dark-Romance-Problem, aber selbst wenn man die Geschichte unter der Prämisse "Dark Romance darf verwerflich sein, es spiegelt nicht die Realität wieder" liest, fallen offensichtliche Mängel ins Auge. Davon abgesehen, dass man die Handlung inhaltlich natürlich diskutieren muss, ist "365 Tage" leider auch handwerklich ziemlich mies umgesetzt meines Erwachens nach. Hier wurde sich ziemlich auf "Sex sells" verlassen und sowohl in der Plotgestaltung als auch in der Figurencharakterisierung oder in der Umsetzung wichtiger Motive lassen sich größere Mängel entdecken.

Was die Handlung betrifft war ich darauf vorbereitet, dass außer seitenlangen, ausufernden Sexszenen, dürftigen Gesprächen und einem wohl dossierten Schuss Gangster-Spannung nicht besonders viel passieren würde, doch dass hier wirklich jeder Versuch, Spannung aufzubauen, von einer Ansammlung (häufig sehr gleicher und für mich definitiv nicht reizvoller) Sexszenen zunichte gemacht wird, sorgt nicht unbedingt dafür, dass man die 400 Seiten an einem Tag lesen will. Dazu kommt, dass nicht nur die Ausgangssituation mit dem Entführungsthema einfach null problematisiert wird, sondern diese auch als Basis für die Geschichte höchst unglaubwürdig ist. Laura sieht ihre Situation nach wenigen Seiten als spannendes Abenteuer an, beschäftigt sich nicht lange mit der Tatsache, dass Massimo ihre Familie bedroht hat, ein mörderisch gefährlicher Mafiaboss ist und Blut an seinen Händen klebt, sondern lässt sich hoffnungslos schmachtend auf Machtspielchen mit ihm ein. Schon nach wenigen Seiten kann man das Ende der Geschichte erahnen. und auch wenn ich keine komplexe Story erwartet hatte, ist das ein bisschen schade.


"Dieses Auto war genauso wie Massimo: kompliziert, gefährlich, schwer zu beherrschen und unglaublich sinnlich."


Auch was die Protagonisten anbelangt hatte ich gar nicht viel und schon gar keine psychologisch ausgefeilte, tiefgründige Charakterdarstellungen erwartet. Leider sind die Figuren aber noch farbloser, nerviger und oberflächlicher, als ich das befürchtet hatte. Dass Massimos Innenwelt und dessen Handlungen oft mit einem "er kann es halt nicht anders" erklärt und somit jegliche tiefere Begründung abgeschmettert wird, hatte ich ja schon gesagt. Laura ist aber fast ein noch größeres Problem. Außer ihrem Aussehen, teurer Mode, Partys, Alkohol und Sex hat sie keine besonderen Interessen, trotz dass sie als erfolgreiche Geschäftsfrau beschrieben wird, erscheint sie erstaunlich dümmlich und wie sie es mit all ihren Exzessen zu einem sportlichen Traumkörper schaffen konnte, den ihr die Autorin selbstverständlich an den Leib geschrieben hat, ist auch ein Rätsel. Kein Wunder also, dass sie mir nicht besonders sympathisch war, sondern mich in erster Linie genervt hat.

Sie total sprunghaft, klischeehaft, lässt sich mit teuren Uhren total kaufen, hat dafür, dass sie sich selbst als intelligent beschreibt, null Reflexionsvermögen und ist gefühlt zu 98% der Geschichte entweder betrunken oder geil - oder beides. Ich habe absolut nichts gegen Feiern und Alkoholkonsum grundsätzlich in Büchern, aber hier zeichnen literweise Champagner und Wein in Kombination mit Tabletten und sporadischem Essen ein sehr ungesundes Bild. Und ja, es ist schön, wenn Protagonistinnen ein gesundes Interesse an Sex haben. Aber hier wird dieses dazu fast ausschließlich eingesetzt, um das Annähern von Massimo und Laura zu erklären. Die Autorin gibt sich gar nicht erst die Mühe, eine vielschichtige Beziehung aufzubauen und uns Schritt für Schritt zu erklären, warum sich Laura trotz allem in Massimo zu verlieben scheint. Stattdessen scheint die Standardantwort auf alle Probleme zu sein: sie will ihn. Wenn man nun also die ethische Seite der ganzen Thematik beiseitelässt, ist die Entwicklung der Geschichte einfach unfassbar unglaubwürdig und eindimensional.

Ein weiterer Punkt, der mich genervt hat und der handwerklich äußerst schäbig umgesetzt ist, ist der Umgang mit einigen erwähnten Themen. Zum einen wäre da die medikamentös behandelte Herzkrankheit der Protagonistin. Diese wird nämlich null aufgegriffen, Laura schluckt nur ab und an blisterweise Tabletten, fällt in den passenden Szenen dramatisch in Ohnmacht, lässt sich aber davon nicht abhalten, jeden Tag ihre Sorgen in ihrem Lieblingsschaumwein zu ertränken ... weil sich Alkohol und Herztabletten ja bekanntermaßen gut vertragen... Wenn man also schon nichts mit der Thematik anfängt und diese in starkem Widerspruch zu den Handlungen der Figuren stehen, warum lässt man sie dann nicht einfach weg?


"Ich bin kein Objekt, niemand kann mich besitzen."


Ein weiteres dieser Probleme ist der immer wieder auftauchende offene Sexismus und die Diskriminierung gegenüber Randgruppen. Aussagen wie "Eine Frau hat in jeder Lebenslage gutauszusehen", das Ziel Lauras Eltern, sie möglichst reich zu verheiraten und nicht zuletzt auch Lauras Oberflächlichkeit zeichnen ein sehr verdrehtes Frauenbild. Laura ist gerne dazu bereit, über gewaltige Probleme in ihrer Beziehung hinweg zu sehen, denn Massimo ist ja ansonsten ein totaler Traumtyp. Ja, er hat vor ihren Augen jemanden erschossen, ihre Eltern bedroht, sie muss ihn ständig davon abhalten, ihren Exfreund zu ermorden, er lässt ihr keinen Entscheidungsfreiraum und behandelt sie respektlos. Aber sonst ist er doch reich, gutaussehend, beschützend und... habe ich schon reich erwähnt? Obwohl Massimo sie physisch wie psychisch fortwährend erniedrigt, lösen exzessives Shopping, schicke Bälle und glamouröse Makeover jedes Problem. Darüber hinaus ist jeder vorkommende Friseur/Stylist homosexuell (und nicht nur das, sondern natürlich "der perfekte Homosexuelle", da er ein Auge für Mode hat), wenn man die neuste Kollektion von Chanel nicht kennt, ist man keine richtige Frau und Prostituierte werden beleidigt, während Lauras Freundin Olga, die keine Lust hat zu arbeiten und sich lieber von reichen Liebhabern aushalten lässt für ihren Lebensstil gefeiert wird. Würde man alle anderen Kritikpunkte außer Acht lassen, reichten allein diese groben Schnitzer schon aus, um das Buch in den unteren Sternebereich rutschen zu lassen. Denn selbst wenn man hier davon ausgehen würde, dass die Autorin gesellschaftliche Zustände in ihrem Heimatland Polen zur Sprache bringen will (was man nur mit viel gutem Willen annehmen kann), dann fehlt hier einfach die kritische Auseinandersetzung. So liest sich die Geschichte einfach sexistisch.

