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Veröffentlicht am 03.11.2020

Zwischen Hoffnung und Zerstörung...

Die Tribute von Panem X. Das Lied von Vogel und Schlange
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Wer von Suzanne Collins´ "Panem"-Reihe noch nichts gehört hat, lebt wohl unter einem Stein. Die Dystopie-Trilogie hat ja nicht nur Leser auf der ganzen Welt mitgerissen, Katniss Geschichte wurde kam auch ...

Wer von Suzanne Collins´ "Panem"-Reihe noch nichts gehört hat, lebt wohl unter einem Stein. Die Dystopie-Trilogie hat ja nicht nur Leser auf der ganzen Welt mitgerissen, Katniss Geschichte wurde kam auch durch vier Spielfilme in die Kinos. Als ein Prequel angekündigt wurde, das 64 Jahre vor den Ereignissen des ersten Buchs spielt und das Leben von Coriolanus Snow erzählt, war ich zuerst sehr skeptisch. Man nehme eine unsympathische Hass-Person, setze sie in ein dystopisches Nachkriegs-Setting und wähle einen Handlungsabschnitt, dessen Ende durch die Trilogie klar vorgegeben ist - wie soll das auch funktionieren? Ich hätte mich mit meiner Einschätzung nicht mehr irren können...


"Kommst du, kommst du,
Kommst du zu dem Baum,
Wo sie hängten den Mann, der drei getötet haben soll.
Seltsames trug sich zu.
Nicht seltsamer wäre es,
Träfen wir uns bei Nacht im Henkersbaum."


Die Gestaltung des Prequels passt hervorragend zu den neueren Ausgaben der Trilogie und ist mit dem dicken schwarzen Einband, der goldenen Schrift und der speziellen, ausklappbaren Leselasche mit Schlangenmotiv sehr hochwertig gestaltet. Nichtsdestotrotz gefällt mir ein wesentlicher Punkt überhaupt nicht: der Preis. Klar, es handelt sich hier um einen langersehnten Nachfolgeroman einer Bestsellerautorin und mit den 608 Seiten macht die gebundene Ausgabe schon was her, 26€ finde ich aber dennoch zu teuer und nicht ganz angemessen. Hätte ich die Geschichte nicht zum Geburtstag geschenkt bekommen, hätte ich sie mir wohl nicht zugelegt. Der Titel "Die Tribute von Panem X - Das Lied von Vogel und Schlange" ist zwar sehr passend gewählt, mir aber deutlich zu lang. Der Originaltitel "The Ballad of Songbirds and Snakes" klingt im deutschen Titel zwar an, der Oetinger Verlag hat sich aber entschieden, den Reihentitel "Die Tribute von Panem" auch noch hinzuzufügen (wohl um die Verbindung klarer zu machen), weshalb der Gesamttitel ein wenig sperrig erscheint. Das Hauptmotiv, das goldene X mit Giftschlange und Spotttölpel gefällt mir aber sehr!


Erster Satz: "Coriolanus ließ den Kohl in den Topf mit kochendem Wasser gleiten und schwor sich, ihn eines Tages für immer vom Speiseplan zu verbannen."


Die Geschichte ist inhaltlich in drei große Abschnitte - "Mentor", "Das Stipendium" und "Friedenswächter" - eingeteilt, die in Machart, Stimmung und Handlungsfokus so unterschiedlich sind, dass man fast meint, man habe es hier mit drei unterschiedlichen Romanen zu tun. Im ersten Teil konzentrieren wir uns ganz auf den jungen Coriolanus, der im Kapitol ums Überleben kämpft. Anders als in den Distrikten muss er sich zwar nicht vor Friedenswächtern oder den Spielen ängstigen, sein größter Feind ist aber dennoch ähnlich: der Hunger. Als Kriegswaise sind er, seine Großmutter und seine Cousine Tigris fast mittellos und versuchen dennoch, den Schein zugunsten des Rufs des Hauses Snow aufrecht zu erhalten. Mit gestreckter Kohlsuppe, improvisierten Hemden und höflichen Lügen entsteht hier fast so etwas wie Mitleid, Sympathie oder Nähe zu den gebeutelten Snows, welches jedoch laufend mit unseren Vorbehalten gegenüber der späteren Person President Snows und der allgemeinen Abneigung gegenüber dem Kapitol kämpft.


"Sie war ein Geschenk, das wusste er, und so musste er sie auch behandeln. Doch wie konnte er sich ihren atemberaubenden Auftritt am besten zunutze machen? Wie konnte er aus einem Kleid, einer Schlange, einem Lied Kapital schlagen?"


Diese allgemeine Abneigung wird jedoch zunächst immer wieder auf die Probe gestellt. Denn durch Coriolanus´ Geschichte und diverse Beobachtungen der Nachbarn wird klar, wie schlecht es um das Kapitol zu Beginn der 10. Hungerspiele steht und wie sehr auch die herrschende Elite unter dem anhaltenden Blutvergießen mit den Distrikten gelitten hat. Das Kapitol konnte die Aufstände zwar niederschlagen und setzt seitdem auf eine brutale Einschüchterungstaktik, wie wir auch aus der Panem-Trilogie wissen, wie knapp es allerdings tatsächlich gewesen ist und welche Auswirkungen die Zerstörung von Distrikt 13 auch auf das Kapitol hatte, wird uns erst jetzt klar. Dieser erste Abschnitt dient also nicht nur dazu, Corionalus kennenzulernen, sondern zeichnet auch ein ganz anderes Bild des verschwenderischen, schillernden und eiskalten Kapitols. Eine verwirrte, zertrümmerte Macht im Ringen um Beherrschung, Stabilität, Aufschwung und dem Widerherstellen einer sicheren Weltordnung - das ist ein ganz wunderbares Setting für diese Geschichte, die ebenfalls zwischen Zerstörung und Hoffnung tänzelt...


"Egal, was Sie sagen. Sie haben kein Recht, Menschen hungern zu lassen, sie grundlos zu bestrafen. Sie haben kein Recht, ihnen ihr Leben und ihre Freiheit zu nehmen. All das gehört uns Menschen von Geburt an, und Sie dürfen damit nicht einfach machen, wie Sie wollen. Dass Sie aus dem Kapitol kommen, gibt Ihnen noch lange nicht das Recht dazu. Dass Sie den Krieg gewonnen haben, gibt Ihnen noch lange nicht das Recht dazu. Nichts gibt Ihnen das Recht dazu."


Diese Orientierungslosigkeit bildet den perfekten Nährboden für den Teil, der danach kommt: die 10. Hungerspiele. Anders als mit Katniss tauchen wir hier nicht direkt in das blutige Gemetzel ein, sondern bleiben mit Coriolanus´ Funktion als Mentor distanzierte Beobachter des Geschehens. Wer hier jedoch ausschweifende Shows, Kostüme und Hightech-Kameras erwartet, wird überrascht sein. Die Spiele sind zu diesem Zeitpunkt Panems noch nicht mehr als ein rasches Gemetzel in einer kleinen Sportarena - wie aus dem grausamen Ringen mit dem Tod, das keiner anschauen wollte, ein Publikumsmagnet wurde, wie ein Blutbad zu einem Vergnügungsfest für die ganze Republik wurde, wie die Spiele entstanden, die wir kennen, wird hier nur angezeichnet. Siegermentoren, Interviews, ausgebildete Tribute, Wetten und mehr sind hier noch Zukunftsmusik - stattdessen sehen wir hier noch den blutigen, unverschleierten Kern der Spiele. Die eigentliche Handlung in der Arena wird dabei wie gesagt sehr kurzgehalten und nur aus der Außenperspektive erläutert. Wir haben hier also deutlich mehr Abstand zu den Vorkommnissen und einen ganz anderen Blickwinkel als mit Katniss.


