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Veröffentlicht am 22.11.2020

Ein vielversprechender Reihenauftakt!

Kaleidra - Wer das Dunkel ruft
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Ich habe von Kira Licht jetzt schon drei Bücher gelesen: ihren YA-Erstling "Sunset Beach" und ihre Götter-Dilogie. Von allen drei Werken war ich total begeistert - hatte aber auch einiges zu kritisieren. ...

Ich habe von Kira Licht jetzt schon drei Bücher gelesen: ihren YA-Erstling "Sunset Beach" und ihre Götter-Dilogie. Von allen drei Werken war ich total begeistert - hatte aber auch einiges zu kritisieren. Und genauso stehe ich auch zu ihrem neuen Urban Fantasy-Auftakt. "Kaleidra - Wer das Dunkel ruft" ein eher ungewöhnliches Thema wundervoll in einer schillernden, witzigen und geheimnisvollen Geschichte um.


"Wir sind Alchemisten". Er sah mich eindringlich an. "Und du bist eine von uns. Eine Loge ist eine Arbeitsgemeinschaft, ein Orden so was wie deine Nationalität. Man ist entweder Silber, Gold oder Quecksilber. Wir sind Gold und mit Silber ist alles kuschlig, mit Quecksilber bekriegen wir uns, weil sie die Weltherrschaft wollen. Klingt wie ein billiger Actionfilm, heißt bei uns aber Realität. Willkommen in der Welt der unbegrenzten Möglichkeiten. Ich hoffe, du bist gut in Chemie."


Schon die Gestaltung ist einfach traumhaft und bringt mich als absoluten Cover-Kritiker immer wieder zum Schwärmen. Düster, geheimnisvoll und wunderschön - die Gestaltung bringt die Atmosphäre der Geschichte auf den Punkt. Nicht nur dass die Lichtpunkte und die geometrischen Formen die naturwissenschaftlichen aber auch fantastischen Anklänge des Romans auffangen, die starken Kontraste zwischen hellem, weichen Gold und dunklen, schwarzen Schatten passen auch wunderbar zum Thema. Zusammen mit dem goldenen Titel und dem dunklen Lesebändchen wird das Buch zu einem Gesamtkunstwerk. Auffällig am Innenleben dieser Schönheit ist, dass die Seiten sehr dünn sind und die 560 Seiten deshalb optisch eher wie höchstens 350 erscheinen. Eine kleine positive Überraschung hat das Buch noch auf den letzten Seiten parat. Hier wartet nämlich ein hilfreiches Glossar auf den verwirrten Leser.


"Er neigte den Kopf zu mir, und für den Bruchteil einer Sekunde strich sein warmer Atem über mein Ohr, als er dieses eine Wort flüsterte. "Kaleidra."
Es klang, als würde ein sanfter Hauch durch ein Windspiel streichen. Sphärisch, schillernd und glockenhell. Es berührte einen unbekannten Teil von mir. Ich schmeckte Farben auf meiner Zunge, ich hörte die raue Schönheit, die es verhieß, ich fühlte die Kraft in mir leise lachen. "Kaleidra"


Verwirrt deshalb, da Kira Licht hier ein eher ungewöhnliches Thema zum Mittelpunkt ihrer neuen Reihe auserwählt hat: die Alchemie. Dass Bücher über verborgene Geheimlogen, Reisen durch magische Artefakte und Konkurrenzkämpfe zwischen den Gruppierungen gut als Jugendfantasy funktionieren, weiß man spätestens seit "Rubinrot" und so löste sich meine anfängliche Skepsis bald in Begeisterung auf. Denn wer hätte gedacht, dass chemische Reaktionen, verstaubte Manuskripte und komplizierte Rätsel so spannend sein können? Die Protagonistin und Ich-Erzählerin Emilia ahnt auf jeden Fall nicht, welch turbulentes Abenteuer auf sie zu kommt, als sie wenige Tage nach ihrer letzten Prüfung die Wanderausstellung zum sagenumwobenen Voynich-Manuskript besucht. Als sie irgendwas von Planeten, blutenden Pelikanen und Drachen vorliest, staunen nicht nur ihre Freunde nicht schlecht, es werden auch verborgene Mächte auf sie aufmerksam. Denn das Manuskript kann von keinem Menschen oder Computer der Welt entschlüsselt werden - nur von einer Nachfahrin der berühmten Silberalchimistin Maria di Luca...


"Für sie ist das gesamte Voynich-Manuskript eine Anleitung zu einem großen Spiel." Er hielt in seiner Bewegung inne, ließ das Handy sinken, und dann sah er mich schließlich wieder direkt an. "Und du bist vermutlich die Einzige, die die Regeln durchschauen kann."


So geraten wir zusammen mit Emilia in eine geheime Welt voller Geheimlogen, verschlüsselten Dokumente, gefährlichen Missionen, uralte Feindschaften und Allianzen und müssen uns erst mit den neuen Gegebenheiten zurechtfinden, wo Schlangenamulette durch die Luft fliegen, man mit dem Stein der Weisen durch die Welt reisen kann und Augen silbern oder golden leuchten. Das klingt jetzt erstmal sehr magisch und auch die Genrebezeichnung "Urban Fantasy" weist auf einen hohen Fantastikgehalt hin, in "Kaleidra" zieht die Autorin das Thema "Alchemie" jedoch eher wissenschaftlich auf und erklärt viele Vorgänge durch chemische Reaktionen statt durch Magie. Wer jetzt denkt, "Chemie, igitt", dem sei versichert, dass man die Geschichte auch ohne jegliches chemische Vorwissen gut verfolgen kann, es aber dennoch besser wäre, wenn man zumindest das nötige Vorstellungsvermögen mitbringt. Wer nicht weiß, dass Natrium zusammen mit Chlor zu Salz reagiert, oder Quecksilber einen niedrigeren Siedepunkt hat als Silber und Gold, wird die Handlung dank Kiras leicht verständlichen Schilderungen trotzdem nachvollziehen können. Richtig Spaß macht die Geschichte aber erst, wenn man die innere Logik der Actionszenen versteht und auch mit Kiras Beschreibungen von Laboren, fliegenden Riesenschlangen und Parallelwelten etwas anfangen kann - nur dann entfaltet sie ihr volles Potential. Wenn Chemie also euer wunder Punkt ist (bei mir zum Glück nicht - Chemie Leistungskurs in der Schule haha), kann ich es euch nicht verübeln, wenn ihr auf Grund der Thematik abspringt.


"Der Tod ist unser täglicher Begleiter." Er hob ganz leicht das Kinn. "Aber ich bin sehr gut darin, ihm die Stirn zu bieten. Und ich bin sehr gut darin, ihn von anderen fernzuhalten." Er sah kurz zur Seite, doch dann glitt sein Blick zurück zu mir. "Ihn von dir fernzuhalten."


Neben dem prominenten Mystery/Chemie Aspekt, aus dem die Alchemie-Thematik besteht, ist auch eine starke Abenteuerkomponente vertreten. Emilia muss nämlich nicht nur damit zurechtkommen, dass sie von einer uralten Linie von Alchemisten abstammt, sondern wird auch dringend in der Goldloge gebraucht, um ein zerfallendes Dokument zu entschlüsseln und die Anweisungen darauf zu befolgen, bevor sie für immer verloren sind. Das Voynich-Manuskript (das es übrigens tatsächlich gibt), führt Emilia und ihren Mitstreiter aus der Goldloge, Ben, an verschiedene historische Orte auf der ganzen Welt, an denen Rätsel zu lösen und Bausteine zu bergen sind. Egal ob nach Palermo, Syrien oder Frankreich - es gibt immer etwas zu entdecken und allerlei gefährliche Hindernisse, die Ben und Emilia im Weg stehen. Diese immer mal wieder eingestreuten Indiana-Jones-Abenteuer, die sich mit gelegentlichen Aufeinandertreffen mit der rivalisierenden Quecksilberloge abwechseln, boosten die Spannung natürlich enorm, bleiben aber insgesamt recht knapp erzählt und lassen genügend Platz für Gespräche, Fragen, Kennenlernen und Emilias Ankommen in ihrer neuen Welt.


"Du bist mein, ich bin dein.
Wir sind alles, wir sind nichts.
Wir sind Diener, wir sind Herrschende.
Wir waren, wir sind, wir werden sein."


Auch eine Liebesgeschichte darf in einem Jugendbuch nicht fehlen. Die sich anbahnende Romanze zwischen Emilia und Ben bleibt hier jedoch sehr lange im Hintergrund und entwickelt sich eher subtil, statt übergangslos von sexueller Anziehungskraft zur großen Liebe zu springen. Das passt aus vielen verschiedenen Gründen sehr gut und konnte mich sowohl emotional abholen als auch inhaltlich überzeugen. Zum einen haben wir durch die langsame Entwicklung genügend Zeit, die Protagonisten kennenzulernen und zu verstehen, in welche Strukturen wir hineingeraten sind. Zum anderen sind Berührungen und sonstige Annäherungen zwischen Mitglieder verschiedener Logen verboten und die beiden können sich zu Beginn nicht sehr leiden, was beides nicht unbedingt begünstigende Faktoren für eine Liebesbeziehung sind. So lernen sich "Lord Hastings und die Silberfee" (wäre auch ein witziger Buchtitel by the way) aka Emilia und Ben erst nach und nach besser kennen, wodurch auch die Chemie zwischen den beiden erst schleichend auftritt. Im letzten Drittel sprühen dann aber doch die Funken zwischen den beiden - im wahrsten Sinne des Wortes ...


"Keine Gegenargumente? Keine flammende Rede zugunsten der großen Macht der Liebe?" Ich erwiderte sein Lächeln. "Die Liebe ist so groß, dass sie Platz für jede Art von Theorie hat. Wenn Liebe für dich Egoismus ist, dann ist es eben so."
"Was ist sie für dich?"
Für einen kurzen Moment glitt mein Blick zur Seite, bevor ich wieder hoch in sein Gesicht sah. "Hingabe."