Neben der unglaubwürdigen, vorhersehbaren Handlung, der oberflächlichen Figurenzeichnung und den groben Schnitzern hinsichtlich mancher Themen lässt sich auch der Schreibstil in die Reihe der handwerklichen Mängel problemlos einreihen. Einige Rezensenten hatten Blanka Lipińska für ihre flüssige Sprache gelobt und ja, es stimmt, man kann die Geschichte leicht lesen, literarisch hochwertig geht aber definitiv anders. Plumpe Aneinanderreihung immer gleicher Sätze, seltsame Dialoge, viele Wiederholungen, primitive Ausdrücke und teilweise stümperhafte Übergänge - ob es nun an der Übersetzung aus dem polnischen liegt (ich habe leider keine Ahnung von dieser Sprache und kann nicht einschätzen, wie leicht die Übertragung ins deutsche möglich ist), oder ob der Stil der Autorin auch im Original sehr einfach ist - feststeht: ich habe schon lange kein so schlechtes Buch mehr gelesen. Den Netflix-Film und die Fortsetzungen spare ich mir also aus den offensichtlichen Gründen.

Ich hoffe, es kam in dieser leider sehr negativen Rezension heraus, dass ich die Geschichte nicht nur mit der "Mimimi-Dark-Romance-ist-böse"-Karte abstempele, sondern sie auch aus sachlichen, handwerklichen Gründen ablehne. Ich habe mir die größte Mühe gegeben, unvoreingenommen an den Roman heranzutreten und meine Rezension auch so objektiv und belegt wie mir möglich zu verfassen und bin jetzt sehr gespannt, was Ihr zu dem Thema zu sagen habt.



Fazit:

Das schlechteste Buch, das ich seit langem gelesen habe. Hier geben nicht nur eine toxische Beziehung, ein sexistisches Frauenbild, die Diskriminierung von Randgruppen und die Verherrlichung von Gewalt Anlass zur Diskussion - auch andere Teile der Geschichte wie die Figuren, der Schreibstil und die Handlung weisen größere Mängel auf, über die ich nicht hinwegsehen will und kann.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 16.01.2021

Das schlechteste Buch, das ich seit langem gelesen habe!

365 Tage
0

"Hast du dich verlaufen, Kleines?"


Was darf Dark Romance? Diese Frage ist in letzter Zeit vermehrt aufgetaucht, seit der Blanvalet Verlag die polnische Romanvorlage des erfolgreichen, wenn auch heiß ...

"Hast du dich verlaufen, Kleines?"


Was darf Dark Romance? Diese Frage ist in letzter Zeit vermehrt aufgetaucht, seit der Blanvalet Verlag die polnische Romanvorlage des erfolgreichen, wenn auch heiß diskutierten Netflix-Films "365 Tage" herausgebracht hat. Nachdem ich schon sowohl flammende Plädoyers für die Freiheit der Unterhaltungsliteratur als auch scharfe Kritik und Zensurwünsche im Zusammenhang mit dieser Geschichte gelesen habe, wollte ich mir ein eigenes Bild verschaffen und habe den Roman beim Verlag angefragt. Schon nach wenigen Seiten war ich dann auch bei der Problematik angelangt, die die Bookcommunity so in Rage versetzt und stehe nun auch vor der eingangs erwähnten Frage: was darf Dark Romance? Im Laufe meiner Rezension will ich mich genau dieser Fragestellung annähern und gleichzeitig möglichst sachlich erläutern, was ich an der Geschichte nicht mochte.

Das Cover versetzt mich als passioniertes Mitglied des "Mimimi-keine-Personen-auf-Buchcover"-Clubs eindeutig nicht in Begeisterung, ist aber noch das geringste Problem des Romans. Zusehen ist die Hälfte eines männlichen Gesichts, das wahrscheinlich Massimo darstellen soll, Teile eines Anzugs und ein schwarzer Hintergrund. Der Titel "365 Tage" ist die genaue Übersetzung des polnischen Originaltitels "365 dni". Auch die beiden Folgebände, die im Laufe dieses Jahres ebenfalls bei Blanvalet erscheinen, sind nach demselben Muster konzipiert und zeigen jeweils ein Gesicht. Die 400 seitenlange Geschichte ist in 21 Kapitel eingeteilt, die aus Lauras Sicht geschrieben sind. Eingeführt in den Roman werden wir aber durch eine kurze Passage aus Massimos Sicht.


Erster Satz: "Weißt du was das bedeutet, Massimo?"


So, Einleitung ist geschrieben, ein paar Worte zum Cover - check -, wo soll ich jetzt weitermachen? Am besten beginnen wir mit meiner Kritik zum Dark Romance Part der Geschichte. Dieses Genre, dass die Faszination für das Böse, das Abgründige zum Thema nimmt, sich mit der Kehrseite des menschlichen Daseins beschäftigt, ist nicht gerade neu (die literarische Strömung existiert schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts), hat aber in den letzten 10 Jahren ordentlich Auftrieb erhalten. Unterwerfungsfantasien, dominante Alpha-Männer mit erotischer Aura, meist viel Geld und eine Menge fataler Düsternis und Gefahr - das verkauft sich spätestens seit "Fifty Shades of Grey" gut. Oftmals wird für dieses Genre das Argument vorgebracht, dass Geschichten auch mal abwegig sein dürfen, dass ja auch in Krimis oder Thriller oft Moralvorstellungen verletzt werden und fiktive Handlungen nun mal nicht in die Realität übersetzt werden müssen. Da kann ich auch teilweise zustimmen. Klar, man sollte beim Konsumieren von fiktiven Inhalten immer Realität und Fiktion genau trennen können und wer reif genug ist, das während dem Lesen oder Film schauen im Kopf zu behalten, der kann ja auch unbedenklich alles lesen oder schauen, was ihm/ihr Spaß macht.

Im Fantasy Genre gibt es klassischerweise ganz häufig das Strong-Guy-meets-Damsel-in-Distress-Szenario, in New Adult sind es die Good-Girl-Bad-Boy Konstellationen und bei der Dark Romance eben die Unterdrücker-Opfer-Fantasien, die die Beziehungen zwischen den Figuren aus dem Gleichgewicht bringen aber eben manchmal auch interessant machen. Solange die Figuren sich bewusst sind, dass die andere Person gerade Mist baut, kann man mit dieser Dynamik von mir aus ruhig spielen. Wenn eine Person aber ein Opfer der Manipulation und Gefühle des anderen wird, ohne dass dies kritisch hinterfragt wird, dann wird es toxisch statt sexy und ich will das eigentlich nicht mehr lesen. Als Messlatte für die Akzeptanz von potentiell problematischen Themen und Motiven würde ich also die Auseinandersetzung und Reflexion mit eben diesen ansetzen. Liest man von einer moralisch klar abwegigen Handlung - zum Beispiel einem Mord in einem Krimi - und kann trotz Täterperspektive oder kompliziertem Kontext erkennen, dass man sich auf der "dunklen Seite der Macht" befindet, kann man sich guten Gewissens unterhalten lassen. Wird das Dargestellte aber romantisiert oder vielleicht sogar glorifiziert, hat es meiner Meinung nach auch unter dem Renner "Unterhaltung" in der heutigen, aufgeklärten Gesellschaft nichts verloren.