"Was ist denn in der Arena passiert? Das ist der Mensch, aufs Wesentliche reduziert. Die Tribute, aber auch Sie. Wie flüchtig die Zivilisation doch ist. All Ihre guten Manieren, Erziehung, familiärer Hintergrund, alles, worauf Sie stolz sind - im Bruchteil einer Sekunde fortgewischt, und übrig bleibt nur, was Sie eigentlich sind. Ein Junge mit einem Stück Holz, der einen anderen Jungen totschlägt. So ist der Mensch in seinem Naturzustand."


Das sorgt dafür, dass die Geschichte zwar gewohnt düster, brutal und abstoßend, jedoch mit einem ganz anderen Erzählton ausgestattet ist. Da wir sowohl die Ernte als auch die Spiele aus Kapitolsicht erzählt bekommen, also aus "Tätersicht" und nicht aus "Opfersicht", fehlt die schwelende Wut und die Wucht der Emotionen, die uns die Trilogie angesichts der Ungerechtigkeiten und Brutalität spüren ließ. Immer wieder habe ich während der Geschichte bemerkt, dass ich so in Coriolanus Perspektive drin war, dass ich dachte "ach wie nett von ihm", wenn er Brote unter den Tributen verteilte und sie behandelte wie Menschen, statt mir klar zu werden, wie krank das alles eigentlich wirklich ist. Und genau das ist das, was das Buch so schockierend genial macht: wir wissen, was aus Snow werden wird und werden dennoch von seiner Geschichte mitgerissen, wir kennen den Ausgangszustand der Trilogie und hoffen aber auf ein anderes Ende, wir ahnen von Beginn an, worauf die Handlung hinauslaufen wird und dennoch bleibt es bis zum Ende spannend.


"Auch wenn die Umstände besonders waren, so blieb sie doch ein Mädchen aus den Distrikten, oder jedenfalls kam sie nicht aus dem Kapitol. Eine Bürgerin zweiter Klasse. Ein Mensch zwar, aber roh. Schlau vielleicht, aber nicht entwickelt. Teil einer formlosen Masse, unglücklicher, barbarischer Wesen, die am Rande seines Bewusstseins lauerten. Sicher, wenn es überhaupt eine Ausnahme von der Regel gegeben hatte, dann Luca Gray Baird. Ein Mädchen, das in keine Schublade passte. Ein seltener Vogel, genau wie er. Warum sonst hatte er von dem Gefühl ihrer Lippen auf seinen weiche Knie bekommen?"


Die Geschichte steht und fällt mit ihrem Hauptprotagonistin, Coriolanus Snow. Er ist ein durchaus komplexer und spannender Protagonist, auch wenn er nicht unbedingt als Sympathieträger bezeichnet werden kann. Dafür ist er weit zu arrogant, berechnend und gefühlskalt. Er stürzte mich jedoch in einen ständigen Zwiespalt, von dem die ganze Atmosphäre auch lebt. Wir versuchen während dem Lesen angestrengt den grausamen Diktator in dem taktierenden, aber auch unschuldigen Jugendlichen zu sehen, den wir zu Beginn kennenlernen. Und ich weiß nicht, wie es anderen Lesern ging - es mochte mir nicht so recht gelingen... Getrieben von dem Wunsch nach Macht, Anerkennung und der Angst vor Versagen ordnet er sich in die Struktur Panems ein und stellt seinen eigenen Stolz und Erfolg an erster Stelle. Dennoch versteht man immer, warum er tut was er tut und schließt ihn in kurzen Momenten der Verletzlichkeit und Wärme unweigerlich ein wenig ins Herz. Seine Beweggründe, Motive, Denkweisen und Überlegungen sind so solide, dass man sie nachvollziehen kann und seiner Geschichte gespannt folgt.


"Es soll eine Strafe für die Distrikte sein, schon klar, aber haben wir sie nicht schon genug gestraft? Wie lange wollen wir den Krieg noch in die Länge ziehen?" (...) Coriolanus hatte es bisher immer als Ehre betrachtet, ein Mentor zu sein. Als Chance, dem Kapitol zu dienen und vielleicht ein paar Lorbeeren einzuheimsen. Aber sie hatte nicht ganz unrecht. Wenn die ganze Sache nicht ehrenhaft war, wie konnte es dann eine Ehre sein, daran mitzuwirken?"


Auch die Figur der Lucy Gray Baird, die während der Hungerspiele auftaucht und mit ihren fröhlichen Liedern, dem bunten Regenbogenkleid und ihrer liebenswürdigen Art nicht nur Coriolanus und ganz Panem, sondern auch den Leser um den Finger wickelt, ist nicht unbedingt als Sympathieträgerin geeignet. Sie ist zwar durchaus interessant, stark und gerissen, beherrscht das Spiel der Manipulation und Vorführung aber genauso gut wie Coriolanus. Die einzige mahnende Stimme in diesem Roman ist die von Sejanus Plinth, Coriolanus´ Mitschüler, dessen Vater es als wirtschaftlicher Kriegsgewinner aus Distrikt 2 ins Kapitol geschafft hat. Auch wenn Sejanus´ Familie fünfmal so reich ist wie Coriolanus´, scheint er nicht so recht ins Kapitol zu passen. Zu warmherzig und auf das Wohl anderer bedacht stellt er sich offen gegen die Unterdrückung der Distrikte, gegen die Hungerspiele und die Brutalität, die im Namen der Friedenserhaltung geduldet ist und sammelt damit fleißig Sympathiepunkte beim Leser. Die allgemeine Stimmung kann er allein aber auch nicht mehr retten, sodass die Geschichte lange nicht so emotional mitreißend ist, wie die Haupttrilogie. Man bleibt aus gegebenem Zwiespalt, den der Protagonist und dessen Erzählperspektive dauerhaft auslöst, auf eher Abstand und somit gibt es auch die ein oder andere Stelle mit vor sich hin plätschernder Überlänge.


"Manchmal starrte Coriolanus aus dem Fenster auf die ausgestorbenen Städte, durch die sie fuhren, und fragte sich, wie sie in ihren goldenen Zeiten ausgesehen hatten. Damals, als das hier Nordamerika gewesen war und nicht Panem. Schön musste das gewesen sein. Ein Land voller Kapitole. Was für ein Verlust..."