Mystery, Action-Abenteuer und eine zarte Liebesgeschichte - was will man noch mehr? Ja genau, ein tolles Setting! Ich weiß auch nicht, wie die Autorin es immer schafft, einen möglichst atmosphärischen Schauplatz für ihre Geschichte auszuwählen. Nach den Göttern in Paris folgen nun die Alchemisten in Rom und wie schon in der Götter-Dilogie hat Kira Licht das Potential ihres Settings wunderbar genutzt. Denn Rom bietet sich als geschichtsträchtige Stadt und Ursprung des Konflikts zwischen Übernatürlichem und Wissenschaft natürlich super für eine Alchemisten-Geschichte samt Rätsel-Schnitzeljagd und Anspielungen an viele historischen Orte, Persönlichkeiten, Fakten und Theorien an.


"Du bist wie Richard Löwenherz. Ich kenne niemanden, der mutiger ist als du. Du kannst knallhart sein, aber auch unglaublich sensibel." Ich sah ihn an. "Verletzlich. Du versteckst so viel hinter deiner Maske aus Geschäftsmäßigkeit. Aber ich sehe es. Ich sehe dich." Er wandte sich mir jetzt komplett zu, sein Blick offen, völlig ehrlich. "Willst du wissen, was du für mich bist?" Ich nickte. "Kennst du dieses Spiel, in dem man aus Holzsteinen einen hohen Turm baut? Und dann zieht man immer mehr Bausteine aus dem Turm, bis..." Er brach ab. Doch ich wusste, wovon er sprach, ahnte, was er damit meinte. Und es berührte mich zutiefst.
"Es ist bloß dieser eine Stein", sagte er leise, "der dafür sorgt, dass etwas, das so sicher stand, komplett in sich zusammenbricht."


Zum Leben erweckt wird diese wundersame Mischung aber erst durch Kira Lichts spritzigen, erfrischend humorvollen und lockeren Schreibstil. Sie zieht ihre Geschichte rasant auf und sorgt durch schlagfertige Dialoge, kreative Ideen, skurrile Begegnungen und leise Romantik dafür, dass es während der 560 Seiten niemals langweilig wird. Auch der Realitätsbezug geht hier nie verloren. Mit viel Schwung und Enthusiasmus proträtiert sie das offene, erwartungsvolle Gefühl der Jugendlichen in ihrem Abschlussjahr, das von Aufbruch, Träumen, Lebensplanung und Konflikten geprägt ist und lässt diese Stimmung in die Geschichte miteinfließen. Durch ihren einmaligen Humor, der mich ein wenig an Jennifer L. Armentrout in ihren besten Jahren erinnert hat, bringt sie immer wieder Schwung in die Geschichte und hat mich ein ums andere Mal zum Lachen gebracht.


"Man kann sein Herz nur einmal verschenken." Er sah mich nicht an, als er an mir vorbei ging. "Und genau deshalb sollte man umso weiser wählen."


Klar, die Autorin erfindet das Genre nicht gerade neu und greift auch auf altbewährte Strategien und Abläufe zurück, aber ihr gelingt es mit viel Einfallsreichtum und Kreativität, einen individuellen Wiedererkennungswert zu hinterlassen und ein ganz besonderes Lesegefühl hervorzurufen. Vor allem bei der Gestaltung ihrer beiden Hauptcharaktere hat Kira Licht meines Erachtens aber ein bisschen zu sehr auf typische Jugendbuch-Klischees zurückgegriffen. Emilia ist als magische Überfliegerin und wichtige Schlüsselfigur für eine große Mission natürlich die "Special Snowflake" und Ben der dazu passende arrogante Love Interest mit vielen Geheimnissen. Naiv und unwissend trifft auf gutaussehend, rätselhaft und Teil einer verborgenen, magischen Welt - das ist definitiv kein neues Konzept, dennoch hat mir vor allem die Darstellung von Emilia gut gefallen. Sie ist zwar neu in der Materie (noch ein Chemie, Wortwitz haha), lässt sich aber nicht unterbuttern, macht emanzipiert das Beste aus ihrer Situation, hat immer einen flotten Spruch auf den Lippen und glaubt und tut vor allem nicht dümmlich lächelnd alles, was Ben ihr sagt. Dadurch wirkt sie manchmal vielleicht etwas trotzig und leichtsinnig, für mich war das aber eine tolle Abwechslung zu den ewigen lahmarschigen "Damsel in Distress"- Protagonistinnen in der YA-Fantasy.


"Ich atmete aus, und Silberpartikel flirrten in der Wolke meines Atems. Kommt, tanzt für mich. Ich drehte mich zu Ben. Sein tiefgoldener Blick schien mich zu verbrennen. ich wusste, dass er das Silber in meinen Augen sah. Wir waren zwei Naturgewalten, die aufeinander zurasten. Wir waren zu groß für diesen Raum. Wir waren zu mächtig, um Feinde zu sein. Wir waren dafür gemacht, Seite an Seite die Welt aus ihren Angeln zu reißen."


Durch die vielen Details über die Missionen, die Logen und den großen Rahmen der Geschichte, den wir hier präsentiert bekommen, gehen die Nebencharaktere wie zum Beispiel Emilias Freunde Tizi und Matti oder die weiteren Mitglieder der Goldloge wie Annmary, Oliver, Larkin oder Murphy etwas unter. Das ist jedoch erstmal nicht dramatisch, denn deshalb ist "Kaleidra - Wer das Dunkel ruft" auch ein Reihenauftakt und kein Einzelband. Hier ist also noch alles drin! Auch das Ende folgt genau diesem Motto. Nach 560 Seiten Abenteuer, Rätsel und Geheimnisse folgt ein spannender Showdown, der einige Überraschungen und Wendungen bereithält und in einem miesen Cliffhanger gipfelt. Damit ist natürlich klar, dass diese Geschichte noch lange nicht zu Ende erzählt wurde und noch viele spannende Leseabenteuer auf uns warten. Ich freue mich auf jeden Fall sehr auf den nächsten Teil!



Fazit:


In "Kaleidra - Wer das Dunkel ruft" entführt Kira Licht in eine spannende Welt voller Geheimlogen, verschlüsselten Dokumente, gefährlichen Missionen, uralte Feindschaften und Allianzen und verbindet Mystery, Abenteuer, ein atmosphärisches Setting und eine zarte Liebesgeschichte. Ein vielversprechender Reihenauftakt, der jedoch noch ein bisschen zu nah an YA-Klischees blieb...

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 22.11.2020

Ein vielversprechender Reihenauftakt!

Kaleidra - Wer das Dunkel ruft
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Ich habe von Kira Licht jetzt schon drei Bücher gelesen: ihren YA-Erstling "Sunset Beach" und ihre Götter-Dilogie. Von allen drei Werken war ich total begeistert - hatte aber auch einiges zu kritisieren. ...

Ich habe von Kira Licht jetzt schon drei Bücher gelesen: ihren YA-Erstling "Sunset Beach" und ihre Götter-Dilogie. Von allen drei Werken war ich total begeistert - hatte aber auch einiges zu kritisieren. Und genauso stehe ich auch zu ihrem neuen Urban Fantasy-Auftakt. "Kaleidra - Wer das Dunkel ruft" ein eher ungewöhnliches Thema wundervoll in einer schillernden, witzigen und geheimnisvollen Geschichte um.


"Wir sind Alchemisten". Er sah mich eindringlich an. "Und du bist eine von uns. Eine Loge ist eine Arbeitsgemeinschaft, ein Orden so was wie deine Nationalität. Man ist entweder Silber, Gold oder Quecksilber. Wir sind Gold und mit Silber ist alles kuschlig, mit Quecksilber bekriegen wir uns, weil sie die Weltherrschaft wollen. Klingt wie ein billiger Actionfilm, heißt bei uns aber Realität. Willkommen in der Welt der unbegrenzten Möglichkeiten. Ich hoffe, du bist gut in Chemie."


Schon die Gestaltung ist einfach traumhaft und bringt mich als absoluten Cover-Kritiker immer wieder zum Schwärmen. Düster, geheimnisvoll und wunderschön - die Gestaltung bringt die Atmosphäre der Geschichte auf den Punkt. Nicht nur dass die Lichtpunkte und die geometrischen Formen die naturwissenschaftlichen aber auch fantastischen Anklänge des Romans auffangen, die starken Kontraste zwischen hellem, weichen Gold und dunklen, schwarzen Schatten passen auch wunderbar zum Thema. Zusammen mit dem goldenen Titel und dem dunklen Lesebändchen wird das Buch zu einem Gesamtkunstwerk. Auffällig am Innenleben dieser Schönheit ist, dass die Seiten sehr dünn sind und die 560 Seiten deshalb optisch eher wie höchstens 350 erscheinen. Eine kleine positive Überraschung hat das Buch noch auf den letzten Seiten parat. Hier wartet nämlich ein hilfreiches Glossar auf den verwirrten Leser.


"Er neigte den Kopf zu mir, und für den Bruchteil einer Sekunde strich sein warmer Atem über mein Ohr, als er dieses eine Wort flüsterte. "Kaleidra."
Es klang, als würde ein sanfter Hauch durch ein Windspiel streichen. Sphärisch, schillernd und glockenhell. Es berührte einen unbekannten Teil von mir. Ich schmeckte Farben auf meiner Zunge, ich hörte die raue Schönheit, die es verhieß, ich fühlte die Kraft in mir leise lachen. "Kaleidra"


Verwirrt deshalb, da Kira Licht hier ein eher ungewöhnliches Thema zum Mittelpunkt ihrer neuen Reihe auserwählt hat: die Alchemie. Dass Bücher über verborgene Geheimlogen, Reisen durch magische Artefakte und Konkurrenzkämpfe zwischen den Gruppierungen gut als Jugendfantasy funktionieren, weiß man spätestens seit "Rubinrot" und so löste sich meine anfängliche Skepsis bald in Begeisterung auf. Denn wer hätte gedacht, dass chemische Reaktionen, verstaubte Manuskripte und komplizierte Rätsel so spannend sein können? Die Protagonistin und Ich-Erzählerin Emilia ahnt auf jeden Fall nicht, welch turbulentes Abenteuer auf sie zu kommt, als sie wenige Tage nach ihrer letzten Prüfung die Wanderausstellung zum sagenumwobenen Voynich-Manuskript besucht. Als sie irgendwas von Planeten, blutenden Pelikanen und Drachen vorliest, staunen nicht nur ihre Freunde nicht schlecht, es werden auch verborgene Mächte auf sie aufmerksam. Denn das Manuskript kann von keinem Menschen oder Computer der Welt entschlüsselt werden - nur von einer Nachfahrin der berühmten Silberalchimistin Maria di Luca...