"Ich werde nichts unversucht lassen, um deine Liebe zu gewinnen. Ich warte, bis du mich willst, mich begehrst und freiwillig zu mir kommst"


Warum habe ich diese allgemeinen Gedanken zum Genre meiner Rezension vorangestellt? Ganz einfach, weil ich das Thema als Psychothriller mit ausgereifter, ambivalenter Charaktergestaltung vielleicht ganz interessant gefunden hätte, es aber viel zu viele höchstfragwürdige Elemente gibt, als dass ich die Geschichte als Liebesroman akzeptieren könnte. Erstens: Massimo ist einfach die Inkonsequenz in Person. Er verspricht Laura zwar immer wieder, dass nichts passiert, was sie nicht auch will und gibt vor, ihren freien Willen zu achten, aber das hält ihn nicht davon ab, seine Hände ständig überall auf ihrem Körper zu platzieren, sie ständig unaufgefordert zu Küssen und großzügig darüber hinwegzusehen, wenn sie "nein" sagte. Doch nicht nur "Nein" heißt nach Massimos Interpretation "Ja", er versteht auch Lauras Scherze, Provokationen und Kleiderwahl als klare Einladung. Klar, Lauras Verhalten erscheint emotional äußerst labil und sprunghaft, aber die "joa, sie will es ja bestimmt auch"-Logik ist wohl als Grund für einen nicht unerheblichen Prozentsatz von realen Vergewaltigungen dennoch keine Entschuldigung. Zweitens: Das vor den Lesern damit zu rechtfertigen, dass der arme kleine Massimo gar nicht anders kann, da er nie gelernt hat, zärtlich zu sein und auch leider nicht damit umgehen kann, nicht zu bekommen, was er will, ist bestenfalls lächerlich und schlimmstenfalls ein perfektes Beispiel für eine toxische Beziehung.

Gewaltverherrlichung und Verharmlosung von Übergriffigkeit und Missbrauch ist ja ein allgemeines Dark-Romance-Problem, aber selbst wenn man die Geschichte unter der Prämisse "Dark Romance darf verwerflich sein, es spiegelt nicht die Realität wieder" liest, fallen offensichtliche Mängel ins Auge. Davon abgesehen, dass man die Handlung inhaltlich natürlich diskutieren muss, ist "365 Tage" leider auch handwerklich ziemlich mies umgesetzt meines Erwachens nach. Hier wurde sich ziemlich auf "Sex sells" verlassen und sowohl in der Plotgestaltung als auch in der Figurencharakterisierung oder in der Umsetzung wichtiger Motive lassen sich größere Mängel entdecken.

Was die Handlung betrifft war ich darauf vorbereitet, dass außer seitenlangen, ausufernden Sexszenen, dürftigen Gesprächen und einem wohl dossierten Schuss Gangster-Spannung nicht besonders viel passieren würde, doch dass hier wirklich jeder Versuch, Spannung aufzubauen, von einer Ansammlung (häufig sehr gleicher und für mich definitiv nicht reizvoller) Sexszenen zunichte gemacht wird, sorgt nicht unbedingt dafür, dass man die 400 Seiten an einem Tag lesen will. Dazu kommt, dass nicht nur die Ausgangssituation mit dem Entführungsthema einfach null problematisiert wird, sondern diese auch als Basis für die Geschichte höchst unglaubwürdig ist. Laura sieht ihre Situation nach wenigen Seiten als spannendes Abenteuer an, beschäftigt sich nicht lange mit der Tatsache, dass Massimo ihre Familie bedroht hat, ein mörderisch gefährlicher Mafiaboss ist und Blut an seinen Händen klebt, sondern lässt sich hoffnungslos schmachtend auf Machtspielchen mit ihm ein. Schon nach wenigen Seiten kann man das Ende der Geschichte erahnen. und auch wenn ich keine komplexe Story erwartet hatte, ist das ein bisschen schade.


"Dieses Auto war genauso wie Massimo: kompliziert, gefährlich, schwer zu beherrschen und unglaublich sinnlich."


Auch was die Protagonisten anbelangt hatte ich gar nicht viel und schon gar keine psychologisch ausgefeilte, tiefgründige Charakterdarstellungen erwartet. Leider sind die Figuren aber noch farbloser, nerviger und oberflächlicher, als ich das befürchtet hatte. Dass Massimos Innenwelt und dessen Handlungen oft mit einem "er kann es halt nicht anders" erklärt und somit jegliche tiefere Begründung abgeschmettert wird, hatte ich ja schon gesagt. Laura ist aber fast ein noch größeres Problem. Außer ihrem Aussehen, teurer Mode, Partys, Alkohol und Sex hat sie keine besonderen Interessen, trotz dass sie als erfolgreiche Geschäftsfrau beschrieben wird, erscheint sie erstaunlich dümmlich und wie sie es mit all ihren Exzessen zu einem sportlichen Traumkörper schaffen konnte, den ihr die Autorin selbstverständlich an den Leib geschrieben hat, ist auch ein Rätsel. Kein Wunder also, dass sie mir nicht besonders sympathisch war, sondern mich in erster Linie genervt hat.

Sie total sprunghaft, klischeehaft, lässt sich mit teuren Uhren total kaufen, hat dafür, dass sie sich selbst als intelligent beschreibt, null Reflexionsvermögen und ist gefühlt zu 98% der Geschichte entweder betrunken oder geil - oder beides. Ich habe absolut nichts gegen Feiern und Alkoholkonsum grundsätzlich in Büchern, aber hier zeichnen literweise Champagner und Wein in Kombination mit Tabletten und sporadischem Essen ein sehr ungesundes Bild. Und ja, es ist schön, wenn Protagonistinnen ein gesundes Interesse an Sex haben. Aber hier wird dieses dazu fast ausschließlich eingesetzt, um das Annähern von Massimo und Laura zu erklären. Die Autorin gibt sich gar nicht erst die Mühe, eine vielschichtige Beziehung aufzubauen und uns Schritt für Schritt zu erklären, warum sich Laura trotz allem in Massimo zu verlieben scheint. Stattdessen scheint die Standardantwort auf alle Probleme zu sein: sie will ihn. Wenn man nun also die ethische Seite der ganzen Thematik beiseitelässt, ist die Entwicklung der Geschichte einfach unfassbar unglaubwürdig und eindimensional.

Ein weiterer Punkt, der mich genervt hat und der handwerklich äußerst schäbig umgesetzt ist, ist der Umgang mit einigen erwähnten Themen. Zum einen wäre da die medikamentös behandelte Herzkrankheit der Protagonistin. Diese wird nämlich null aufgegriffen, Laura schluckt nur ab und an blisterweise Tabletten, fällt in den passenden Szenen dramatisch in Ohnmacht, lässt sich aber davon nicht abhalten, jeden Tag ihre Sorgen in ihrem Lieblingsschaumwein zu ertränken ... weil sich Alkohol und Herztabletten ja bekanntermaßen gut vertragen... Wenn man also schon nichts mit der Thematik anfängt und diese in starkem Widerspruch zu den Handlungen der Figuren stehen, warum lässt man sie dann nicht einfach weg?


"Ich bin kein Objekt, niemand kann mich besitzen."