Der dritte Teil der Geschichte spielt dann in Distrikt 12 und schlägt abermals einen ganz anderen Erzählton an. Zunächst fragt man sich, was dieses düstere und doch wenig funktional erscheinende Anhängsel nach dem Ende der Hungerspiele soll, das man recht ziellos verfolgt. Dann schockiert Suzanne Collins jedoch immer wieder mit einer unbarmherzigen Wendung und zerschlägt all die Sympathie, die wir langsam und vorsichtig für Coriolanus aufgebaut haben, hart und gründlich. Dieser letzte Teil beschäftigt sich also nochmals viel mehr mit dem Innenleben unseres Protagonisten und lässt andeuten, wie er zu dem eiskalten Tyrannen werden konnte, den wir aus der Trilogie kennen. Leider findet diese Entwicklung ganz im Gegenteil zur vorherigen Vorgehensweise, die eher mit subtilen Andeutungen gearbeitet hatte, ziemlich überhastet statt und wirkte somit auf mich zu erzwungen. Als nettes Extra bekommen wir hier auch noch ein paar Querverweise zur Haupttrilogie und treffen beispielsweise auf Spotttölpel (die in Coriolanus sofort ein Gefühl der Abneigung hervorrufen), erfahren die Geschichte hinter dem bekannten Lied vom Henkersbaum und lernen die Friedenswächter, die bislang eher blasse, namenslose Klonkrieger in meinem Kopf waren, näher kennen. Dieser letzte Abschnitt versucht also ganz klar, eine Brücke zur späteren Reihe zu schlagen, ließ mich aber in erster Linie verwirrt zurück. Falls es hier einen doppelten Boden gab, habe ich ihn wohl überlesen.


"Du bist mein, und ich bin dein. Das steht in den Sternen geschrieben."
"Dann gibt es wohl kein Entrinnen." Er beugte sich hinüber und küsste sie, die Wangen heiß vor Glück."


Es kommt auf den letzten Seiten nämlich einiges ganz anders als gedacht und viele Fragen bleiben offen, die durchaus Luft für eine Fortsetzung lassen würden. Falls es jedoch zu keinem zweiten Panem X kommen sollte, dürfen wir uns immerhin auf die Verfilmung von freuen, die bereits vor Monaten angekündigt wurde und bei der wieder Regisseur Francis Lawrence und die Autorin selbst mitwirken werden. Ich bin auf jeden Fall sehr gespannt, wie sie diese Geschichte filmisch umsetzen wollen, die so anders ist als die Trilogie, jedoch alles in allem wunderbar in das gezeichnete Gesamtbild passt.


"Die Menschen sind gar nicht so schlecht", entgegnete sie. "Nur das, was die Welt ihnen antut. (...) Ich glaube der Mensch ist im Kern gut. Man weiß genau, wann man die Grenzen zum Bösen überschreitet, und es ist eine ständige Herausforderung im Leben, auf der richtigen Seite dieser Grenze zu bleiben."



Fazit:


Mit "Die Tribute von Panem X - Das Lied von Vogel und Schlange" hat Suzanne Collins ein Prequel geschrieben, das vielleicht nicht unbedingt notwendig war, sich aber wunderbar stimmig und rund in die Welt Panems einfügt. Wir verfolgen hier nicht nur die Entwicklung eines ambivalenten Protagonisten, sondern bekommen einen Einblick in ein verwirrtes Nachkriegs-Panem im Ringen um Beherrschung, Stabilität, Aufschwung und dem Widerherstellen einer sicheren Weltordnung. Zwar entwickelt das Prequel nicht denselben Sog wie die Haupttrilogie und geht auch lange nicht so nahe, dennoch bin ich sehr gerne in die dystopische Welt Panems zurückgekehrt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.11.2020

Zwischen Hoffnung und Zerstörung...

Die Tribute von Panem X. Das Lied von Vogel und Schlange
0

Wer von Suzanne Collins´ "Panem"-Reihe noch nichts gehört hat, lebt wohl unter einem Stein. Die Dystopie-Trilogie hat ja nicht nur Leser auf der ganzen Welt mitgerissen, Katniss Geschichte wurde kam auch ...

Wer von Suzanne Collins´ "Panem"-Reihe noch nichts gehört hat, lebt wohl unter einem Stein. Die Dystopie-Trilogie hat ja nicht nur Leser auf der ganzen Welt mitgerissen, Katniss Geschichte wurde kam auch durch vier Spielfilme in die Kinos. Als ein Prequel angekündigt wurde, das 64 Jahre vor den Ereignissen des ersten Buchs spielt und das Leben von Coriolanus Snow erzählt, war ich zuerst sehr skeptisch. Man nehme eine unsympathische Hass-Person, setze sie in ein dystopisches Nachkriegs-Setting und wähle einen Handlungsabschnitt, dessen Ende durch die Trilogie klar vorgegeben ist - wie soll das auch funktionieren? Ich hätte mich mit meiner Einschätzung nicht mehr irren können...


"Kommst du, kommst du,
Kommst du zu dem Baum,
Wo sie hängten den Mann, der drei getötet haben soll.
Seltsames trug sich zu.
Nicht seltsamer wäre es,
Träfen wir uns bei Nacht im Henkersbaum."


Die Gestaltung des Prequels passt hervorragend zu den neueren Ausgaben der Trilogie und ist mit dem dicken schwarzen Einband, der goldenen Schrift und der speziellen, ausklappbaren Leselasche mit Schlangenmotiv sehr hochwertig gestaltet. Nichtsdestotrotz gefällt mir ein wesentlicher Punkt überhaupt nicht: der Preis. Klar, es handelt sich hier um einen langersehnten Nachfolgeroman einer Bestsellerautorin und mit den 608 Seiten macht die gebundene Ausgabe schon was her, 26€ finde ich aber dennoch zu teuer und nicht ganz angemessen. Hätte ich die Geschichte nicht zum Geburtstag geschenkt bekommen, hätte ich sie mir wohl nicht zugelegt. Der Titel "Die Tribute von Panem X - Das Lied von Vogel und Schlange" ist zwar sehr passend gewählt, mir aber deutlich zu lang. Der Originaltitel "The Ballad of Songbirds and Snakes" klingt im deutschen Titel zwar an, der Oetinger Verlag hat sich aber entschieden, den Reihentitel "Die Tribute von Panem" auch noch hinzuzufügen (wohl um die Verbindung klarer zu machen), weshalb der Gesamttitel ein wenig sperrig erscheint. Das Hauptmotiv, das goldene X mit Giftschlange und Spotttölpel gefällt mir aber sehr!


Erster Satz: "Coriolanus ließ den Kohl in den Topf mit kochendem Wasser gleiten und schwor sich, ihn eines Tages für immer vom Speiseplan zu verbannen."


Die Geschichte ist inhaltlich in drei große Abschnitte - "Mentor", "Das Stipendium" und "Friedenswächter" - eingeteilt, die in Machart, Stimmung und Handlungsfokus so unterschiedlich sind, dass man fast meint, man habe es hier mit drei unterschiedlichen Romanen zu tun. Im ersten Teil konzentrieren wir uns ganz auf den jungen Coriolanus, der im Kapitol ums Überleben kämpft. Anders als in den Distrikten muss er sich zwar nicht vor Friedenswächtern oder den Spielen ängstigen, sein größter Feind ist aber dennoch ähnlich: der Hunger. Als Kriegswaise sind er, seine Großmutter und seine Cousine Tigris fast mittellos und versuchen dennoch, den Schein zugunsten des Rufs des Hauses Snow aufrecht zu erhalten. Mit gestreckter Kohlsuppe, improvisierten Hemden und höflichen Lügen entsteht hier fast so etwas wie Mitleid, Sympathie oder Nähe zu den gebeutelten Snows, welches jedoch laufend mit unseren Vorbehalten gegenüber der späteren Person President Snows und der allgemeinen Abneigung gegenüber dem Kapitol kämpft.