"Für sie ist das gesamte Voynich-Manuskript eine Anleitung zu einem großen Spiel." Er hielt in seiner Bewegung inne, ließ das Handy sinken, und dann sah er mich schließlich wieder direkt an. "Und du bist vermutlich die Einzige, die die Regeln durchschauen kann."


So geraten wir zusammen mit Emilia in eine geheime Welt voller Geheimlogen, verschlüsselten Dokumente, gefährlichen Missionen, uralte Feindschaften und Allianzen und müssen uns erst mit den neuen Gegebenheiten zurechtfinden, wo Schlangenamulette durch die Luft fliegen, man mit dem Stein der Weisen durch die Welt reisen kann und Augen silbern oder golden leuchten. Das klingt jetzt erstmal sehr magisch und auch die Genrebezeichnung "Urban Fantasy" weist auf einen hohen Fantastikgehalt hin, in "Kaleidra" zieht die Autorin das Thema "Alchemie" jedoch eher wissenschaftlich auf und erklärt viele Vorgänge durch chemische Reaktionen statt durch Magie. Wer jetzt denkt, "Chemie, igitt", dem sei versichert, dass man die Geschichte auch ohne jegliches chemische Vorwissen gut verfolgen kann, es aber dennoch besser wäre, wenn man zumindest das nötige Vorstellungsvermögen mitbringt. Wer nicht weiß, dass Natrium zusammen mit Chlor zu Salz reagiert, oder Quecksilber einen niedrigeren Siedepunkt hat als Silber und Gold, wird die Handlung dank Kiras leicht verständlichen Schilderungen trotzdem nachvollziehen können. Richtig Spaß macht die Geschichte aber erst, wenn man die innere Logik der Actionszenen versteht und auch mit Kiras Beschreibungen von Laboren, fliegenden Riesenschlangen und Parallelwelten etwas anfangen kann - nur dann entfaltet sie ihr volles Potential. Wenn Chemie also euer wunder Punkt ist (bei mir zum Glück nicht - Chemie Leistungskurs in der Schule haha), kann ich es euch nicht verübeln, wenn ihr auf Grund der Thematik abspringt.


"Der Tod ist unser täglicher Begleiter." Er hob ganz leicht das Kinn. "Aber ich bin sehr gut darin, ihm die Stirn zu bieten. Und ich bin sehr gut darin, ihn von anderen fernzuhalten." Er sah kurz zur Seite, doch dann glitt sein Blick zurück zu mir. "Ihn von dir fernzuhalten."


Neben dem prominenten Mystery/Chemie Aspekt, aus dem die Alchemie-Thematik besteht, ist auch eine starke Abenteuerkomponente vertreten. Emilia muss nämlich nicht nur damit zurechtkommen, dass sie von einer uralten Linie von Alchemisten abstammt, sondern wird auch dringend in der Goldloge gebraucht, um ein zerfallendes Dokument zu entschlüsseln und die Anweisungen darauf zu befolgen, bevor sie für immer verloren sind. Das Voynich-Manuskript (das es übrigens tatsächlich gibt), führt Emilia und ihren Mitstreiter aus der Goldloge, Ben, an verschiedene historische Orte auf der ganzen Welt, an denen Rätsel zu lösen und Bausteine zu bergen sind. Egal ob nach Palermo, Syrien oder Frankreich - es gibt immer etwas zu entdecken und allerlei gefährliche Hindernisse, die Ben und Emilia im Weg stehen. Diese immer mal wieder eingestreuten Indiana-Jones-Abenteuer, die sich mit gelegentlichen Aufeinandertreffen mit der rivalisierenden Quecksilberloge abwechseln, boosten die Spannung natürlich enorm, bleiben aber insgesamt recht knapp erzählt und lassen genügend Platz für Gespräche, Fragen, Kennenlernen und Emilias Ankommen in ihrer neuen Welt.


"Du bist mein, ich bin dein.
Wir sind alles, wir sind nichts.
Wir sind Diener, wir sind Herrschende.
Wir waren, wir sind, wir werden sein."


Auch eine Liebesgeschichte darf in einem Jugendbuch nicht fehlen. Die sich anbahnende Romanze zwischen Emilia und Ben bleibt hier jedoch sehr lange im Hintergrund und entwickelt sich eher subtil, statt übergangslos von sexueller Anziehungskraft zur großen Liebe zu springen. Das passt aus vielen verschiedenen Gründen sehr gut und konnte mich sowohl emotional abholen als auch inhaltlich überzeugen. Zum einen haben wir durch die langsame Entwicklung genügend Zeit, die Protagonisten kennenzulernen und zu verstehen, in welche Strukturen wir hineingeraten sind. Zum anderen sind Berührungen und sonstige Annäherungen zwischen Mitglieder verschiedener Logen verboten und die beiden können sich zu Beginn nicht sehr leiden, was beides nicht unbedingt begünstigende Faktoren für eine Liebesbeziehung sind. So lernen sich "Lord Hastings und die Silberfee" (wäre auch ein witziger Buchtitel by the way) aka Emilia und Ben erst nach und nach besser kennen, wodurch auch die Chemie zwischen den beiden erst schleichend auftritt. Im letzten Drittel sprühen dann aber doch die Funken zwischen den beiden - im wahrsten Sinne des Wortes ...


"Keine Gegenargumente? Keine flammende Rede zugunsten der großen Macht der Liebe?" Ich erwiderte sein Lächeln. "Die Liebe ist so groß, dass sie Platz für jede Art von Theorie hat. Wenn Liebe für dich Egoismus ist, dann ist es eben so."
"Was ist sie für dich?"
Für einen kurzen Moment glitt mein Blick zur Seite, bevor ich wieder hoch in sein Gesicht sah. "Hingabe."


Mystery, Action-Abenteuer und eine zarte Liebesgeschichte - was will man noch mehr? Ja genau, ein tolles Setting! Ich weiß auch nicht, wie die Autorin es immer schafft, einen möglichst atmosphärischen Schauplatz für ihre Geschichte auszuwählen. Nach den Göttern in Paris folgen nun die Alchemisten in Rom und wie schon in der Götter-Dilogie hat Kira Licht das Potential ihres Settings wunderbar genutzt. Denn Rom bietet sich als geschichtsträchtige Stadt und Ursprung des Konflikts zwischen Übernatürlichem und Wissenschaft natürlich super für eine Alchemisten-Geschichte samt Rätsel-Schnitzeljagd und Anspielungen an viele historischen Orte, Persönlichkeiten, Fakten und Theorien an.


"Du bist wie Richard Löwenherz. Ich kenne niemanden, der mutiger ist als du. Du kannst knallhart sein, aber auch unglaublich sensibel." Ich sah ihn an. "Verletzlich. Du versteckst so viel hinter deiner Maske aus Geschäftsmäßigkeit. Aber ich sehe es. Ich sehe dich." Er wandte sich mir jetzt komplett zu, sein Blick offen, völlig ehrlich. "Willst du wissen, was du für mich bist?" Ich nickte. "Kennst du dieses Spiel, in dem man aus Holzsteinen einen hohen Turm baut? Und dann zieht man immer mehr Bausteine aus dem Turm, bis..." Er brach ab. Doch ich wusste, wovon er sprach, ahnte, was er damit meinte. Und es berührte mich zutiefst.
"Es ist bloß dieser eine Stein", sagte er leise, "der dafür sorgt, dass etwas, das so sicher stand, komplett in sich zusammenbricht."


Zum Leben erweckt wird diese wundersame Mischung aber erst durch Kira Lichts spritzigen, erfrischend humorvollen und lockeren Schreibstil. Sie zieht ihre Geschichte rasant auf und sorgt durch schlagfertige Dialoge, kreative Ideen, skurrile Begegnungen und leise Romantik dafür, dass es während der 560 Seiten niemals langweilig wird. Auch der Realitätsbezug geht hier nie verloren. Mit viel Schwung und Enthusiasmus proträtiert sie das offene, erwartungsvolle Gefühl der Jugendlichen in ihrem Abschlussjahr, das von Aufbruch, Träumen, Lebensplanung und Konflikten geprägt ist und lässt diese Stimmung in die Geschichte miteinfließen. Durch ihren einmaligen Humor, der mich ein wenig an Jennifer L. Armentrout in ihren besten Jahren erinnert hat, bringt sie immer wieder Schwung in die Geschichte und hat mich ein ums andere Mal zum Lachen gebracht.


"Man kann sein Herz nur einmal verschenken." Er sah mich nicht an, als er an mir vorbei ging. "Und genau deshalb sollte man umso weiser wählen."


Klar, die Autorin erfindet das Genre nicht gerade neu und greift auch auf altbewährte Strategien und Abläufe zurück, aber ihr gelingt es mit viel Einfallsreichtum und Kreativität, einen individuellen Wiedererkennungswert zu hinterlassen und ein ganz besonderes Lesegefühl hervorzurufen. Vor allem bei der Gestaltung ihrer beiden Hauptcharaktere hat Kira Licht meines Erachtens aber ein bisschen zu sehr auf typische Jugendbuch-Klischees zurückgegriffen. Emilia ist als magische Überfliegerin und wichtige Schlüsselfigur für eine große Mission natürlich die "Special Snowflake" und Ben der dazu passende arrogante Love Interest mit vielen Geheimnissen. Naiv und unwissend trifft auf gutaussehend, rätselhaft und Teil einer verborgenen, magischen Welt - das ist definitiv kein neues Konzept, dennoch hat mir vor allem die Darstellung von Emilia gut gefallen. Sie ist zwar neu in der Materie (noch ein Chemie, Wortwitz haha), lässt sich aber nicht unterbuttern, macht emanzipiert das Beste aus ihrer Situation, hat immer einen flotten Spruch auf den Lippen und glaubt und tut vor allem nicht dümmlich lächelnd alles, was Ben ihr sagt. Dadurch wirkt sie manchmal vielleicht etwas trotzig und leichtsinnig, für mich war das aber eine tolle Abwechslung zu den ewigen lahmarschigen "Damsel in Distress"- Protagonistinnen in der YA-Fantasy.