Ein weiteres dieser Probleme ist der immer wieder auftauchende offene Sexismus und die Diskriminierung gegenüber Randgruppen. Aussagen wie "Eine Frau hat in jeder Lebenslage gutauszusehen", das Ziel Lauras Eltern, sie möglichst reich zu verheiraten und nicht zuletzt auch Lauras Oberflächlichkeit zeichnen ein sehr verdrehtes Frauenbild. Laura ist gerne dazu bereit, über gewaltige Probleme in ihrer Beziehung hinweg zu sehen, denn Massimo ist ja ansonsten ein totaler Traumtyp. Ja, er hat vor ihren Augen jemanden erschossen, ihre Eltern bedroht, sie muss ihn ständig davon abhalten, ihren Exfreund zu ermorden, er lässt ihr keinen Entscheidungsfreiraum und behandelt sie respektlos. Aber sonst ist er doch reich, gutaussehend, beschützend und... habe ich schon reich erwähnt? Obwohl Massimo sie physisch wie psychisch fortwährend erniedrigt, lösen exzessives Shopping, schicke Bälle und glamouröse Makeover jedes Problem. Darüber hinaus ist jeder vorkommende Friseur/Stylist homosexuell (und nicht nur das, sondern natürlich "der perfekte Homosexuelle", da er ein Auge für Mode hat), wenn man die neuste Kollektion von Chanel nicht kennt, ist man keine richtige Frau und Prostituierte werden beleidigt, während Lauras Freundin Olga, die keine Lust hat zu arbeiten und sich lieber von reichen Liebhabern aushalten lässt für ihren Lebensstil gefeiert wird. Würde man alle anderen Kritikpunkte außer Acht lassen, reichten allein diese groben Schnitzer schon aus, um das Buch in den unteren Sternebereich rutschen zu lassen. Denn selbst wenn man hier davon ausgehen würde, dass die Autorin gesellschaftliche Zustände in ihrem Heimatland Polen zur Sprache bringen will (was man nur mit viel gutem Willen annehmen kann), dann fehlt hier einfach die kritische Auseinandersetzung. So liest sich die Geschichte einfach sexistisch.

Neben der unglaubwürdigen, vorhersehbaren Handlung, der oberflächlichen Figurenzeichnung und den groben Schnitzern hinsichtlich mancher Themen lässt sich auch der Schreibstil in die Reihe der handwerklichen Mängel problemlos einreihen. Einige Rezensenten hatten Blanka Lipińska für ihre flüssige Sprache gelobt und ja, es stimmt, man kann die Geschichte leicht lesen, literarisch hochwertig geht aber definitiv anders. Plumpe Aneinanderreihung immer gleicher Sätze, seltsame Dialoge, viele Wiederholungen, primitive Ausdrücke und teilweise stümperhafte Übergänge - ob es nun an der Übersetzung aus dem polnischen liegt (ich habe leider keine Ahnung von dieser Sprache und kann nicht einschätzen, wie leicht die Übertragung ins deutsche möglich ist), oder ob der Stil der Autorin auch im Original sehr einfach ist - feststeht: ich habe schon lange kein so schlechtes Buch mehr gelesen. Den Netflix-Film und die Fortsetzungen spare ich mir also aus den offensichtlichen Gründen.

Ich hoffe, es kam in dieser leider sehr negativen Rezension heraus, dass ich die Geschichte nicht nur mit der "Mimimi-Dark-Romance-ist-böse"-Karte abstempele, sondern sie auch aus sachlichen, handwerklichen Gründen ablehne. Ich habe mir die größte Mühe gegeben, unvoreingenommen an den Roman heranzutreten und meine Rezension auch so objektiv und belegt wie mir möglich zu verfassen und bin jetzt sehr gespannt, was Ihr zu dem Thema zu sagen habt.



Fazit:

Das schlechteste Buch, das ich seit langem gelesen habe. Hier geben nicht nur eine toxische Beziehung, ein sexistisches Frauenbild, die Diskriminierung von Randgruppen und die Verherrlichung von Gewalt Anlass zur Diskussion - auch andere Teile der Geschichte wie die Figuren, der Schreibstil und die Handlung weisen größere Mängel auf, über die ich nicht hinwegsehen will und kann.

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Veröffentlicht am 15.01.2021

Brutal, unvorhersehbar, originell und intensiv - ein erstes Highlight des noch jungen Jahres!

Das Lied der Krähen
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Die Motivation jetzt - Jahre nach dem großen Hype - mit der Krähen-Dilogie zu beginnen ist in erster Linie einer Ankündigung des Streamingdienstes Netflix geschuldet. Schon seit letztem Jahr ist klar, ...

Die Motivation jetzt - Jahre nach dem großen Hype - mit der Krähen-Dilogie zu beginnen ist in erster Linie einer Ankündigung des Streamingdienstes Netflix geschuldet. Schon seit letztem Jahr ist klar, dass das "Grisha"-Verse als großes Serien-Event produziert wird und somit die "Grisha"-Trilogie und die "Krähen"-Bestsellern auf die Leinwand vereint werden. Die Grisha-Trilogie um "Grisha - Goldene Flammen", "Grisha - Eisige Wellen", "Grisha - Lodernde Schwingen" sowie das weiterführende Spinn-Off "King of Scars - Thron aus Asche und Gold" habe ich schon im letzten Jahr gelesen und bin ganz verliebt in die slawische Fantasywelt gewesen, die Leigh Bardugo entworfen hat. Mit dem düsteren Gangster-Setting, den vielschichtig entwickelten Protagonisten und dem Spannungsbogen voller sensationeller Überraschungen spielt "Das Lied der Krähen" jedoch in einer ganz anderen Liga und lässt die "Grisha"-Trilogie weit hinter sich zurück.


"Wenn jeder weiß, dass du ein Monster bist, brauchst du deine Zeit nicht damit zu verschwenden, monströse Dinge zu tun."


"Leigh Bardugo + Knaur Verlag" scheint eine vielversprechende Kombination zu sein - die Gestaltung ist mal wieder ein Traum. Das Hauptmotiv der großen Krähe, deren Federn wie schwarzes Pech eine graue Festung umfließen, die sich erst auf den zweiten Blick vom schiefergrauen Hintergrund abhebt, ist ganz dem Originalcover nachempfunden und setzt die düster-geheimnisvolle Grundstimmung der Geschichte auf ansprechende Weise um. Auch der Titel enthält das Krähenmotiv des Originaltitels "Six of Crows", weshalb hier aber ein Lied mit von Partie sein muss, ist mir auch nach längerem Nachdenken nicht ganz klar. Sehr überzeugend an der Gestaltung sind auch der schwarze Buchschnitt und die beiden wundervoll detailliert ausgestalteten Karten in den Leselaschen der broschierten Ausgabe. In der vorderen Lasche ist die schon aus der Trilogie bekannte Weltkarte des gesamten "Grisha-Verse" abgedruckt, während ganz hinten eine Karte des Eistribunals in Fjerda beim Orientieren hilft.


"Das Eistribunal ist ein gewaltiges Bauwerk", sagte Matthias und wandte sich ab. "Ich kann nicht jeden Spalt und jede Ecke etikettieren."
"Dann lasst uns hoffen, dass nicht in diesen Ecken lauert", antwortete Kaz."