"Sie war ein Geschenk, das wusste er, und so musste er sie auch behandeln. Doch wie konnte er sich ihren atemberaubenden Auftritt am besten zunutze machen? Wie konnte er aus einem Kleid, einer Schlange, einem Lied Kapital schlagen?"


Diese allgemeine Abneigung wird jedoch zunächst immer wieder auf die Probe gestellt. Denn durch Coriolanus´ Geschichte und diverse Beobachtungen der Nachbarn wird klar, wie schlecht es um das Kapitol zu Beginn der 10. Hungerspiele steht und wie sehr auch die herrschende Elite unter dem anhaltenden Blutvergießen mit den Distrikten gelitten hat. Das Kapitol konnte die Aufstände zwar niederschlagen und setzt seitdem auf eine brutale Einschüchterungstaktik, wie wir auch aus der Panem-Trilogie wissen, wie knapp es allerdings tatsächlich gewesen ist und welche Auswirkungen die Zerstörung von Distrikt 13 auch auf das Kapitol hatte, wird uns erst jetzt klar. Dieser erste Abschnitt dient also nicht nur dazu, Corionalus kennenzulernen, sondern zeichnet auch ein ganz anderes Bild des verschwenderischen, schillernden und eiskalten Kapitols. Eine verwirrte, zertrümmerte Macht im Ringen um Beherrschung, Stabilität, Aufschwung und dem Widerherstellen einer sicheren Weltordnung - das ist ein ganz wunderbares Setting für diese Geschichte, die ebenfalls zwischen Zerstörung und Hoffnung tänzelt...


"Egal, was Sie sagen. Sie haben kein Recht, Menschen hungern zu lassen, sie grundlos zu bestrafen. Sie haben kein Recht, ihnen ihr Leben und ihre Freiheit zu nehmen. All das gehört uns Menschen von Geburt an, und Sie dürfen damit nicht einfach machen, wie Sie wollen. Dass Sie aus dem Kapitol kommen, gibt Ihnen noch lange nicht das Recht dazu. Dass Sie den Krieg gewonnen haben, gibt Ihnen noch lange nicht das Recht dazu. Nichts gibt Ihnen das Recht dazu."


Diese Orientierungslosigkeit bildet den perfekten Nährboden für den Teil, der danach kommt: die 10. Hungerspiele. Anders als mit Katniss tauchen wir hier nicht direkt in das blutige Gemetzel ein, sondern bleiben mit Coriolanus´ Funktion als Mentor distanzierte Beobachter des Geschehens. Wer hier jedoch ausschweifende Shows, Kostüme und Hightech-Kameras erwartet, wird überrascht sein. Die Spiele sind zu diesem Zeitpunkt Panems noch nicht mehr als ein rasches Gemetzel in einer kleinen Sportarena - wie aus dem grausamen Ringen mit dem Tod, das keiner anschauen wollte, ein Publikumsmagnet wurde, wie ein Blutbad zu einem Vergnügungsfest für die ganze Republik wurde, wie die Spiele entstanden, die wir kennen, wird hier nur angezeichnet. Siegermentoren, Interviews, ausgebildete Tribute, Wetten und mehr sind hier noch Zukunftsmusik - stattdessen sehen wir hier noch den blutigen, unverschleierten Kern der Spiele. Die eigentliche Handlung in der Arena wird dabei wie gesagt sehr kurzgehalten und nur aus der Außenperspektive erläutert. Wir haben hier also deutlich mehr Abstand zu den Vorkommnissen und einen ganz anderen Blickwinkel als mit Katniss.


"Was ist denn in der Arena passiert? Das ist der Mensch, aufs Wesentliche reduziert. Die Tribute, aber auch Sie. Wie flüchtig die Zivilisation doch ist. All Ihre guten Manieren, Erziehung, familiärer Hintergrund, alles, worauf Sie stolz sind - im Bruchteil einer Sekunde fortgewischt, und übrig bleibt nur, was Sie eigentlich sind. Ein Junge mit einem Stück Holz, der einen anderen Jungen totschlägt. So ist der Mensch in seinem Naturzustand."


Das sorgt dafür, dass die Geschichte zwar gewohnt düster, brutal und abstoßend, jedoch mit einem ganz anderen Erzählton ausgestattet ist. Da wir sowohl die Ernte als auch die Spiele aus Kapitolsicht erzählt bekommen, also aus "Tätersicht" und nicht aus "Opfersicht", fehlt die schwelende Wut und die Wucht der Emotionen, die uns die Trilogie angesichts der Ungerechtigkeiten und Brutalität spüren ließ. Immer wieder habe ich während der Geschichte bemerkt, dass ich so in Coriolanus Perspektive drin war, dass ich dachte "ach wie nett von ihm", wenn er Brote unter den Tributen verteilte und sie behandelte wie Menschen, statt mir klar zu werden, wie krank das alles eigentlich wirklich ist. Und genau das ist das, was das Buch so schockierend genial macht: wir wissen, was aus Snow werden wird und werden dennoch von seiner Geschichte mitgerissen, wir kennen den Ausgangszustand der Trilogie und hoffen aber auf ein anderes Ende, wir ahnen von Beginn an, worauf die Handlung hinauslaufen wird und dennoch bleibt es bis zum Ende spannend.


"Auch wenn die Umstände besonders waren, so blieb sie doch ein Mädchen aus den Distrikten, oder jedenfalls kam sie nicht aus dem Kapitol. Eine Bürgerin zweiter Klasse. Ein Mensch zwar, aber roh. Schlau vielleicht, aber nicht entwickelt. Teil einer formlosen Masse, unglücklicher, barbarischer Wesen, die am Rande seines Bewusstseins lauerten. Sicher, wenn es überhaupt eine Ausnahme von der Regel gegeben hatte, dann Luca Gray Baird. Ein Mädchen, das in keine Schublade passte. Ein seltener Vogel, genau wie er. Warum sonst hatte er von dem Gefühl ihrer Lippen auf seinen weiche Knie bekommen?"


Die Geschichte steht und fällt mit ihrem Hauptprotagonistin, Coriolanus Snow. Er ist ein durchaus komplexer und spannender Protagonist, auch wenn er nicht unbedingt als Sympathieträger bezeichnet werden kann. Dafür ist er weit zu arrogant, berechnend und gefühlskalt. Er stürzte mich jedoch in einen ständigen Zwiespalt, von dem die ganze Atmosphäre auch lebt. Wir versuchen während dem Lesen angestrengt den grausamen Diktator in dem taktierenden, aber auch unschuldigen Jugendlichen zu sehen, den wir zu Beginn kennenlernen. Und ich weiß nicht, wie es anderen Lesern ging - es mochte mir nicht so recht gelingen... Getrieben von dem Wunsch nach Macht, Anerkennung und der Angst vor Versagen ordnet er sich in die Struktur Panems ein und stellt seinen eigenen Stolz und Erfolg an erster Stelle. Dennoch versteht man immer, warum er tut was er tut und schließt ihn in kurzen Momenten der Verletzlichkeit und Wärme unweigerlich ein wenig ins Herz. Seine Beweggründe, Motive, Denkweisen und Überlegungen sind so solide, dass man sie nachvollziehen kann und seiner Geschichte gespannt folgt.