"Ich atmete aus, und Silberpartikel flirrten in der Wolke meines Atems. Kommt, tanzt für mich. Ich drehte mich zu Ben. Sein tiefgoldener Blick schien mich zu verbrennen. ich wusste, dass er das Silber in meinen Augen sah. Wir waren zwei Naturgewalten, die aufeinander zurasten. Wir waren zu groß für diesen Raum. Wir waren zu mächtig, um Feinde zu sein. Wir waren dafür gemacht, Seite an Seite die Welt aus ihren Angeln zu reißen."


Durch die vielen Details über die Missionen, die Logen und den großen Rahmen der Geschichte, den wir hier präsentiert bekommen, gehen die Nebencharaktere wie zum Beispiel Emilias Freunde Tizi und Matti oder die weiteren Mitglieder der Goldloge wie Annmary, Oliver, Larkin oder Murphy etwas unter. Das ist jedoch erstmal nicht dramatisch, denn deshalb ist "Kaleidra - Wer das Dunkel ruft" auch ein Reihenauftakt und kein Einzelband. Hier ist also noch alles drin! Auch das Ende folgt genau diesem Motto. Nach 560 Seiten Abenteuer, Rätsel und Geheimnisse folgt ein spannender Showdown, der einige Überraschungen und Wendungen bereithält und in einem miesen Cliffhanger gipfelt. Damit ist natürlich klar, dass diese Geschichte noch lange nicht zu Ende erzählt wurde und noch viele spannende Leseabenteuer auf uns warten. Ich freue mich auf jeden Fall sehr auf den nächsten Teil!



Fazit:


In "Kaleidra - Wer das Dunkel ruft" entführt Kira Licht in eine spannende Welt voller Geheimlogen, verschlüsselten Dokumente, gefährlichen Missionen, uralte Feindschaften und Allianzen und verbindet Mystery, Abenteuer, ein atmosphärisches Setting und eine zarte Liebesgeschichte. Ein vielversprechender Reihenauftakt, der jedoch noch ein bisschen zu nah an YA-Klischees blieb...

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 20.11.2020

Eine unspektakuläre aber sehr unterhaltsame Fortsetzung der "Lawyers of London"-Reihe

Legal Love – Nie wieder ohne dich
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Die Eindrücke:

Handlung: Der dritte Teil der "Lawyers of London"-Reihe widmet sich ganz Kanzleipartner Steven Knight und der neuen Anwältin Shannon, die wie schon in den ersten beiden Bänden von einem ...

Die Eindrücke:

Handlung:
Der dritte Teil der "Lawyers of London"-Reihe widmet sich ganz Kanzleipartner Steven Knight und der neuen Anwältin Shannon, die wie schon in den ersten beiden Bänden von einem Arbeits- in ein Liebesverhältnis schlittern. Wie die Rahmenhandlung und die Liebesgeschichte ausgehen wird, kann man schon nach wenigen Seiten recht treffsicher vorhersagen, dennoch schafft es J. T. Sheridan auch hier wieder, durch Nebenhandlungen und ein flottes Erzähltempo die Spannung bis zum Ende aufrechtzuerhalten. Aufgepeppt wird das recht unspektakuläre Annähern von Steven und Shannon unter anderen durch eine tolle Reise nach Nordengland inklusive romantischem Strand-Picknick, einer Sightseeing-Tour durch London, einer tragischen Hintergrundgeschichte der Protagonisten und einem spannenden Verfilmung-Schriftsteller-Fall, der aber leider nur kurz angerissen wird.

Charaktere: Shannon reiht sich ohne große Ausreißer in die Reihe an emanzipierten, zielstrebigen und intelligenten Anwältinnen ein, die auch schon in den ersten beiden Bänden im Fokus standen. Sie präsentiert sich durch ihren beruflichen Neustart und ihre vermurkste erste Ehe jedoch ein wenig verletzlicher, als die beiden Power-Frauen Mel und Nora und erhält auch durch ihre Mitbewohnerin, ihren Kater und einen Einblick in ihre Herkunft aus Irland mehr Profil. Dafür ist aber ihr Gegenstück Spence ein recht farbloser und viel zu perfekter Love Interest, um wirklich interessant zu sein. Auch die Chemie zwischen den beiden ist leider kaum der Rede wert.

Schreibstil: J. T. Sheridan sorgt wieder mit einem lockerer Schreibstil und tollem, subtilen Humor dafür, dass die 254 Seiten wie im Flug vergehen. Wirklich tiefgründige Themen anzusprechen ist auch hier wieder nicht der Anspruch des Genres, dafür wird das Setting in London hier ein bisschen mehr genutzt, als in den Vorgängern. Auch die Protagonisten der zwei ersten Bände treten kurz auf und auch der übrig gebliebene Namenspartner Jerry für einen potentiellen weiteren Folgeband rückt kurz in den Fokus, ansonsten ist "Legal Love - Nie wieder ohne dich" jedoch unabhängig von der Reihe lesbar. Schade ist, dass die Geschichte recht abrupt endet und einen Epilog vermissen lässt, da vieles offen bleibt. Alles in allem ist "Legal Love" aber wirklich nett und unterhaltsam zu lesen.


Die Zitate:

"Dein Mr. Knight ist ein echter Glücksgriff. Er vereint alle Charaktereigenschaften sämtlicher Disney-Prinzen inklusive des coolen Typs aus Rapunzel. Wenn du ihn dir nicht schnappst, nehme ich ihn."

"Die Ängste sind immer noch da. Sie lauern in Schatten... verbergen sich hinter der Ecke, warten nur darauf, dass ich meine Deckung fallen lasse, um mich anzuspringen. Aber ich bin stärker geworden. Und mit jedem Tag, der vergeht, weiß ich besser mit ihnen umzugehen." Die Wärme, die mein Herz erfüllte, wandelte sich in ein Glühen. Sie wirkte manchmal so zart, so zerbrechlich und war doch viel stärker als ich selbst."

"Ich werde jetzt gehen", sagte sie leise. "Sonst bin ich verloren." Aber als sie ihren Pullover und ihre Jacke nahm und noch einmal über ihre Schulter blickte, während sie den Pub verließ, wusste ich es: Ich war derjenige, der längst verloren war."




Das Urteil:


Eine unspektakuläre aber sehr unterhaltsame Fortsetzung der "Lawyers of London"-Reihe, die zwar wieder nicht mit unvorhergesehenen Wendungen, Tiefgründigkeit und außergewöhnlicher Chemie aufwarten kann, aber mit einem humorvollen Schreibstil, einem flotten Erzähltempo und einer tragischen Hintergrundgeschichte der Protagonistin die Spannung bis zum Ende aufrechterhält.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 14.11.2020

Tat sich schwer, an Atmosphäre, Spannung und Erzähltempo des zweiten Teils anzuknüpfen...

Scythe – Das Vermächtnis der Ältesten
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Eigentlich wollte ich ja auf das Erscheinen der neuen Auflage von "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" als Broschierte Ausgabe warten, damit die Reihe im Regal zusammenpasst. Eigentlich - denn dann ...

Eigentlich wollte ich ja auf das Erscheinen der neuen Auflage von "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" als Broschierte Ausgabe warten, damit die Reihe im Regal zusammenpasst. Eigentlich - denn dann grätschte das Ende des zweiten Teils brutal dazwischen. Der Untergang Enduras, der Tod beinahe aller geliebter Protagonisten und das Verstummen des Thunderheads - Ihr erinnert Euch? Kein Wunder, dass ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht und kein Jahr mehr warten konnte, bis die passende Ausgabe erscheint. Zu meinem großen Glück, hatte jemand aus dem Fischer Verlag Erbarmen mit meiner misslichen Lage und hat mir ein Exemplar in die Post gegeben (Heldin der Woche, by the way). Doch was sage ich jetzt zum Finale der großen Scythe-Trilogie? Dieser dritte Teil bleibt inhaltlich, emotional und atmosphärisch leider etwas hinter dem epischen Mittelteil zurück, findet aber einen würdigen, runden Abschluss für die Geschichte.


Aus dem Testament des Toll: "Er stürzte auf sie herab wie der wütende Schlag von Millionen Flügeln, und am Himmel tobte der Donner. Die Reuelosen wurden niedergemacht, doch wer auf die Knie fiel, wurde verschont. Dann verließ er sie, löste sich abermals in einem Sturm aus Federn auf und schwang sich in den ruhigen Himmel empor. Frohlocket!"


Das Cover zeigt im Vordergrund einen Mann in lavendelfarbigem Gewand und Stola, der rechts und links von Scythe in waldgrünen Roben flankiert wird. Zusammen mit den schwarzen Sensen, dem dunkelgrünen Hintergrund vor den futuristisch anmutenden Streifen und dem Comic-Titel ergibt sich so ein stimmiges Gesamtbild, das wieder auf zentrale Motive und die eher düstere Stimmung vorbereitet. Der Titel "Scythe", abgeleitet vom englischen Wort für "Sense" passt natürlich auch wieder wie die Faust aufs Auge, auch wenn sich einige Schwierigkeiten bei der Aussprache des Titels ergeben (von "Skiff" über "Skeeeif" bis "Skütje" habe ich schon alles gehört 😂). Zum meinem großen Glück, ist die Covergestaltung des dritten Teils wie auch die der broschierten Ausgaben an die des amerikanischen Originals angelegt, weshalb meine drei Bände trotz des leicht unterschiedlichen Formats gut zusammenpassen.


"Vermutlich war es immer so: Wenn das Undenkbare zur Normalität wurde, stumpfte man ab. Sie wollte niemals so sehr abstumpfen."