Sehr hilfreich ist auch die vorangestellte Übersicht der Grisha-Orden. Die grundlegenden Konzepte von Bardugos magischer Welt erschließen sich zwar zumeist aus dem Zusammenhang und dem Wortlaut, - So haben die Korporalki (Entherzer, Heiler, Bildner) Macht über den menschlichen Körper, Ätheralki sind Beschwörer, die durch gekonnte Manipulation ihre Umwelt kontrollieren können (Feuer = Inferni, Winde = Stürmer und Wasser =Fluter), und Materialki haben sich auf die Beeinflussung von Metallen (Durasten) oder Gifte (Alkemi) spezialisiert - dennoch wird der Überblick so manchem verwirrten Leser, der die vielen Begriffe noch nicht aus der Grisha-Trilogie kennt, dabei helfen, die Handlung besser zu verstehen. Zwar ist es für den Handlungsverlauf absolut nicht nötig, die anderen Bände gelesen zu haben, die im selben fiktiven Universum spielen, wie die Krähen-Dilogie, es hilft aber ungemein dabei, den Eindruck zu vervollständigen, wenn man schon mit Vorwissen an "Das Lied der Krähen" herangeht.


"Halte nach Wundern Ausschau und lausche den Gutenachtgeschichten.". Verfolge die Geschichten über Hexen und Kobolde und unerklärliche Ereignisse- Manchmal war es nur Aberglaube. Aber manchmal steckte auch Wahrheit im Herzen der einheimischen Legenden - Menschen, die mit Gaben geboren wurden, die man in ihren Ländern nicht verstand."


Wer die Reihe nicht gelesen hat, wird nämlich nur ein sehr sporadisches, unscharfes Bild der restlichen Grisha-Welt mitnehmen. Denn Leigh Bardugo hält sich hier nicht mit einem globalen Worldbuilding auf, sondern konzentriert sich ganz auf die für ihre Handlung wichtigen Spielorte. Zuerst entführt sie uns nach Ketterdam, eine vorindustrielle, niederländisch angehauchte Hafenstadt, die durch Börsenhandel, viele Reisende, zwielichtige Spielhallen und eine brutalen Gangkultur geprägt ist. Hier herrscht also eine ganz andere, weitaus düstere und dynamischere Stimmung vor als im winterlich, skandinavischen Fjerda oder dem stark russisch angehauchten, märchenhaften Ravka, welches wir in der Grisha-Trilogie kennenlernen konnten. Eines hat der Einstieg in "Das Lied der Krähen" aber mit der Trilogie gemeinsam: er ist genauso anspruchsvoll und überfordernd mit dem komplizierten, chaotischen Setting, den vielen neuen und fremden Namen und ganzen FÜNF Erzählperspektiven.


"Er überrascht mich."
"Ja. Wie ein Bienenschwarm in deiner Kleiderschublade."
Jesper stieß ein bellendes Lachen aus. "Genau so."
"Was machen wir also hier?"
(...)"Auf Honig hoffen, denke ich. Und beten, dass wir nicht gestochen werden."


Schon der erste Satz ist legendär: „Joost hatte zwei Probleme: den Mond und seinen Schnauzer.“. Leigh Bardugo wirft uns ohne Vorwarnung mitten ins Geschehen und erklärt nur das aller nötigste, während sie die Fäden ihrer Handlung auswirft. Der für diese Geschichte so charakteristische Sog entwickelt sich aber leider erst mit der Zeit. Nicht etwa, weil der Anfang nicht spannend erzählt wäre - im Gegenteil: von einer spektakulären Befreiungsaktion, Arenakämpfen, mehreren Schießereien und Explosionen ist alles dabei -, sondern weil wir erst im Laufe der Zeit eine wirkliche Verbindung zu den Figuren aufbauen. Während unsere Protagonisten einen unmöglichen Coup planen und durch das Grisha-Verse reisen, wird nach und nach durch Einschübe und Rückblicke deren Geschichte erzählt. Mit jeder Seite, auf der wir mehr über sie erfahren, schließen wir sie mehr ins Herz und die rasante Handlung wird emotional mitreißender. Nachdem man sich also mal in die Geschichte eingefunden hat, kann man sie ohne eine einzige Länge in einem Rutsch weglesen und die 600 Seiten vergehen wie im Flug.


"Vielleicht würde Inej versagen. Oder Nina. Oder Kaz. Oder ich. Vielleicht versage ich. Sechs Menschen, aber eintausend Möglichkeiten, wie dieser wahnwitzige Plan schiefgehen konnte."


Besonders beeindruckend ist, dass die Geschichte zwar hochkomplex ist, aber eine klare Linie behält. Theoretisch lesen wir hier von fünf Einzelschicksalen, die sich durch eine unmögliche Aufgabe treffen und miteinander verschmelzen. Sowohl Kaz, Inej, Matthias, Nina und Jesper (Warum Wylan nicht auch erzählen darf, sodass alle sechs Krähen zu Wort kommen, erschließt sich mir immer noch nicht) haben einiges erlebt, was im Laufe der Handlung entweder von Nutzen ist, oder verarbeitet werden muss. Der Autorin gelingt hier etwas, was sie in die Königsklasse der Fantasy katapultiert: eine herausragende Balance zwischen Figurenaufbau und Spannung. Die Haupthandlung, also der Einbruch in das Eistribunal, rückt zu keinem Zeitpunkt zu stark in den Hintergrund, auch wenn die Geschichte eigentlich vor allem von den Geistern der Vergangenheit lebt, welche durch die Rückblicke zwischen den Figuren schweben und deren Beziehungen verkomplizieren. Zu Beginn war ich sehr skeptisch angesichts der fünf Erzählperspektiven, doch schon bald wurde mir klar, dass diese absolut nötig waren, da nur durch die vielen Wechsel die gesamten Wahrheiten bis zum Ende vor dem Leser verborgen werden und wir nur so alle Hintergrundgeschichten kennenlernen können. Außerdem agieren die sechs Krähen gerade ab dem späteren Mittelteil zum Teil getrennt voneinander und wir können nur so den Überblick über die Einzelhandlungen behalten. Dennoch: Respekt an Leigh Bardugo, dass sie hier nicht die Kontrolle und die Übersicht verloren hat.


"Matthias kannte Monster, und ein Blick auf Kaz Brekker hatte ihm gesagt, dass er eine Kreatur war, die zu lange in der Dunkelheit gelebt hatte – und als er wieder zurück ans Licht gekrochen war, hatte er etwas mit sich gebracht."


Ihre Figurencharakterisierungen sind wie immer durch zärtliches Feingefühl und unvorhersehbare Skrupellosigkeit geprägt. Ihre Figuren - der Anführer und Pläneschmieder Kaz, das katzenhafte Phantom Inej, der Scharfschütze Jesper, der gutbürgerliche Ausreißer Wylan, die Grisha-Entherzerin Nina und der Hexenjäger Matthias - sind so bunt, lebendig und ambivalent dargestellt, wie es fiktive Figuren auf 600 Seiten Umfang nur sein können. Dass sich eine Menge Rätsel und Wissenslücken um die Protagonisten ranken, hilft natürlich auch dabei, sie möglichst interessant zu präsentieren. Wie wurde Inej zum Phantom? Weshalb saß Matthias im Gefängnis? Welche Schuld trägt Nina mit sich herum? Wie haben die beiden sich kennengelernt? Weshalb spielt Jesper? Und vor allem: was will Kaz Brekker? Jener ist einer der undurchsichtigsten Personen, die mir je begegnet ist und mein geheimer Liebling der Reihe. Eine ordentliche Portion Geheimnis und Überraschungspotential bringen aber alle Beteiligten mit sich. Jeder der Krähen hat etwas zu verbergen, eigene Motive und natürlich tauchen auch noch ein paar alte und neue Gefühle auf, um die Dynamik der Gruppe zusätzlich zu verkomplizieren. Leigh Bardugo setzt hier mehr auf Konflikte und Anziehung als auf große Liebesdramen, dennoch entspinnen sich die zarte Anfänge von gleich drei Lovestories.