"Es soll eine Strafe für die Distrikte sein, schon klar, aber haben wir sie nicht schon genug gestraft? Wie lange wollen wir den Krieg noch in die Länge ziehen?" (...) Coriolanus hatte es bisher immer als Ehre betrachtet, ein Mentor zu sein. Als Chance, dem Kapitol zu dienen und vielleicht ein paar Lorbeeren einzuheimsen. Aber sie hatte nicht ganz unrecht. Wenn die ganze Sache nicht ehrenhaft war, wie konnte es dann eine Ehre sein, daran mitzuwirken?"


Auch die Figur der Lucy Gray Baird, die während der Hungerspiele auftaucht und mit ihren fröhlichen Liedern, dem bunten Regenbogenkleid und ihrer liebenswürdigen Art nicht nur Coriolanus und ganz Panem, sondern auch den Leser um den Finger wickelt, ist nicht unbedingt als Sympathieträgerin geeignet. Sie ist zwar durchaus interessant, stark und gerissen, beherrscht das Spiel der Manipulation und Vorführung aber genauso gut wie Coriolanus. Die einzige mahnende Stimme in diesem Roman ist die von Sejanus Plinth, Coriolanus´ Mitschüler, dessen Vater es als wirtschaftlicher Kriegsgewinner aus Distrikt 2 ins Kapitol geschafft hat. Auch wenn Sejanus´ Familie fünfmal so reich ist wie Coriolanus´, scheint er nicht so recht ins Kapitol zu passen. Zu warmherzig und auf das Wohl anderer bedacht stellt er sich offen gegen die Unterdrückung der Distrikte, gegen die Hungerspiele und die Brutalität, die im Namen der Friedenserhaltung geduldet ist und sammelt damit fleißig Sympathiepunkte beim Leser. Die allgemeine Stimmung kann er allein aber auch nicht mehr retten, sodass die Geschichte lange nicht so emotional mitreißend ist, wie die Haupttrilogie. Man bleibt aus gegebenem Zwiespalt, den der Protagonist und dessen Erzählperspektive dauerhaft auslöst, auf eher Abstand und somit gibt es auch die ein oder andere Stelle mit vor sich hin plätschernder Überlänge.


"Manchmal starrte Coriolanus aus dem Fenster auf die ausgestorbenen Städte, durch die sie fuhren, und fragte sich, wie sie in ihren goldenen Zeiten ausgesehen hatten. Damals, als das hier Nordamerika gewesen war und nicht Panem. Schön musste das gewesen sein. Ein Land voller Kapitole. Was für ein Verlust..."


Der dritte Teil der Geschichte spielt dann in Distrikt 12 und schlägt abermals einen ganz anderen Erzählton an. Zunächst fragt man sich, was dieses düstere und doch wenig funktional erscheinende Anhängsel nach dem Ende der Hungerspiele soll, das man recht ziellos verfolgt. Dann schockiert Suzanne Collins jedoch immer wieder mit einer unbarmherzigen Wendung und zerschlägt all die Sympathie, die wir langsam und vorsichtig für Coriolanus aufgebaut haben, hart und gründlich. Dieser letzte Teil beschäftigt sich also nochmals viel mehr mit dem Innenleben unseres Protagonisten und lässt andeuten, wie er zu dem eiskalten Tyrannen werden konnte, den wir aus der Trilogie kennen. Leider findet diese Entwicklung ganz im Gegenteil zur vorherigen Vorgehensweise, die eher mit subtilen Andeutungen gearbeitet hatte, ziemlich überhastet statt und wirkte somit auf mich zu erzwungen. Als nettes Extra bekommen wir hier auch noch ein paar Querverweise zur Haupttrilogie und treffen beispielsweise auf Spotttölpel (die in Coriolanus sofort ein Gefühl der Abneigung hervorrufen), erfahren die Geschichte hinter dem bekannten Lied vom Henkersbaum und lernen die Friedenswächter, die bislang eher blasse, namenslose Klonkrieger in meinem Kopf waren, näher kennen. Dieser letzte Abschnitt versucht also ganz klar, eine Brücke zur späteren Reihe zu schlagen, ließ mich aber in erster Linie verwirrt zurück. Falls es hier einen doppelten Boden gab, habe ich ihn wohl überlesen.


"Du bist mein, und ich bin dein. Das steht in den Sternen geschrieben."
"Dann gibt es wohl kein Entrinnen." Er beugte sich hinüber und küsste sie, die Wangen heiß vor Glück."


Es kommt auf den letzten Seiten nämlich einiges ganz anders als gedacht und viele Fragen bleiben offen, die durchaus Luft für eine Fortsetzung lassen würden. Falls es jedoch zu keinem zweiten Panem X kommen sollte, dürfen wir uns immerhin auf die Verfilmung von freuen, die bereits vor Monaten angekündigt wurde und bei der wieder Regisseur Francis Lawrence und die Autorin selbst mitwirken werden. Ich bin auf jeden Fall sehr gespannt, wie sie diese Geschichte filmisch umsetzen wollen, die so anders ist als die Trilogie, jedoch alles in allem wunderbar in das gezeichnete Gesamtbild passt.


"Die Menschen sind gar nicht so schlecht", entgegnete sie. "Nur das, was die Welt ihnen antut. (...) Ich glaube der Mensch ist im Kern gut. Man weiß genau, wann man die Grenzen zum Bösen überschreitet, und es ist eine ständige Herausforderung im Leben, auf der richtigen Seite dieser Grenze zu bleiben."



Fazit:


Mit "Die Tribute von Panem X - Das Lied von Vogel und Schlange" hat Suzanne Collins ein Prequel geschrieben, das vielleicht nicht unbedingt notwendig war, sich aber wunderbar stimmig und rund in die Welt Panems einfügt. Wir verfolgen hier nicht nur die Entwicklung eines ambivalenten Protagonisten, sondern bekommen einen Einblick in ein verwirrtes Nachkriegs-Panem im Ringen um Beherrschung, Stabilität, Aufschwung und dem Widerherstellen einer sicheren Weltordnung. Zwar entwickelt das Prequel nicht denselben Sog wie die Haupttrilogie und geht auch lange nicht so nahe, dennoch bin ich sehr gerne in die dystopische Welt Panems zurückgekehrt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.11.2020

Zwischen Hoffnung und Zerstörung...

Die Tribute von Panem X. Das Lied von Vogel und Schlange
0

Wer von Suzanne Collins´ "Panem"-Reihe noch nichts gehört hat, lebt wohl unter einem Stein. Die Dystopie-Trilogie hat ja nicht nur Leser auf der ganzen Welt mitgerissen, Katniss Geschichte wurde kam auch ...

Wer von Suzanne Collins´ "Panem"-Reihe noch nichts gehört hat, lebt wohl unter einem Stein. Die Dystopie-Trilogie hat ja nicht nur Leser auf der ganzen Welt mitgerissen, Katniss Geschichte wurde kam auch durch vier Spielfilme in die Kinos. Als ein Prequel angekündigt wurde, das 64 Jahre vor den Ereignissen des ersten Buchs spielt und das Leben von Coriolanus Snow erzählt, war ich zuerst sehr skeptisch. Man nehme eine unsympathische Hass-Person, setze sie in ein dystopisches Nachkriegs-Setting und wähle einen Handlungsabschnitt, dessen Ende durch die Trilogie klar vorgegeben ist - wie soll das auch funktionieren? Ich hätte mich mit meiner Einschätzung nicht mehr irren können...