Wenn ich mein Leseerlebnis mit "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" in einem Satz zusammenfassen müsste, würde ich sagen, dass dieses Finale anders ist, als ich erwartet hätte. Und das beginnt schon beim Anfang. Die Handlung knüpft nämlich nicht direkt an die vielen offenen Stränge von "Scythe - Der Zorn der Gerechten" an, sondern startet mit einem Abstand von drei Jahren zum Untergang Enduras. Statt also wie zuvor auf Basis von Citras und Rowans Erlebnissen die Geschichte zu entspinnen, starten wir hier mit einem Haufen an neuen Protagonisten, die uns über Rückblicke vermitteln, was in den verstrichenen drei Jahren passiert ist. An der Hand haben wir hier nur den in Band 2 liebgewonnenen Greyson Tolliver, der eine der wenigen Konstanten in diesem eher unkonventionellen Start bildet. Klar, Neal Shusterman gibt hier sein Bestes, durch neue und altbekannte Nebenfiguren, die hier mehr ins Zentrum rücken, in die Geschichte einzusteigen und davon abzulenken, dass unsere beiden Hauptfiguren eingeschlossen und totenähnlich auf dem Grund des Meeresbodens liegen, Scythe Curie unwiderruflich tot ist, genau wie die Grandslayer und alle Einwohner Enduras, und Scythe Farraday auf einer einsamen Insel vom Radar verschwunden ist. Trotz all seiner Bemühungen ist dies jedoch nicht die beste Basis für einen packenden Einstieg ins Finale, sodass sich "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" von Anfang an schwer tat, an die Atmosphäre, Spannung und das Erzähltempo des zweiten Teils anzuknüpfen.


"Sie verkörpern die Unschuld, die dem Untergang geweiht ist." Das fand Anastasia auf verschiedenen Ebenen beleidigend. "Ich bin nicht dem Untergang geweiht. Und unschuldig bin ich auch nicht."
"Jaja, aber Sie dürfen nicht vergessen, dass Menschen sich aus einer Situation immer das herausnehmen, was sie brauchen. Als Endura sank, brauchten sie jemand, dem sie ihre Trauer widmen konnten. Ein Symbol der verlorenen Hoffnung."
"Die Hoffnung ist nicht verloren", beharrte sie. "Sie ist nur verlegt worden."


Wir befinden uns also nicht nur nach dem sehr offenen Ende von Teil 2 in der Schwebe, sondern werden mit den wichtigen Fragen, die uns unter den Nägeln brennen auch noch relativ lange im tatsächlichen Einstieg vertröstet. Was ist die Notlösung der Scythe-Gründer? Was hat Goddard mit der Welt vor? Werden Citra und Rowan gefunden werden? Wie kommen die Menschen damit zurecht, dass der Thunderhead sie nun in Kollektivstrafe anschweigt? Was macht Greyson mit der ihm auserkorenen Rolle des einzigen Bindeglieds zwischen Menschen und Thunderhead? Welche Rolle spielen die Tonisten im Plan des Thunderheads? Und was entdecken Faraday und Munira auf dem blinden Fleck? Statt diese Fragen zügig zu beantworten, kommen zu den treibenden Rätseln immer neue hinzu. Denn der Thunderhead scheint plötzlich auf den abgelegenen, neu entdeckten Atollen ein geheimes Bauprojekt zu planen, Limbus-Agenten auf der ganzen Welt starten eine letzte große Reise mit ungewissem Ziel und harmlose, intonierende Tonisten werden zu einer gefährlichen, explosiven Randgruppe... Wohin soll das führen, wenn die Scythe immer mehr außer Kontrolle geraten, der Thunderhead sich nicht einmischen darf und die wichtigsten Führer der Rebellion eingefroren auf dem Meeresgrund liegen...?


"Umwälzung", sagte Jerico nüchtern. "Berge entstehen durch Umwälzungen. Ich bin sicher, das sieht am Anfang nicht schön aus. (...) In jeder Katastrophe liegt eine neue Möglichkeit", erklärte Jeri. "Ein Schiff geht unter, und mir beginnt es in den Fingern zu jucken, denn in dem Wrack liegen Schätze verborgen. Denk daran, was ich auf dem Meeresgrund entdeckt habe. Dich!"
"Und vierhunderttausend Scythe-Diamanten."


Bis auf 100 Seiten vor dem Ende liest sich "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" eher wie der dritte Teil einer Quadrologie, als wie das Finale - so viele Themen kommen hier mit dazu, sodass meine Fragen immer mehr, statt weniger wurden. Die Auszüge aus den Nachlesetagebüchern bekannter Scythe, die in "Scythe - Die Hüter des Todes" das Geschehen untermauert haben und die Anmerkungen mit Ausführungen, Gedanken und Erklärungen des Thunderheads im zweiten Teil, werden hier ersetzt durch Auszüge aus der religiösen Schrift, "Ein Testament des Toll", Selbstgespräche mit Iterationen des Thunderheads und Auszüge aus Schreiben, Reden und Stellungnahmen der führenden Scythe in verschiedenen Regionen der Welt. Auch durch diese drei verschiedenen eingebundenen Inhalte kommen mehr neue Rätsel ins Spiel, als dass sie gelöst würden. Shustermans gemächlicher Wiedereinstieg in die Geschichte und die nur langsame Aufdeckung der offenen Geheimnisse sorgt deshalb natürlich für ordentlich Spannung und ist ein Garant für ständiges Weiterlesen-Wollen. Leider ist dies aber auch einer meiner größten Kritikpunkte: viele kleine Einzelszenen, lose Puzzlestücke und komplexe Handlungsstränge sorgen zwar dafür, dass es bis zum Ende undurchschaubar bleibt, was Shusterman mit seiner Geschichte vor hat, dadurch steuert die Geschichte im Mittelteil aber etwas ziellos durch internationale Gewässer und es fehlt Bekanntes, an dem wir uns festhalten können.


"Er trat einen Schritt zurück, betrachtete Rowan von oben bis unten und taxierte ihn wie ein verblasstes Gemälde, das seinen Reiz verloren hatte. "Du hättest mein erster Unterscythe werden können"; sagte Goddard, "der Erbe des Welt-Scythetums. Und es besteht kein Zweifel, dass es nur noch ein einziges Welt-Scythetum geben wird, wenn ich fertig bin. Das wäre deine Zukunft gewesen."
"Wenn ich nur mein Gewissen ignoriert hätte."
Goddard schüttelte mitleidig den Kopf. "Gewissen ist nur ein Werkzeug wie viele andere. wenn du es nicht richtig beherrschst, beherrscht es dich - und wie ich dein Gewissen einschätze, hat es dir den Verstand geraubt."


Schon im zweiten Teil der Trilogie rückte der Fokus stark von unseren beiden Hauptfiguren ab, um zwei weiteren Handlungsträgern die Bühne zu überlassen: Greyson Tolliver und dem Thunderhead, welche abermals eine tragende Rolle übernehmen und mich mit ihrer seltsam innigen, körperlosen Verbindung (Liebe?) zueinander, berührt haben. Hier geraten Rowan alias Scythe Luzifer und Citra alias Scythe Anastasia noch einmal mehr in den Hintergrund und bilden nur noch eine Art roten Faden für die Betrachtung des globalen Geschehens. Zwischen all den Reisen, großen Events, Zeitsprüngen, Bergungsaktionen und dem ein oder anderen Kampf, bei dem auch die Action nicht zu kurz kommt, gehen die beiden Figuren, die einmal Kernstück der Geschichte war, leider etwas zu sehr unter. Wer also hier eine weitere Vertiefung ihrer Charakterzeichnung oder gar eine amouröse Entwicklung erwartet, wird wohl enttäuscht werden.


"Im Laufe der Jahre hatte er Millionen Menschen dabei zugesehen, wie sie in den Armen eines oder einer anderen schliefen. Der Thunderhead hatte keine Arme, mit denen er jemanden hätte umfangen können. Trotzdem spürte er Greysons Herzschlag und seine exakte Körpertemperatur, als wäre er direkt neben ihm. Das zu verlieren hätte ihm unermesslichen Kummer bereitet. Nacht für Nacht überwachte er Greyson stumm in jeder ihm möglichen Weise. Denn das kam führ ihn einer Umarmung am nächsten."


Dafür rücken Faraday und Munira etwas mehr in den Fokus des Geschehens und zwei neue Figuren - Jerico, aus Madagaskar stammender Kapitän eines Bergungsschiffs, der unter der Sonne weiblich und unter den Wolken männlich ist und Loriana, vormalige Nimbusagentin und heimliche Leiterin der Thunderhead-Mission im "Land Nod". Vor allem Jerico und das mit ihm/ihr aufkommende Thema des Geschlechterdualismus und der impliziten Kritik am binären Geschlechtersystem hat mich sehr fasziniert. Die beiden konnten aber leider -wie alle anderen kunstvollen Weiterführungen der Story- nicht darüber hinwegtäuschen, dass ohne Citra und Rowan im Vordergrund der Geschichte etwas Essentielles fehlt. Demnach habe ich diesen dritten Teil als weniger emotional und berührend empfunden. Natürlich spürt man die Spannung weiterhin, man fiebert aber nicht mehr so mit und ist eher ein distanzierter Beobachter der Geschehnisse. So habe ich mit Faszination zwar und einer ordentlichen Portion Demut vor dem Talent des Autors die Geschichte verfolgt, mich aber nicht mehr emotional reingehängt, wie zuvor.


"Du bist eine schreckliche Person", sagte der Thunderhead. "Du bist eine wundervolle Person."
"Na, was denn jetzt?", wollte Greyson wissen.
Und die Antwort, die er leise, ganz leise bekam, war keine Antwort, sondern eine Frage. "Warum verstehst du nicht, dass die Antwort -beides- lautet?"


Neal Shusterman stellt hier das Große und Ganze seines Settings, die weltpolitische Wendung, die Entwicklungen innerhalb des Scythetums aber auch den Vormarsch der Tonisten und das Aufkommen von extremistischen Zischersekten in den Vordergrund. Während der erste Teil sich vor allem auf die Einführung der Welt und die psychologischen Folgen der Scythe-Ausbildung auf die beiden Protagonisten fokussiert hat und es im zweiten Teil um die politischen Folgen der Wahlen eines neuen High Blade, die gesellschaftlichen Experimente des Thunderheads und Faradays Suche nach einem Notausschalter des entgleisenden Scythetums ging, wird Shusterman hier nochmals politischer und weitet seinen Blick auf die ganze Welt aus. Auch in seinem großen Finale lässt es sich der Autor nicht nehmen, viele gesellschaftskritische und politisch wie psychologisch höchst relevante Themen wie Religion, Verschwörungstheorien, Sekten, Politikverdrossenheit, Anarchie, Stillstand, Macht oder Gerechtigkeit anzubringen. Dadurch kommen natürlich einerseits wieder viele neue spannende Ideen zur Sprache und die Gesellschaft zwischen Utopie und Dystopie wird nochmals komplexer und vielschichtiger. Auf der anderen Seite holt der Autor etwas weiter aus, als in diesem Finale nötig gewesen wäre, lässt sich viel Zeit zu Beginn und macht seinen Reihenabschluss somit ein bisschen schwerfälliger als erwartet.