"Sie würde niemanden Liebe wünschen. Sie war der Gast, den man willkommen hieß, und dann nicht mehr los wurde."


Man mag vielleicht nicht zu jedem Zeitpunkt der Geschichte alle der sechs Krähen, aber sie sind so herrlich echt, authentisch und klischeefrei, dass man sie einfach feiern muss. Hier gibt es zur Abwechslung mal keine Prophezeiungen, keine auserwählten Special-Snowflakes, keine heiligen Ideale und keine große, antagonistische Weltuntergangsbedrohung. Was wir hier lesen sind einfach sechs gesetzlose Außenseiter auf dem Weg zu sehr viel Ruhm und Geld... oder in den Tod. Der Beiname der Reihe "Glory or Grave" wird also zum Programm. Und da wären wir bei dem zweiten Punkt, der unvorhersehbaren Skrupellosigkeit, angelangt. Bis zum Ende kann hier jederzeit absolut alles passieren. Nicht nur dass die Autorin ihre Leser durch Erzählkniffe und spannende Wendungen auf falsche Fährten lockt, mit der Komplexität der Pläne, dem Aufbau und Detailreichtum der Welt immer wieder begeistert und verblüfft, sie schreibt auch taff und unverfroren genug, dass man ihr ein spontaner Charaktertod ohne Probleme zutrauen würde. Ich liebe Gangster-Geschichten, ich liebe spektakuläre Coups und ich liebe es, wenn komplizierte Pläne funktionieren - doch noch mehr liebe ich es, wenn Situationen so entgleisen, dass alles auf der Kippe steht und die Geschichte sich plötzlich in jede erdenkliche Richtung bewegen könnte. Und genau solche Momente gibt es gerade im spektakulären letzten Drittel im Eistribunal eine ganze Menge.


"Das ist es, dachte Inej. Sie hatten ihn angeschoben, und jetzt rollte der Felsbrocken den Berg hinab. Wer wusste schon, welche Zerstörung er anrichten und was auf den Trümmern erbaut werden würde."


Durch die besondere Erzählweise ist "Das Lied der Krähen" ein sehr intensives und forderndes Leseerlebnis, das eine gewisse Bereitschaft, den Kopf anzustrengen und sich auf die Welt, Charaktere und miteinander verflochtenen Handlungsstränge einzulassen, verlangt. Es schwingen aber auch noch andere Subtöne mit. Neben den feministischen Zügen, die sich immer wieder abzeichnen, ist auch die Diversität der Protagonisten positiv zu vermerken. Ob bi-, pan-, hetero-, oder homosexuell spielt ebenso wie die Hautfarbe und die Körperstatur keine Rolle und wird nur nebenbei erwähnt - ebenso wie es im echten Leben auch sein sollte: keine große Sache. Sie werden genannt, akzeptiert und vergessen, herrlich selbstverständlich. Auch unterschiedliche Religionen und Wertvorstellungen tauchen hier auf und machen das diverse Bild bunter, ohne dass es die Autorin übertrieben hat oder heraushängen lässt, wie in manch anderen Jugendbüchern, die sich der Diversität verschrieben haben, der Fall ist. So fügen sich auch die Protagonisten gut in die wundervolle, eigensinnige, kunterbunte, authentische, magische Welt - das Grisha-Verse - ein.


"Inej hatte ihm einmal angeboten, ihm beizubringen, wie man fiel. "Der Trick ist, sich nicht niederschlagen zu lassen", hatte er gescherzt. "Nein Kaz", sagte sie dann, "der Trick ist, wieder aufzustehen."


Dass ich trotz meiner Anfangsschwierigkeiten in diese komplexe Fantasywelt eintauchen konnte, garantierte mal wieder der wundervolle Schreibstil der Autorin. Düster, magisch und spannend webt sie ihre Geschichte, nimmt uns mit zu schillernden Schauplätzen und schockt uns mit Überraschungen. Mit Grisha-Hexen und Hexenjägern, Schifffahrt und Technologie, Drogen und Gewalt erschafft Leigh Bardugo eine einnehmende Welt abseits der sonst so präsenten Vampir-/ Werwolf-/ Zauberer-/ Feen-/ Elfen-/ Zwergen-/ Fae-/ Drachen-/ Nixen-Fantasy und zeigt, dass man auch mit ganz neuen Ideen begeistern kann. Dabei tragen nie Kämpfe, Intrigen, Brutalität und Irrglaube den Sieg davon, sondern immer Mitgefühl, Freundschaft und Liebe, sodass sich die Geschichte liest wie ein Märchen: mal düster und bedrohlich, mal leuchtend bunt und immer wunderschön! Etwas schade sind die zum Teil seltsamen Übersetzungen von vermutlich in der Originalsprache besser funktionierenden Gaunerbegriffen (z.B. August, Täubchen). Ansonsten lässt sich "Das Lied der Krähen" aber flüssig lesen und bietet den perfekten Stoff für eine Verfilmung, die der Geschichte hoffentlich gerecht werden wird!



Fazit:

"Das Lied der Krähen" ist dank des düsteren Gangster-Setting, der vielschichtig entwickelten, ambivalenten Figuren, der fordernden, komplexen Handlung und dem Spannungsbogen voller sensationeller Überraschungen deutlich erwachsener und ausgereifter als die "Grischa-Trilogie" und konnte mich nach leichten Anfangsschwierigkeiten vollkommen überzeugen. Brutal, unvorhersehbar, originell und intensiv - ein erstes Highlight des noch jungen Jahres!

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  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 15.01.2021

Brutal, unvorhersehbar, originell und intensiv - ein erstes Highlight des noch jungen Jahres!

Das Lied der Krähen (2 MP3-CDs)
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Die Motivation jetzt - Jahre nach dem großen Hype - mit der Krähen-Dilogie zu beginnen ist in erster Linie einer Ankündigung des Streamingdienstes Netflix geschuldet. Schon seit letztem Jahr ist klar, ...

Die Motivation jetzt - Jahre nach dem großen Hype - mit der Krähen-Dilogie zu beginnen ist in erster Linie einer Ankündigung des Streamingdienstes Netflix geschuldet. Schon seit letztem Jahr ist klar, dass das "Grisha"-Verse als großes Serien-Event produziert wird und somit die "Grisha"-Trilogie und die "Krähen"-Bestsellern auf die Leinwand vereint werden. Die Grisha-Trilogie um "Grisha - Goldene Flammen", "Grisha - Eisige Wellen", "Grisha - Lodernde Schwingen" sowie das weiterführende Spinn-Off "King of Scars - Thron aus Asche und Gold" habe ich schon im letzten Jahr gelesen und bin ganz verliebt in die slawische Fantasywelt gewesen, die Leigh Bardugo entworfen hat. Mit dem düsteren Gangster-Setting, den vielschichtig entwickelten Protagonisten und dem Spannungsbogen voller sensationeller Überraschungen spielt "Das Lied der Krähen" jedoch in einer ganz anderen Liga und lässt die "Grisha"-Trilogie weit hinter sich zurück.


"Wenn jeder weiß, dass du ein Monster bist, brauchst du deine Zeit nicht damit zu verschwenden, monströse Dinge zu tun."