"Kommst du, kommst du,
Kommst du zu dem Baum,
Wo sie hängten den Mann, der drei getötet haben soll.
Seltsames trug sich zu.
Nicht seltsamer wäre es,
Träfen wir uns bei Nacht im Henkersbaum."


Die Gestaltung des Prequels passt hervorragend zu den neueren Ausgaben der Trilogie und ist mit dem dicken schwarzen Einband, der goldenen Schrift und der speziellen, ausklappbaren Leselasche mit Schlangenmotiv sehr hochwertig gestaltet. Nichtsdestotrotz gefällt mir ein wesentlicher Punkt überhaupt nicht: der Preis. Klar, es handelt sich hier um einen langersehnten Nachfolgeroman einer Bestsellerautorin und mit den 608 Seiten macht die gebundene Ausgabe schon was her, 26€ finde ich aber dennoch zu teuer und nicht ganz angemessen. Hätte ich die Geschichte nicht zum Geburtstag geschenkt bekommen, hätte ich sie mir wohl nicht zugelegt. Der Titel "Die Tribute von Panem X - Das Lied von Vogel und Schlange" ist zwar sehr passend gewählt, mir aber deutlich zu lang. Der Originaltitel "The Ballad of Songbirds and Snakes" klingt im deutschen Titel zwar an, der Oetinger Verlag hat sich aber entschieden, den Reihentitel "Die Tribute von Panem" auch noch hinzuzufügen (wohl um die Verbindung klarer zu machen), weshalb der Gesamttitel ein wenig sperrig erscheint. Das Hauptmotiv, das goldene X mit Giftschlange und Spotttölpel gefällt mir aber sehr!


Erster Satz: "Coriolanus ließ den Kohl in den Topf mit kochendem Wasser gleiten und schwor sich, ihn eines Tages für immer vom Speiseplan zu verbannen."


Die Geschichte ist inhaltlich in drei große Abschnitte - "Mentor", "Das Stipendium" und "Friedenswächter" - eingeteilt, die in Machart, Stimmung und Handlungsfokus so unterschiedlich sind, dass man fast meint, man habe es hier mit drei unterschiedlichen Romanen zu tun. Im ersten Teil konzentrieren wir uns ganz auf den jungen Coriolanus, der im Kapitol ums Überleben kämpft. Anders als in den Distrikten muss er sich zwar nicht vor Friedenswächtern oder den Spielen ängstigen, sein größter Feind ist aber dennoch ähnlich: der Hunger. Als Kriegswaise sind er, seine Großmutter und seine Cousine Tigris fast mittellos und versuchen dennoch, den Schein zugunsten des Rufs des Hauses Snow aufrecht zu erhalten. Mit gestreckter Kohlsuppe, improvisierten Hemden und höflichen Lügen entsteht hier fast so etwas wie Mitleid, Sympathie oder Nähe zu den gebeutelten Snows, welches jedoch laufend mit unseren Vorbehalten gegenüber der späteren Person President Snows und der allgemeinen Abneigung gegenüber dem Kapitol kämpft.


"Sie war ein Geschenk, das wusste er, und so musste er sie auch behandeln. Doch wie konnte er sich ihren atemberaubenden Auftritt am besten zunutze machen? Wie konnte er aus einem Kleid, einer Schlange, einem Lied Kapital schlagen?"


Diese allgemeine Abneigung wird jedoch zunächst immer wieder auf die Probe gestellt. Denn durch Coriolanus´ Geschichte und diverse Beobachtungen der Nachbarn wird klar, wie schlecht es um das Kapitol zu Beginn der 10. Hungerspiele steht und wie sehr auch die herrschende Elite unter dem anhaltenden Blutvergießen mit den Distrikten gelitten hat. Das Kapitol konnte die Aufstände zwar niederschlagen und setzt seitdem auf eine brutale Einschüchterungstaktik, wie wir auch aus der Panem-Trilogie wissen, wie knapp es allerdings tatsächlich gewesen ist und welche Auswirkungen die Zerstörung von Distrikt 13 auch auf das Kapitol hatte, wird uns erst jetzt klar. Dieser erste Abschnitt dient also nicht nur dazu, Corionalus kennenzulernen, sondern zeichnet auch ein ganz anderes Bild des verschwenderischen, schillernden und eiskalten Kapitols. Eine verwirrte, zertrümmerte Macht im Ringen um Beherrschung, Stabilität, Aufschwung und dem Widerherstellen einer sicheren Weltordnung - das ist ein ganz wunderbares Setting für diese Geschichte, die ebenfalls zwischen Zerstörung und Hoffnung tänzelt...


"Egal, was Sie sagen. Sie haben kein Recht, Menschen hungern zu lassen, sie grundlos zu bestrafen. Sie haben kein Recht, ihnen ihr Leben und ihre Freiheit zu nehmen. All das gehört uns Menschen von Geburt an, und Sie dürfen damit nicht einfach machen, wie Sie wollen. Dass Sie aus dem Kapitol kommen, gibt Ihnen noch lange nicht das Recht dazu. Dass Sie den Krieg gewonnen haben, gibt Ihnen noch lange nicht das Recht dazu. Nichts gibt Ihnen das Recht dazu."


Diese Orientierungslosigkeit bildet den perfekten Nährboden für den Teil, der danach kommt: die 10. Hungerspiele. Anders als mit Katniss tauchen wir hier nicht direkt in das blutige Gemetzel ein, sondern bleiben mit Coriolanus´ Funktion als Mentor distanzierte Beobachter des Geschehens. Wer hier jedoch ausschweifende Shows, Kostüme und Hightech-Kameras erwartet, wird überrascht sein. Die Spiele sind zu diesem Zeitpunkt Panems noch nicht mehr als ein rasches Gemetzel in einer kleinen Sportarena - wie aus dem grausamen Ringen mit dem Tod, das keiner anschauen wollte, ein Publikumsmagnet wurde, wie ein Blutbad zu einem Vergnügungsfest für die ganze Republik wurde, wie die Spiele entstanden, die wir kennen, wird hier nur angezeichnet. Siegermentoren, Interviews, ausgebildete Tribute, Wetten und mehr sind hier noch Zukunftsmusik - stattdessen sehen wir hier noch den blutigen, unverschleierten Kern der Spiele. Die eigentliche Handlung in der Arena wird dabei wie gesagt sehr kurzgehalten und nur aus der Außenperspektive erläutert. Wir haben hier also deutlich mehr Abstand zu den Vorkommnissen und einen ganz anderen Blickwinkel als mit Katniss.


"Was ist denn in der Arena passiert? Das ist der Mensch, aufs Wesentliche reduziert. Die Tribute, aber auch Sie. Wie flüchtig die Zivilisation doch ist. All Ihre guten Manieren, Erziehung, familiärer Hintergrund, alles, worauf Sie stolz sind - im Bruchteil einer Sekunde fortgewischt, und übrig bleibt nur, was Sie eigentlich sind. Ein Junge mit einem Stück Holz, der einen anderen Jungen totschlägt. So ist der Mensch in seinem Naturzustand."