"Sie war nicht ausgebildet für und vorbereitet auf die Verantwortung, Leben zu beenden. Sie hatte jetzt größerem Respekt vor den seltsam gewandten Geistern, denn man musst ein außergewöhnlicher Mensch sein, um diese Verantwortung täglich zu übernehmen. Entweder ein Mensch, der gar kein Gewissen hatte, oder einer, dessen Gewissen so tief und standhaft war, dass er seine Mitte auch im Angesichts der Verloschenen wahren konnte."


Das hielt mich jedoch nicht davon ab, die Geschichte in wenigen Tagen durchzusuchten und gespannt auf die Lösung zu warten, die der Autor für dieses komplexe und wohl ausgeklügelte Durcheinander bereithalten würden. Des Weiteren war ich natürlich auch nach wie vor tief beeindruckt von Shustermans Schreibstil, der die treibende Spannung eines Thrillers gekonnt mit der Einfühlsamkeit eines Jugendromans und der gedanklichen Tiefe eines akademischen Gedankenexperiments verbindet. Die vielen enthaltenen Gedanken über Sterblichkeit, Tod, Stagnation, Inspiration, Verantwortung und Intensität von Leben machen die Geschichte trotz ihrer "Andersartigkeit" zu einem atmosphärisch dichten, spannenden Roman. Zwischen den 608 Seiten gibt es so viele leise Spitzen, kluge Bemerkungen und messerscharfe Beobachtungen, in denen man auch einen Bezug zu aktuellen Vorgängen in der Realität sehen kann, dass die grundsätzlich absurde und makabre Idee eines gesellschaftlichen Institution mit der "Lizenz zum Töten" wahnsinnig gut funktioniert.


"Es gab ein Problem, wenn man sich aufmachte, die Welt zu verändern: Man war niemals der Einzige. Bei einem endlosen Tauziehen mit mächtigen Gegnern - die nicht nur in die entgegengesetzte, sondern einfach in alle Richtungen zogen - konnte man sich vielleicht ab und zu vorwärtsbewegen, manchmal musste man aber auch ein paar Schritte zur Seite gehen. Wäre es besser gewesen, es gar nicht erst zu probieren? Das wusste er nicht."


Das eigentliche Ende ist dann in erster Linie explosiv, hochspannend ... und viel zu schnell vorbei. "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" ließ sich wie gesagt sehr lange Zeit, die nach dem Ende von Band 2 vorhandene Spannung Stück für Stück weiter auszubauen und zum Finale hin zu steigern. Ich hatte schon während dem Lesen Vorbehalte, ob all die offenen Fäden in den noch verbleibenden Seiten wirklich alle zu Ende geführt werden können - und ich hatte Recht: es wurde hier so lange und akribisch auf das Ende hingearbeitet, dass dieses dann sehr schnell vorbeizieht. Die Spannung, die sich über alle Teile aufgebaut hat, entweicht hier auf wenigen Seiten explosionsartig und hinterlässt Ohrenklingeln und eine Menge weiterer Anknüpfungspunkte. Hier hätte ich mir ein etwas kürzerer Mittelteil und dafür einen ausführlicheren Showdown gewünscht, der sich für Kernentwicklungen mehr Zeit nimmt.


"Menschen sind wie Gefäße", hatte Jeri zu ihr gesagt. "Sie nehmen das auf, was in sie hineingeschüttet wird."


Achtung Spoiler: Zum Beispiel die Entstehung von Cirrus Primary aus den Iterationen des Thunderheads kam mir sehr plötzlich vor. Wir erleben zuerst eine sehr langsame Evolution der Thunderhead-Nachkommen und der entscheidende Schritt findet dann komplett im Dunkeln statt und schließt und aus. Auch einen genaueren Blick hinter Goddards Fassade hätte ich mir von diesem Finale gewünscht. Wie findet er die Atolle? Warum will er sie zerstören? Was treibt ihn wirklich an? Ist es nur Machtgier? Da er hier eine so große Rolle spielt, hätte ich mir ein wenig mehr Zeit für seine Beweggründe erhofft. Ein weiterer Punkt, welcher direkt mit Goddard zusammenhängt und mich nicht ganz abholen konnte, war sein Tod. Ayn Rand beginnt ja schon im zweiten Teil, leicht abtrünnig zu werden und über ihre Gefolgschaft nachzudenken. Der Gipfel ihrer schleichenden Entwicklung - ihr Mord an Goddard - kam für mich aber viel zu sehr aus dem Nichts, um mich zu überzeugen. Ein weiteres loses Ende stellt für mich das Testament des Tolls, dessen Deutungen, Referenzen zur Handlung und Parallelen zur Bibel dar. In welcher zeitlichen Relation das Dokument zur Handlung steht, ob es vielleicht auch in der neuen Tonistenkolonie entstanden ist, oder ob es sich um ein historisch überliefertes Dokument handelt, das die Handlung vorhersagt, blieb mir leider zu offen, als dass ich eine wirkliche Bereicherung darin gesehen hätte. So wurde ich durch diese Abschnitte in erster Linie verwirrt und hätte mir noch mal einen klareren Bezug zur Haupthandlung gewünscht. Der letzte große Punkt, der das Ende ein wenig unbefriedigend macht, ist die sehr offene Haltung der Zukunft unserer geliebten Protagonisten gegenüber. Was aus Citra, Rowan, Greyson, Jerico, Faraday und all den anderen wird, ist hier nur kurz angeschnitten und überlässt vieles der Fantasie.


"Du bist ein entscheidender Schritt zu etwas Größerem. Ein goldener Schritt. Ich werde mit sintflutartigem Regen um dich trauern, und diese Überschwemmung wird neues Leben hervorbringen. Alles dank dir. Ich will glauben, dass du Teil dieses neuen Lebens sein wirst. Das tröstet mich. Vielleicht tröstet es dich auch."
"Ich habe Angst."
"Das ist nicht schlimm. Sein eigenes Ende zu fürchten ist Teil des Lebens. So weiß ich, dass wir tatsächlich wahrhaft lebendig sind."
[Iteration #9000349, gelöscht]


Was sollt Ihr aus meiner ellenlangen Rezension nun mitnehmen? Diese Geschichte enthält gleichzeitig so viele kunstvolle Weiterführungen, kreative Ideen und geniale Wendungen, dass man sie für immer lieben muss, vernachlässigt aber durch den abermals veränderten Fokus die beiden Hauptprotagonisten auf schändliche Art und Weise, weshalb ich zwischen 3,5 und 5 Sternen jede Bewertung gerechtfertigt sehe. Lässt man meine Erwartungen und die Vergleiche zu den ersten Teilen und anderen Werken des Autors außeracht, würde ich hier sofort die Höchstwertung geben. Da mir aber nach langem Nachdenken einiges gefehlt hat, was ich gerne gelesen hätte, gibt es nur 4,5 Sterne.


Zum Abschluss...
... noch mein Lieblingszitat, das wohl auch Antwort auf die Frage gibt, ob Neal Shusterman hier nun eine Dystopie oder eine Utopie geschrieben hat:

"Was ist los mit uns, Munira?", fragte Faraday. "Was ist los mit uns, dass wir uns dermaßen hochgesteckte Ziele suchen und dann das Fundament in Stücke reißen? Warum müssen wir immer das Streben nach unseren eigenen Träumen sabotieren?"
"Weil wir fehlerhafte Wesen sind", sagte Munira. "Wie sollten wir in eine perfekte Welt passen?"





Fazit:


Dieses Finale tat sich schwer, an Atmosphäre, Spannung und Erzähltempo des zweiten Teils anzuknüpfen und bleibt deshalb hinter meinen Erwartungen zurück. Trotz des etwas zu offenen und schnellen Endes, des recht gemächlichen Einstiegs und der in den Hintergrund geratenen Protagonisten ist "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" so ein vielschichtiger, runder und hochspannender Abschluss der Scythe-Trilogie, der die treibende Spannung eines Thrillers gekonnt mit der Einfühlsamkeit eines Jugendromans und der gedanklichen Tiefe eines akademischen Gedankenexperiments verbindet, dass es zu meinen Jahreshighlights zählt.

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Veröffentlicht am 14.11.2020

Tat sich schwer, an Atmosphäre, Spannung und Erzähltempo des zweiten Teils anzuknüpfen...

Scythe – Das Vermächtnis der Ältesten
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Eigentlich wollte ich ja auf das Erscheinen der neuen Auflage von "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" als Broschierte Ausgabe warten, damit die Reihe im Regal zusammenpasst. Eigentlich - denn dann ...

Eigentlich wollte ich ja auf das Erscheinen der neuen Auflage von "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" als Broschierte Ausgabe warten, damit die Reihe im Regal zusammenpasst. Eigentlich - denn dann grätschte das Ende des zweiten Teils brutal dazwischen. Der Untergang Enduras, der Tod beinahe aller geliebter Protagonisten und das Verstummen des Thunderheads - Ihr erinnert Euch? Kein Wunder, dass ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht und kein Jahr mehr warten konnte, bis die passende Ausgabe erscheint. Zu meinem großen Glück, hatte jemand aus dem Fischer Verlag Erbarmen mit meiner misslichen Lage und hat mir ein Exemplar in die Post gegeben (Heldin der Woche, by the way). Doch was sage ich jetzt zum Finale der großen Scythe-Trilogie? Dieser dritte Teil bleibt inhaltlich, emotional und atmosphärisch leider etwas hinter dem epischen Mittelteil zurück, findet aber einen würdigen, runden Abschluss für die Geschichte.


Aus dem Testament des Toll: "Er stürzte auf sie herab wie der wütende Schlag von Millionen Flügeln, und am Himmel tobte der Donner. Die Reuelosen wurden niedergemacht, doch wer auf die Knie fiel, wurde verschont. Dann verließ er sie, löste sich abermals in einem Sturm aus Federn auf und schwang sich in den ruhigen Himmel empor. Frohlocket!"