"Leigh Bardugo + Knaur Verlag" scheint eine vielversprechende Kombination zu sein - die Gestaltung ist mal wieder ein Traum. Das Hauptmotiv der großen Krähe, deren Federn wie schwarzes Pech eine graue Festung umfließen, die sich erst auf den zweiten Blick vom schiefergrauen Hintergrund abhebt, ist ganz dem Originalcover nachempfunden und setzt die düster-geheimnisvolle Grundstimmung der Geschichte auf ansprechende Weise um. Auch der Titel enthält das Krähenmotiv des Originaltitels "Six of Crows", weshalb hier aber ein Lied mit von Partie sein muss, ist mir auch nach längerem Nachdenken nicht ganz klar. Sehr überzeugend an der Gestaltung sind auch der schwarze Buchschnitt und die beiden wundervoll detailliert ausgestalteten Karten in den Leselaschen der broschierten Ausgabe. In der vorderen Lasche ist die schon aus der Trilogie bekannte Weltkarte des gesamten "Grisha-Verse" abgedruckt, während ganz hinten eine Karte des Eistribunals in Fjerda beim Orientieren hilft.


"Das Eistribunal ist ein gewaltiges Bauwerk", sagte Matthias und wandte sich ab. "Ich kann nicht jeden Spalt und jede Ecke etikettieren."
"Dann lasst uns hoffen, dass nicht in diesen Ecken lauert", antwortete Kaz."


Sehr hilfreich ist auch die vorangestellte Übersicht der Grisha-Orden. Die grundlegenden Konzepte von Bardugos magischer Welt erschließen sich zwar zumeist aus dem Zusammenhang und dem Wortlaut, - So haben die Korporalki (Entherzer, Heiler, Bildner) Macht über den menschlichen Körper, Ätheralki sind Beschwörer, die durch gekonnte Manipulation ihre Umwelt kontrollieren können (Feuer = Inferni, Winde = Stürmer und Wasser =Fluter), und Materialki haben sich auf die Beeinflussung von Metallen (Durasten) oder Gifte (Alkemi) spezialisiert - dennoch wird der Überblick so manchem verwirrten Leser, der die vielen Begriffe noch nicht aus der Grisha-Trilogie kennt, dabei helfen, die Handlung besser zu verstehen. Zwar ist es für den Handlungsverlauf absolut nicht nötig, die anderen Bände gelesen zu haben, die im selben fiktiven Universum spielen, wie die Krähen-Dilogie, es hilft aber ungemein dabei, den Eindruck zu vervollständigen, wenn man schon mit Vorwissen an "Das Lied der Krähen" herangeht.


"Halte nach Wundern Ausschau und lausche den Gutenachtgeschichten.". Verfolge die Geschichten über Hexen und Kobolde und unerklärliche Ereignisse- Manchmal war es nur Aberglaube. Aber manchmal steckte auch Wahrheit im Herzen der einheimischen Legenden - Menschen, die mit Gaben geboren wurden, die man in ihren Ländern nicht verstand."


Wer die Reihe nicht gelesen hat, wird nämlich nur ein sehr sporadisches, unscharfes Bild der restlichen Grisha-Welt mitnehmen. Denn Leigh Bardugo hält sich hier nicht mit einem globalen Worldbuilding auf, sondern konzentriert sich ganz auf die für ihre Handlung wichtigen Spielorte. Zuerst entführt sie uns nach Ketterdam, eine vorindustrielle, niederländisch angehauchte Hafenstadt, die durch Börsenhandel, viele Reisende, zwielichtige Spielhallen und eine brutalen Gangkultur geprägt ist. Hier herrscht also eine ganz andere, weitaus düstere und dynamischere Stimmung vor als im winterlich, skandinavischen Fjerda oder dem stark russisch angehauchten, märchenhaften Ravka, welches wir in der Grisha-Trilogie kennenlernen konnten. Eines hat der Einstieg in "Das Lied der Krähen" aber mit der Trilogie gemeinsam: er ist genauso anspruchsvoll und überfordernd mit dem komplizierten, chaotischen Setting, den vielen neuen und fremden Namen und ganzen FÜNF Erzählperspektiven.


"Er überrascht mich."
"Ja. Wie ein Bienenschwarm in deiner Kleiderschublade."
Jesper stieß ein bellendes Lachen aus. "Genau so."
"Was machen wir also hier?"
(...)"Auf Honig hoffen, denke ich. Und beten, dass wir nicht gestochen werden."


Schon der erste Satz ist legendär: „Joost hatte zwei Probleme: den Mond und seinen Schnauzer.“. Leigh Bardugo wirft uns ohne Vorwarnung mitten ins Geschehen und erklärt nur das aller nötigste, während sie die Fäden ihrer Handlung auswirft. Der für diese Geschichte so charakteristische Sog entwickelt sich aber leider erst mit der Zeit. Nicht etwa, weil der Anfang nicht spannend erzählt wäre - im Gegenteil: von einer spektakulären Befreiungsaktion, Arenakämpfen, mehreren Schießereien und Explosionen ist alles dabei -, sondern weil wir erst im Laufe der Zeit eine wirkliche Verbindung zu den Figuren aufbauen. Während unsere Protagonisten einen unmöglichen Coup planen und durch das Grisha-Verse reisen, wird nach und nach durch Einschübe und Rückblicke deren Geschichte erzählt. Mit jeder Seite, auf der wir mehr über sie erfahren, schließen wir sie mehr ins Herz und die rasante Handlung wird emotional mitreißender. Nachdem man sich also mal in die Geschichte eingefunden hat, kann man sie ohne eine einzige Länge in einem Rutsch weglesen und die 600 Seiten vergehen wie im Flug.


"Vielleicht würde Inej versagen. Oder Nina. Oder Kaz. Oder ich. Vielleicht versage ich. Sechs Menschen, aber eintausend Möglichkeiten, wie dieser wahnwitzige Plan schiefgehen konnte."


Besonders beeindruckend ist, dass die Geschichte zwar hochkomplex ist, aber eine klare Linie behält. Theoretisch lesen wir hier von fünf Einzelschicksalen, die sich durch eine unmögliche Aufgabe treffen und miteinander verschmelzen. Sowohl Kaz, Inej, Matthias, Nina und Jesper (Warum Wylan nicht auch erzählen darf, sodass alle sechs Krähen zu Wort kommen, erschließt sich mir immer noch nicht) haben einiges erlebt, was im Laufe der Handlung entweder von Nutzen ist, oder verarbeitet werden muss. Der Autorin gelingt hier etwas, was sie in die Königsklasse der Fantasy katapultiert: eine herausragende Balance zwischen Figurenaufbau und Spannung. Die Haupthandlung, also der Einbruch in das Eistribunal, rückt zu keinem Zeitpunkt zu stark in den Hintergrund, auch wenn die Geschichte eigentlich vor allem von den Geistern der Vergangenheit lebt, welche durch die Rückblicke zwischen den Figuren schweben und deren Beziehungen verkomplizieren. Zu Beginn war ich sehr skeptisch angesichts der fünf Erzählperspektiven, doch schon bald wurde mir klar, dass diese absolut nötig waren, da nur durch die vielen Wechsel die gesamten Wahrheiten bis zum Ende vor dem Leser verborgen werden und wir nur so alle Hintergrundgeschichten kennenlernen können. Außerdem agieren die sechs Krähen gerade ab dem späteren Mittelteil zum Teil getrennt voneinander und wir können nur so den Überblick über die Einzelhandlungen behalten. Dennoch: Respekt an Leigh Bardugo, dass sie hier nicht die Kontrolle und die Übersicht verloren hat.