Das sorgt dafür, dass die Geschichte zwar gewohnt düster, brutal und abstoßend, jedoch mit einem ganz anderen Erzählton ausgestattet ist. Da wir sowohl die Ernte als auch die Spiele aus Kapitolsicht erzählt bekommen, also aus "Tätersicht" und nicht aus "Opfersicht", fehlt die schwelende Wut und die Wucht der Emotionen, die uns die Trilogie angesichts der Ungerechtigkeiten und Brutalität spüren ließ. Immer wieder habe ich während der Geschichte bemerkt, dass ich so in Coriolanus Perspektive drin war, dass ich dachte "ach wie nett von ihm", wenn er Brote unter den Tributen verteilte und sie behandelte wie Menschen, statt mir klar zu werden, wie krank das alles eigentlich wirklich ist. Und genau das ist das, was das Buch so schockierend genial macht: wir wissen, was aus Snow werden wird und werden dennoch von seiner Geschichte mitgerissen, wir kennen den Ausgangszustand der Trilogie und hoffen aber auf ein anderes Ende, wir ahnen von Beginn an, worauf die Handlung hinauslaufen wird und dennoch bleibt es bis zum Ende spannend.


"Auch wenn die Umstände besonders waren, so blieb sie doch ein Mädchen aus den Distrikten, oder jedenfalls kam sie nicht aus dem Kapitol. Eine Bürgerin zweiter Klasse. Ein Mensch zwar, aber roh. Schlau vielleicht, aber nicht entwickelt. Teil einer formlosen Masse, unglücklicher, barbarischer Wesen, die am Rande seines Bewusstseins lauerten. Sicher, wenn es überhaupt eine Ausnahme von der Regel gegeben hatte, dann Luca Gray Baird. Ein Mädchen, das in keine Schublade passte. Ein seltener Vogel, genau wie er. Warum sonst hatte er von dem Gefühl ihrer Lippen auf seinen weiche Knie bekommen?"


Die Geschichte steht und fällt mit ihrem Hauptprotagonistin, Coriolanus Snow. Er ist ein durchaus komplexer und spannender Protagonist, auch wenn er nicht unbedingt als Sympathieträger bezeichnet werden kann. Dafür ist er weit zu arrogant, berechnend und gefühlskalt. Er stürzte mich jedoch in einen ständigen Zwiespalt, von dem die ganze Atmosphäre auch lebt. Wir versuchen während dem Lesen angestrengt den grausamen Diktator in dem taktierenden, aber auch unschuldigen Jugendlichen zu sehen, den wir zu Beginn kennenlernen. Und ich weiß nicht, wie es anderen Lesern ging - es mochte mir nicht so recht gelingen... Getrieben von dem Wunsch nach Macht, Anerkennung und der Angst vor Versagen ordnet er sich in die Struktur Panems ein und stellt seinen eigenen Stolz und Erfolg an erster Stelle. Dennoch versteht man immer, warum er tut was er tut und schließt ihn in kurzen Momenten der Verletzlichkeit und Wärme unweigerlich ein wenig ins Herz. Seine Beweggründe, Motive, Denkweisen und Überlegungen sind so solide, dass man sie nachvollziehen kann und seiner Geschichte gespannt folgt.


"Es soll eine Strafe für die Distrikte sein, schon klar, aber haben wir sie nicht schon genug gestraft? Wie lange wollen wir den Krieg noch in die Länge ziehen?" (...) Coriolanus hatte es bisher immer als Ehre betrachtet, ein Mentor zu sein. Als Chance, dem Kapitol zu dienen und vielleicht ein paar Lorbeeren einzuheimsen. Aber sie hatte nicht ganz unrecht. Wenn die ganze Sache nicht ehrenhaft war, wie konnte es dann eine Ehre sein, daran mitzuwirken?"


Auch die Figur der Lucy Gray Baird, die während der Hungerspiele auftaucht und mit ihren fröhlichen Liedern, dem bunten Regenbogenkleid und ihrer liebenswürdigen Art nicht nur Coriolanus und ganz Panem, sondern auch den Leser um den Finger wickelt, ist nicht unbedingt als Sympathieträgerin geeignet. Sie ist zwar durchaus interessant, stark und gerissen, beherrscht das Spiel der Manipulation und Vorführung aber genauso gut wie Coriolanus. Die einzige mahnende Stimme in diesem Roman ist die von Sejanus Plinth, Coriolanus´ Mitschüler, dessen Vater es als wirtschaftlicher Kriegsgewinner aus Distrikt 2 ins Kapitol geschafft hat. Auch wenn Sejanus´ Familie fünfmal so reich ist wie Coriolanus´, scheint er nicht so recht ins Kapitol zu passen. Zu warmherzig und auf das Wohl anderer bedacht stellt er sich offen gegen die Unterdrückung der Distrikte, gegen die Hungerspiele und die Brutalität, die im Namen der Friedenserhaltung geduldet ist und sammelt damit fleißig Sympathiepunkte beim Leser. Die allgemeine Stimmung kann er allein aber auch nicht mehr retten, sodass die Geschichte lange nicht so emotional mitreißend ist, wie die Haupttrilogie. Man bleibt aus gegebenem Zwiespalt, den der Protagonist und dessen Erzählperspektive dauerhaft auslöst, auf eher Abstand und somit gibt es auch die ein oder andere Stelle mit vor sich hin plätschernder Überlänge.


"Manchmal starrte Coriolanus aus dem Fenster auf die ausgestorbenen Städte, durch die sie fuhren, und fragte sich, wie sie in ihren goldenen Zeiten ausgesehen hatten. Damals, als das hier Nordamerika gewesen war und nicht Panem. Schön musste das gewesen sein. Ein Land voller Kapitole. Was für ein Verlust..."


Der dritte Teil der Geschichte spielt dann in Distrikt 12 und schlägt abermals einen ganz anderen Erzählton an. Zunächst fragt man sich, was dieses düstere und doch wenig funktional erscheinende Anhängsel nach dem Ende der Hungerspiele soll, das man recht ziellos verfolgt. Dann schockiert Suzanne Collins jedoch immer wieder mit einer unbarmherzigen Wendung und zerschlägt all die Sympathie, die wir langsam und vorsichtig für Coriolanus aufgebaut haben, hart und gründlich. Dieser letzte Teil beschäftigt sich also nochmals viel mehr mit dem Innenleben unseres Protagonisten und lässt andeuten, wie er zu dem eiskalten Tyrannen werden konnte, den wir aus der Trilogie kennen. Leider findet diese Entwicklung ganz im Gegenteil zur vorherigen Vorgehensweise, die eher mit subtilen Andeutungen gearbeitet hatte, ziemlich überhastet statt und wirkte somit auf mich zu erzwungen. Als nettes Extra bekommen wir hier auch noch ein paar Querverweise zur Haupttrilogie und treffen beispielsweise auf Spotttölpel (die in Coriolanus sofort ein Gefühl der Abneigung hervorrufen), erfahren die Geschichte hinter dem bekannten Lied vom Henkersbaum und lernen die Friedenswächter, die bislang eher blasse, namenslose Klonkrieger in meinem Kopf waren, näher kennen. Dieser letzte Abschnitt versucht also ganz klar, eine Brücke zur späteren Reihe zu schlagen, ließ mich aber in erster Linie verwirrt zurück. Falls es hier einen doppelten Boden gab, habe ich ihn wohl überlesen.