Das Cover zeigt im Vordergrund einen Mann in lavendelfarbigem Gewand und Stola, der rechts und links von Scythe in waldgrünen Roben flankiert wird. Zusammen mit den schwarzen Sensen, dem dunkelgrünen Hintergrund vor den futuristisch anmutenden Streifen und dem Comic-Titel ergibt sich so ein stimmiges Gesamtbild, das wieder auf zentrale Motive und die eher düstere Stimmung vorbereitet. Der Titel "Scythe", abgeleitet vom englischen Wort für "Sense" passt natürlich auch wieder wie die Faust aufs Auge, auch wenn sich einige Schwierigkeiten bei der Aussprache des Titels ergeben (von "Skiff" über "Skeeeif" bis "Skütje" habe ich schon alles gehört 😂). Zum meinem großen Glück, ist die Covergestaltung des dritten Teils wie auch die der broschierten Ausgaben an die des amerikanischen Originals angelegt, weshalb meine drei Bände trotz des leicht unterschiedlichen Formats gut zusammenpassen.


"Vermutlich war es immer so: Wenn das Undenkbare zur Normalität wurde, stumpfte man ab. Sie wollte niemals so sehr abstumpfen."


Wenn ich mein Leseerlebnis mit "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" in einem Satz zusammenfassen müsste, würde ich sagen, dass dieses Finale anders ist, als ich erwartet hätte. Und das beginnt schon beim Anfang. Die Handlung knüpft nämlich nicht direkt an die vielen offenen Stränge von "Scythe - Der Zorn der Gerechten" an, sondern startet mit einem Abstand von drei Jahren zum Untergang Enduras. Statt also wie zuvor auf Basis von Citras und Rowans Erlebnissen die Geschichte zu entspinnen, starten wir hier mit einem Haufen an neuen Protagonisten, die uns über Rückblicke vermitteln, was in den verstrichenen drei Jahren passiert ist. An der Hand haben wir hier nur den in Band 2 liebgewonnenen Greyson Tolliver, der eine der wenigen Konstanten in diesem eher unkonventionellen Start bildet. Klar, Neal Shusterman gibt hier sein Bestes, durch neue und altbekannte Nebenfiguren, die hier mehr ins Zentrum rücken, in die Geschichte einzusteigen und davon abzulenken, dass unsere beiden Hauptfiguren eingeschlossen und totenähnlich auf dem Grund des Meeresbodens liegen, Scythe Curie unwiderruflich tot ist, genau wie die Grandslayer und alle Einwohner Enduras, und Scythe Farraday auf einer einsamen Insel vom Radar verschwunden ist. Trotz all seiner Bemühungen ist dies jedoch nicht die beste Basis für einen packenden Einstieg ins Finale, sodass sich "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" von Anfang an schwer tat, an die Atmosphäre, Spannung und das Erzähltempo des zweiten Teils anzuknüpfen.


"Sie verkörpern die Unschuld, die dem Untergang geweiht ist." Das fand Anastasia auf verschiedenen Ebenen beleidigend. "Ich bin nicht dem Untergang geweiht. Und unschuldig bin ich auch nicht."
"Jaja, aber Sie dürfen nicht vergessen, dass Menschen sich aus einer Situation immer das herausnehmen, was sie brauchen. Als Endura sank, brauchten sie jemand, dem sie ihre Trauer widmen konnten. Ein Symbol der verlorenen Hoffnung."
"Die Hoffnung ist nicht verloren", beharrte sie. "Sie ist nur verlegt worden."


Wir befinden uns also nicht nur nach dem sehr offenen Ende von Teil 2 in der Schwebe, sondern werden mit den wichtigen Fragen, die uns unter den Nägeln brennen auch noch relativ lange im tatsächlichen Einstieg vertröstet. Was ist die Notlösung der Scythe-Gründer? Was hat Goddard mit der Welt vor? Werden Citra und Rowan gefunden werden? Wie kommen die Menschen damit zurecht, dass der Thunderhead sie nun in Kollektivstrafe anschweigt? Was macht Greyson mit der ihm auserkorenen Rolle des einzigen Bindeglieds zwischen Menschen und Thunderhead? Welche Rolle spielen die Tonisten im Plan des Thunderheads? Und was entdecken Faraday und Munira auf dem blinden Fleck? Statt diese Fragen zügig zu beantworten, kommen zu den treibenden Rätseln immer neue hinzu. Denn der Thunderhead scheint plötzlich auf den abgelegenen, neu entdeckten Atollen ein geheimes Bauprojekt zu planen, Limbus-Agenten auf der ganzen Welt starten eine letzte große Reise mit ungewissem Ziel und harmlose, intonierende Tonisten werden zu einer gefährlichen, explosiven Randgruppe... Wohin soll das führen, wenn die Scythe immer mehr außer Kontrolle geraten, der Thunderhead sich nicht einmischen darf und die wichtigsten Führer der Rebellion eingefroren auf dem Meeresgrund liegen...?


"Umwälzung", sagte Jerico nüchtern. "Berge entstehen durch Umwälzungen. Ich bin sicher, das sieht am Anfang nicht schön aus. (...) In jeder Katastrophe liegt eine neue Möglichkeit", erklärte Jeri. "Ein Schiff geht unter, und mir beginnt es in den Fingern zu jucken, denn in dem Wrack liegen Schätze verborgen. Denk daran, was ich auf dem Meeresgrund entdeckt habe. Dich!"
"Und vierhunderttausend Scythe-Diamanten."


Bis auf 100 Seiten vor dem Ende liest sich "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" eher wie der dritte Teil einer Quadrologie, als wie das Finale - so viele Themen kommen hier mit dazu, sodass meine Fragen immer mehr, statt weniger wurden. Die Auszüge aus den Nachlesetagebüchern bekannter Scythe, die in "Scythe - Die Hüter des Todes" das Geschehen untermauert haben und die Anmerkungen mit Ausführungen, Gedanken und Erklärungen des Thunderheads im zweiten Teil, werden hier ersetzt durch Auszüge aus der religiösen Schrift, "Ein Testament des Toll", Selbstgespräche mit Iterationen des Thunderheads und Auszüge aus Schreiben, Reden und Stellungnahmen der führenden Scythe in verschiedenen Regionen der Welt. Auch durch diese drei verschiedenen eingebundenen Inhalte kommen mehr neue Rätsel ins Spiel, als dass sie gelöst würden. Shustermans gemächlicher Wiedereinstieg in die Geschichte und die nur langsame Aufdeckung der offenen Geheimnisse sorgt deshalb natürlich für ordentlich Spannung und ist ein Garant für ständiges Weiterlesen-Wollen. Leider ist dies aber auch einer meiner größten Kritikpunkte: viele kleine Einzelszenen, lose Puzzlestücke und komplexe Handlungsstränge sorgen zwar dafür, dass es bis zum Ende undurchschaubar bleibt, was Shusterman mit seiner Geschichte vor hat, dadurch steuert die Geschichte im Mittelteil aber etwas ziellos durch internationale Gewässer und es fehlt Bekanntes, an dem wir uns festhalten können.


"Er trat einen Schritt zurück, betrachtete Rowan von oben bis unten und taxierte ihn wie ein verblasstes Gemälde, das seinen Reiz verloren hatte. "Du hättest mein erster Unterscythe werden können"; sagte Goddard, "der Erbe des Welt-Scythetums. Und es besteht kein Zweifel, dass es nur noch ein einziges Welt-Scythetum geben wird, wenn ich fertig bin. Das wäre deine Zukunft gewesen."
"Wenn ich nur mein Gewissen ignoriert hätte."
Goddard schüttelte mitleidig den Kopf. "Gewissen ist nur ein Werkzeug wie viele andere. wenn du es nicht richtig beherrschst, beherrscht es dich - und wie ich dein Gewissen einschätze, hat es dir den Verstand geraubt."


Schon im zweiten Teil der Trilogie rückte der Fokus stark von unseren beiden Hauptfiguren ab, um zwei weiteren Handlungsträgern die Bühne zu überlassen: Greyson Tolliver und dem Thunderhead, welche abermals eine tragende Rolle übernehmen und mich mit ihrer seltsam innigen, körperlosen Verbindung (Liebe?) zueinander, berührt haben. Hier geraten Rowan alias Scythe Luzifer und Citra alias Scythe Anastasia noch einmal mehr in den Hintergrund und bilden nur noch eine Art roten Faden für die Betrachtung des globalen Geschehens. Zwischen all den Reisen, großen Events, Zeitsprüngen, Bergungsaktionen und dem ein oder anderen Kampf, bei dem auch die Action nicht zu kurz kommt, gehen die beiden Figuren, die einmal Kernstück der Geschichte war, leider etwas zu sehr unter. Wer also hier eine weitere Vertiefung ihrer Charakterzeichnung oder gar eine amouröse Entwicklung erwartet, wird wohl enttäuscht werden.


"Im Laufe der Jahre hatte er Millionen Menschen dabei zugesehen, wie sie in den Armen eines oder einer anderen schliefen. Der Thunderhead hatte keine Arme, mit denen er jemanden hätte umfangen können. Trotzdem spürte er Greysons Herzschlag und seine exakte Körpertemperatur, als wäre er direkt neben ihm. Das zu verlieren hätte ihm unermesslichen Kummer bereitet. Nacht für Nacht überwachte er Greyson stumm in jeder ihm möglichen Weise. Denn das kam führ ihn einer Umarmung am nächsten."


Dafür rücken Faraday und Munira etwas mehr in den Fokus des Geschehens und zwei neue Figuren - Jerico, aus Madagaskar stammender Kapitän eines Bergungsschiffs, der unter der Sonne weiblich und unter den Wolken männlich ist und Loriana, vormalige Nimbusagentin und heimliche Leiterin der Thunderhead-Mission im "Land Nod". Vor allem Jerico und das mit ihm/ihr aufkommende Thema des Geschlechterdualismus und der impliziten Kritik am binären Geschlechtersystem hat mich sehr fasziniert. Die beiden konnten aber leider -wie alle anderen kunstvollen Weiterführungen der Story- nicht darüber hinwegtäuschen, dass ohne Citra und Rowan im Vordergrund der Geschichte etwas Essentielles fehlt. Demnach habe ich diesen dritten Teil als weniger emotional und berührend empfunden. Natürlich spürt man die Spannung weiterhin, man fiebert aber nicht mehr so mit und ist eher ein distanzierter Beobachter der Geschehnisse. So habe ich mit Faszination zwar und einer ordentlichen Portion Demut vor dem Talent des Autors die Geschichte verfolgt, mich aber nicht mehr emotional reingehängt, wie zuvor.