"Matthias kannte Monster, und ein Blick auf Kaz Brekker hatte ihm gesagt, dass er eine Kreatur war, die zu lange in der Dunkelheit gelebt hatte – und als er wieder zurück ans Licht gekrochen war, hatte er etwas mit sich gebracht."


Ihre Figurencharakterisierungen sind wie immer durch zärtliches Feingefühl und unvorhersehbare Skrupellosigkeit geprägt. Ihre Figuren - der Anführer und Pläneschmieder Kaz, das katzenhafte Phantom Inej, der Scharfschütze Jesper, der gutbürgerliche Ausreißer Wylan, die Grisha-Entherzerin Nina und der Hexenjäger Matthias - sind so bunt, lebendig und ambivalent dargestellt, wie es fiktive Figuren auf 600 Seiten Umfang nur sein können. Dass sich eine Menge Rätsel und Wissenslücken um die Protagonisten ranken, hilft natürlich auch dabei, sie möglichst interessant zu präsentieren. Wie wurde Inej zum Phantom? Weshalb saß Matthias im Gefängnis? Welche Schuld trägt Nina mit sich herum? Wie haben die beiden sich kennengelernt? Weshalb spielt Jesper? Und vor allem: was will Kaz Brekker? Jener ist einer der undurchsichtigsten Personen, die mir je begegnet ist und mein geheimer Liebling der Reihe. Eine ordentliche Portion Geheimnis und Überraschungspotential bringen aber alle Beteiligten mit sich. Jeder der Krähen hat etwas zu verbergen, eigene Motive und natürlich tauchen auch noch ein paar alte und neue Gefühle auf, um die Dynamik der Gruppe zusätzlich zu verkomplizieren. Leigh Bardugo setzt hier mehr auf Konflikte und Anziehung als auf große Liebesdramen, dennoch entspinnen sich die zarte Anfänge von gleich drei Lovestories.


"Sie würde niemanden Liebe wünschen. Sie war der Gast, den man willkommen hieß, und dann nicht mehr los wurde."


Man mag vielleicht nicht zu jedem Zeitpunkt der Geschichte alle der sechs Krähen, aber sie sind so herrlich echt, authentisch und klischeefrei, dass man sie einfach feiern muss. Hier gibt es zur Abwechslung mal keine Prophezeiungen, keine auserwählten Special-Snowflakes, keine heiligen Ideale und keine große, antagonistische Weltuntergangsbedrohung. Was wir hier lesen sind einfach sechs gesetzlose Außenseiter auf dem Weg zu sehr viel Ruhm und Geld... oder in den Tod. Der Beiname der Reihe "Glory or Grave" wird also zum Programm. Und da wären wir bei dem zweiten Punkt, der unvorhersehbaren Skrupellosigkeit, angelangt. Bis zum Ende kann hier jederzeit absolut alles passieren. Nicht nur dass die Autorin ihre Leser durch Erzählkniffe und spannende Wendungen auf falsche Fährten lockt, mit der Komplexität der Pläne, dem Aufbau und Detailreichtum der Welt immer wieder begeistert und verblüfft, sie schreibt auch taff und unverfroren genug, dass man ihr ein spontaner Charaktertod ohne Probleme zutrauen würde. Ich liebe Gangster-Geschichten, ich liebe spektakuläre Coups und ich liebe es, wenn komplizierte Pläne funktionieren - doch noch mehr liebe ich es, wenn Situationen so entgleisen, dass alles auf der Kippe steht und die Geschichte sich plötzlich in jede erdenkliche Richtung bewegen könnte. Und genau solche Momente gibt es gerade im spektakulären letzten Drittel im Eistribunal eine ganze Menge.


"Das ist es, dachte Inej. Sie hatten ihn angeschoben, und jetzt rollte der Felsbrocken den Berg hinab. Wer wusste schon, welche Zerstörung er anrichten und was auf den Trümmern erbaut werden würde."


Durch die besondere Erzählweise ist "Das Lied der Krähen" ein sehr intensives und forderndes Leseerlebnis, das eine gewisse Bereitschaft, den Kopf anzustrengen und sich auf die Welt, Charaktere und miteinander verflochtenen Handlungsstränge einzulassen, verlangt. Es schwingen aber auch noch andere Subtöne mit. Neben den feministischen Zügen, die sich immer wieder abzeichnen, ist auch die Diversität der Protagonisten positiv zu vermerken. Ob bi-, pan-, hetero-, oder homosexuell spielt ebenso wie die Hautfarbe und die Körperstatur keine Rolle und wird nur nebenbei erwähnt - ebenso wie es im echten Leben auch sein sollte: keine große Sache. Sie werden genannt, akzeptiert und vergessen, herrlich selbstverständlich. Auch unterschiedliche Religionen und Wertvorstellungen tauchen hier auf und machen das diverse Bild bunter, ohne dass es die Autorin übertrieben hat oder heraushängen lässt, wie in manch anderen Jugendbüchern, die sich der Diversität verschrieben haben, der Fall ist. So fügen sich auch die Protagonisten gut in die wundervolle, eigensinnige, kunterbunte, authentische, magische Welt - das Grisha-Verse - ein.


"Inej hatte ihm einmal angeboten, ihm beizubringen, wie man fiel. "Der Trick ist, sich nicht niederschlagen zu lassen", hatte er gescherzt. "Nein Kaz", sagte sie dann, "der Trick ist, wieder aufzustehen."


Dass ich trotz meiner Anfangsschwierigkeiten in diese komplexe Fantasywelt eintauchen konnte, garantierte mal wieder der wundervolle Schreibstil der Autorin. Düster, magisch und spannend webt sie ihre Geschichte, nimmt uns mit zu schillernden Schauplätzen und schockt uns mit Überraschungen. Mit Grisha-Hexen und Hexenjägern, Schifffahrt und Technologie, Drogen und Gewalt erschafft Leigh Bardugo eine einnehmende Welt abseits der sonst so präsenten Vampir-/ Werwolf-/ Zauberer-/ Feen-/ Elfen-/ Zwergen-/ Fae-/ Drachen-/ Nixen-Fantasy und zeigt, dass man auch mit ganz neuen Ideen begeistern kann. Dabei tragen nie Kämpfe, Intrigen, Brutalität und Irrglaube den Sieg davon, sondern immer Mitgefühl, Freundschaft und Liebe, sodass sich die Geschichte liest wie ein Märchen: mal düster und bedrohlich, mal leuchtend bunt und immer wunderschön! Etwas schade sind die zum Teil seltsamen Übersetzungen von vermutlich in der Originalsprache besser funktionierenden Gaunerbegriffen (z.B. August, Täubchen). Ansonsten lässt sich "Das Lied der Krähen" aber flüssig lesen und bietet den perfekten Stoff für eine Verfilmung, die der Geschichte hoffentlich gerecht werden wird!



Fazit:

"Das Lied der Krähen" ist dank des düsteren Gangster-Setting, der vielschichtig entwickelten, ambivalenten Figuren, der fordernden, komplexen Handlung und dem Spannungsbogen voller sensationeller Überraschungen deutlich erwachsener und ausgereifter als die "Grischa-Trilogie" und konnte mich nach leichten Anfangsschwierigkeiten vollkommen überzeugen. Brutal, unvorhersehbar, originell und intensiv - ein erstes Highlight des noch jungen Jahres!

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