"Du bist eine schreckliche Person", sagte der Thunderhead. "Du bist eine wundervolle Person."
"Na, was denn jetzt?", wollte Greyson wissen.
Und die Antwort, die er leise, ganz leise bekam, war keine Antwort, sondern eine Frage. "Warum verstehst du nicht, dass die Antwort -beides- lautet?"


Neal Shusterman stellt hier das Große und Ganze seines Settings, die weltpolitische Wendung, die Entwicklungen innerhalb des Scythetums aber auch den Vormarsch der Tonisten und das Aufkommen von extremistischen Zischersekten in den Vordergrund. Während der erste Teil sich vor allem auf die Einführung der Welt und die psychologischen Folgen der Scythe-Ausbildung auf die beiden Protagonisten fokussiert hat und es im zweiten Teil um die politischen Folgen der Wahlen eines neuen High Blade, die gesellschaftlichen Experimente des Thunderheads und Faradays Suche nach einem Notausschalter des entgleisenden Scythetums ging, wird Shusterman hier nochmals politischer und weitet seinen Blick auf die ganze Welt aus. Auch in seinem großen Finale lässt es sich der Autor nicht nehmen, viele gesellschaftskritische und politisch wie psychologisch höchst relevante Themen wie Religion, Verschwörungstheorien, Sekten, Politikverdrossenheit, Anarchie, Stillstand, Macht oder Gerechtigkeit anzubringen. Dadurch kommen natürlich einerseits wieder viele neue spannende Ideen zur Sprache und die Gesellschaft zwischen Utopie und Dystopie wird nochmals komplexer und vielschichtiger. Auf der anderen Seite holt der Autor etwas weiter aus, als in diesem Finale nötig gewesen wäre, lässt sich viel Zeit zu Beginn und macht seinen Reihenabschluss somit ein bisschen schwerfälliger als erwartet.


"Sie war nicht ausgebildet für und vorbereitet auf die Verantwortung, Leben zu beenden. Sie hatte jetzt größerem Respekt vor den seltsam gewandten Geistern, denn man musst ein außergewöhnlicher Mensch sein, um diese Verantwortung täglich zu übernehmen. Entweder ein Mensch, der gar kein Gewissen hatte, oder einer, dessen Gewissen so tief und standhaft war, dass er seine Mitte auch im Angesichts der Verloschenen wahren konnte."


Das hielt mich jedoch nicht davon ab, die Geschichte in wenigen Tagen durchzusuchten und gespannt auf die Lösung zu warten, die der Autor für dieses komplexe und wohl ausgeklügelte Durcheinander bereithalten würden. Des Weiteren war ich natürlich auch nach wie vor tief beeindruckt von Shustermans Schreibstil, der die treibende Spannung eines Thrillers gekonnt mit der Einfühlsamkeit eines Jugendromans und der gedanklichen Tiefe eines akademischen Gedankenexperiments verbindet. Die vielen enthaltenen Gedanken über Sterblichkeit, Tod, Stagnation, Inspiration, Verantwortung und Intensität von Leben machen die Geschichte trotz ihrer "Andersartigkeit" zu einem atmosphärisch dichten, spannenden Roman. Zwischen den 608 Seiten gibt es so viele leise Spitzen, kluge Bemerkungen und messerscharfe Beobachtungen, in denen man auch einen Bezug zu aktuellen Vorgängen in der Realität sehen kann, dass die grundsätzlich absurde und makabre Idee eines gesellschaftlichen Institution mit der "Lizenz zum Töten" wahnsinnig gut funktioniert.


"Es gab ein Problem, wenn man sich aufmachte, die Welt zu verändern: Man war niemals der Einzige. Bei einem endlosen Tauziehen mit mächtigen Gegnern - die nicht nur in die entgegengesetzte, sondern einfach in alle Richtungen zogen - konnte man sich vielleicht ab und zu vorwärtsbewegen, manchmal musste man aber auch ein paar Schritte zur Seite gehen. Wäre es besser gewesen, es gar nicht erst zu probieren? Das wusste er nicht."


Das eigentliche Ende ist dann in erster Linie explosiv, hochspannend ... und viel zu schnell vorbei. "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" ließ sich wie gesagt sehr lange Zeit, die nach dem Ende von Band 2 vorhandene Spannung Stück für Stück weiter auszubauen und zum Finale hin zu steigern. Ich hatte schon während dem Lesen Vorbehalte, ob all die offenen Fäden in den noch verbleibenden Seiten wirklich alle zu Ende geführt werden können - und ich hatte Recht: es wurde hier so lange und akribisch auf das Ende hingearbeitet, dass dieses dann sehr schnell vorbeizieht. Die Spannung, die sich über alle Teile aufgebaut hat, entweicht hier auf wenigen Seiten explosionsartig und hinterlässt Ohrenklingeln und eine Menge weiterer Anknüpfungspunkte. Hier hätte ich mir ein etwas kürzerer Mittelteil und dafür einen ausführlicheren Showdown gewünscht, der sich für Kernentwicklungen mehr Zeit nimmt.


"Menschen sind wie Gefäße", hatte Jeri zu ihr gesagt. "Sie nehmen das auf, was in sie hineingeschüttet wird."


Achtung Spoiler: Zum Beispiel die Entstehung von Cirrus Primary aus den Iterationen des Thunderheads kam mir sehr plötzlich vor. Wir erleben zuerst eine sehr langsame Evolution der Thunderhead-Nachkommen und der entscheidende Schritt findet dann komplett im Dunkeln statt und schließt und aus. Auch einen genaueren Blick hinter Goddards Fassade hätte ich mir von diesem Finale gewünscht. Wie findet er die Atolle? Warum will er sie zerstören? Was treibt ihn wirklich an? Ist es nur Machtgier? Da er hier eine so große Rolle spielt, hätte ich mir ein wenig mehr Zeit für seine Beweggründe erhofft. Ein weiterer Punkt, welcher direkt mit Goddard zusammenhängt und mich nicht ganz abholen konnte, war sein Tod. Ayn Rand beginnt ja schon im zweiten Teil, leicht abtrünnig zu werden und über ihre Gefolgschaft nachzudenken. Der Gipfel ihrer schleichenden Entwicklung - ihr Mord an Goddard - kam für mich aber viel zu sehr aus dem Nichts, um mich zu überzeugen. Ein weiteres loses Ende stellt für mich das Testament des Tolls, dessen Deutungen, Referenzen zur Handlung und Parallelen zur Bibel dar. In welcher zeitlichen Relation das Dokument zur Handlung steht, ob es vielleicht auch in der neuen Tonistenkolonie entstanden ist, oder ob es sich um ein historisch überliefertes Dokument handelt, das die Handlung vorhersagt, blieb mir leider zu offen, als dass ich eine wirkliche Bereicherung darin gesehen hätte. So wurde ich durch diese Abschnitte in erster Linie verwirrt und hätte mir noch mal einen klareren Bezug zur Haupthandlung gewünscht. Der letzte große Punkt, der das Ende ein wenig unbefriedigend macht, ist die sehr offene Haltung der Zukunft unserer geliebten Protagonisten gegenüber. Was aus Citra, Rowan, Greyson, Jerico, Faraday und all den anderen wird, ist hier nur kurz angeschnitten und überlässt vieles der Fantasie.


"Du bist ein entscheidender Schritt zu etwas Größerem. Ein goldener Schritt. Ich werde mit sintflutartigem Regen um dich trauern, und diese Überschwemmung wird neues Leben hervorbringen. Alles dank dir. Ich will glauben, dass du Teil dieses neuen Lebens sein wirst. Das tröstet mich. Vielleicht tröstet es dich auch."
"Ich habe Angst."
"Das ist nicht schlimm. Sein eigenes Ende zu fürchten ist Teil des Lebens. So weiß ich, dass wir tatsächlich wahrhaft lebendig sind."
[Iteration #9000349, gelöscht]


Was sollt Ihr aus meiner ellenlangen Rezension nun mitnehmen? Diese Geschichte enthält gleichzeitig so viele kunstvolle Weiterführungen, kreative Ideen und geniale Wendungen, dass man sie für immer lieben muss, vernachlässigt aber durch den abermals veränderten Fokus die beiden Hauptprotagonisten auf schändliche Art und Weise, weshalb ich zwischen 3,5 und 5 Sternen jede Bewertung gerechtfertigt sehe. Lässt man meine Erwartungen und die Vergleiche zu den ersten Teilen und anderen Werken des Autors außeracht, würde ich hier sofort die Höchstwertung geben. Da mir aber nach langem Nachdenken einiges gefehlt hat, was ich gerne gelesen hätte, gibt es nur 4,5 Sterne.


Zum Abschluss...
... noch mein Lieblingszitat, das wohl auch Antwort auf die Frage gibt, ob Neal Shusterman hier nun eine Dystopie oder eine Utopie geschrieben hat:

"Was ist los mit uns, Munira?", fragte Faraday. "Was ist los mit uns, dass wir uns dermaßen hochgesteckte Ziele suchen und dann das Fundament in Stücke reißen? Warum müssen wir immer das Streben nach unseren eigenen Träumen sabotieren?"
"Weil wir fehlerhafte Wesen sind", sagte Munira. "Wie sollten wir in eine perfekte Welt passen?"





Fazit:


Dieses Finale tat sich schwer, an Atmosphäre, Spannung und Erzähltempo des zweiten Teils anzuknüpfen und bleibt deshalb hinter meinen Erwartungen zurück. Trotz des etwas zu offenen und schnellen Endes, des recht gemächlichen Einstiegs und der in den Hintergrund geratenen Protagonisten ist "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" so ein vielschichtiger, runder und hochspannender Abschluss der Scythe-Trilogie, der die treibende Spannung eines Thrillers gekonnt mit der Einfühlsamkeit eines Jugendromans und der gedanklichen Tiefe eines akademischen Gedankenexperiments verbindet, dass es zu meinen Jahreshighlights zählt.

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