"Du bist mein, und ich bin dein. Das steht in den Sternen geschrieben."
"Dann gibt es wohl kein Entrinnen." Er beugte sich hinüber und küsste sie, die Wangen heiß vor Glück."


Es kommt auf den letzten Seiten nämlich einiges ganz anders als gedacht und viele Fragen bleiben offen, die durchaus Luft für eine Fortsetzung lassen würden. Falls es jedoch zu keinem zweiten Panem X kommen sollte, dürfen wir uns immerhin auf die Verfilmung von freuen, die bereits vor Monaten angekündigt wurde und bei der wieder Regisseur Francis Lawrence und die Autorin selbst mitwirken werden. Ich bin auf jeden Fall sehr gespannt, wie sie diese Geschichte filmisch umsetzen wollen, die so anders ist als die Trilogie, jedoch alles in allem wunderbar in das gezeichnete Gesamtbild passt.


"Die Menschen sind gar nicht so schlecht", entgegnete sie. "Nur das, was die Welt ihnen antut. (...) Ich glaube der Mensch ist im Kern gut. Man weiß genau, wann man die Grenzen zum Bösen überschreitet, und es ist eine ständige Herausforderung im Leben, auf der richtigen Seite dieser Grenze zu bleiben."



Fazit:


Mit "Die Tribute von Panem X - Das Lied von Vogel und Schlange" hat Suzanne Collins ein Prequel geschrieben, das vielleicht nicht unbedingt notwendig war, sich aber wunderbar stimmig und rund in die Welt Panems einfügt. Wir verfolgen hier nicht nur die Entwicklung eines ambivalenten Protagonisten, sondern bekommen einen Einblick in ein verwirrtes Nachkriegs-Panem im Ringen um Beherrschung, Stabilität, Aufschwung und dem Widerherstellen einer sicheren Weltordnung. Zwar entwickelt das Prequel nicht denselben Sog wie die Haupttrilogie und geht auch lange nicht so nahe, dennoch bin ich sehr gerne in die dystopische Welt Panems zurückgekehrt.

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  • Charaktere
Veröffentlicht am 30.10.2020

Erzählt von zweiten Chancen, der eigenen Stimme und sorgte bei mir außerdem für ganz schön viel Fernweh...

Hoch wie der Himmel
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Dieses Buch hat auf höchst mysteriöse Weise zu mir gefunden - es lag eines schönen Morgens einfach in meinem Briefkasten, ohne dass ich es gekauft, bestellt oder angefragt hätte. Ich habe extra in Social ...

Dieses Buch hat auf höchst mysteriöse Weise zu mir gefunden - es lag eines schönen Morgens einfach in meinem Briefkasten, ohne dass ich es gekauft, bestellt oder angefragt hätte. Ich habe extra in Social Media und meinen Mails nach der Geschichte gesucht, um sicherzugehen, dass ich nicht doch eine Rezianfrage rausgeschickt, oder zufällig bei einem Gewinnspiel gewonnen habe - aber Fehlanzeige. Auch wenn die Umstände, unter denen "Northern Love - Hoch wie der Himmel" zu mir gefunden haben wohl ein Geheimnis bleiben werden, will ich natürlich meine Meinung zur Geschichte mit euch teilen.

Das Cover mit den schräg geschnittenen Bildkacheln und dem roten, gemaserten Hintergrund, der an die Wand eine bunten Holzhäuschens denken lässt, gleicht einem "warum ich nach Norwegen reisen will"-Moodboard. Hohe Berge, lange Fjorde, bunte Häuser, malerische Gassen, süße Seehunde, nette Menschen und ein wildes, raues Klima - all das versprechen die Coverbilder und machten mir damit sofort Lust, meine Koffer zu packen. Der Titel verweist darauf, dass hier eine Liebesgeschichte erzählt wird, während der Untertitel auf Kristers spezielles Hobby hindeutet, von dem wir aber erst im Laufe der Geschichte erfahren. "Northern Love - Hoch wie der Himmel" ist der erste Teil einer dreibändigen Reihe, die sich um die Mitglieder einer kleinen Praxis im beschaulichen Lillehamn dreht. Im Auftaktband geht es um Krister und die aus Deutschland zugezogene Ärztin Annik, während Band 2 von Kristers Bruder Espen und der dritte Teil von seiner Schwester Alva handelt, welche wir beide schon kennenlernen.


"Er sah... sie an. Und zwar nicht mit seinem "Igitt, ein Käfer"-Blick. Sondern... wie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass es ihr davon komisch im Bauch kribbelte, und ihr Mund irgendwie trocken wurde."


Julie Birkland hat einen personalen Er-Erzähler gewählt, um abwechselnd aus der Sicht von Annik und Krister erzählen zu können, die beide mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen haben und eigentlich gar nicht auf der Suche nach der großen Liebe sind. Annik, eine alleinerziehende Ärztin, die mit ihrem Sohn im wunderschönen Norwegen einen Neuanfang wagt, nachdem ihr Mann in einem Autounfall ums Leben gekommen ist, will nur eins: ihr altes Leben hinter sich lassen und zusammen mit dem kleinen Theo, der seit dem Unfall nicht mehr spricht, zurück ins Leben finden. Krister hat zwar alles, was er braucht - einen guten Job als geachteter Chirurg, eine Wohnung wie aus dem Einrichtungskatalog und eine Familie, die sich um ihn sorgt -, muss aber dennoch im Wingsuit von Bergen springen, um sich wirklich lebendig zu fühlen. Erst als eine neue Ärztin in der Familienpraxis anfängt, wird sein Herz durcheinander gewirbelt - und leider auch sein Sprachzentrum. Doch wie soll er der jungen Frau zeigen, was er empfindet, wenn er in ihrer Anwesenheit kein einziges Wort herausbekommt...?


"Hallo Krister."
Er konnte über Fjorde springen.
Sprechen, ganz ruhig.
Und lächeln.
"Hi."


Von der ersten Seite an hat mich vor allem eins gepackt: das wunderschöne Setting der Geschichte. Die Autorin entführt in einen kleinen Kurzurlaub an der Küste Norwegens, der mir ein ums andere Mal einen Anflug von Fernweh verpasst hat. Romantische Nächte am Lagerfeuer, Wochenenden in Ferienhäusern, Besuche auf der Seehundstation, Moltebeerschnaps-Exzesse in der Dorfkneipe, Wanderungen hoch über dem Fjord und skandinavische "Sahneschnittchen" haben mein Kopfkino angeregt und mich trotz des drohenden Corona-Lockdowns mit auf Reisen genommen, wie es nur ein gutes Buch kann. Dass die Autorin das Land selbst liebt und es mehrmals bereist hat, anstatt ihre Geschichte auf den typischen Klischees aufzubauen, merkt man dabei jeder Seite an. Das Arztroman-Motiv, steht dabei stark im Hintergrund. Zwar begleiten wir Annik und Krister auch ab und an auf ihre Arbeit in die Praxis, oder lauschen Teambesprechungen zu Fällen, dies wird aber vorrangig genutzt, um die Liebesgeschichte voranzutreiben und die anfangs noch sehr angespannte Atmosphäre zwischen Annik und Krister zu verdeutlichen. Wer also Angst vor einem "Greys Anatomie trifft Schwarzwaldklinik in Norwegen"-Touch hatte, kann hiermit beruhigt sein.


"Du hast gefragt, was passiert ist, das mein blödes Sprachzentrum wieder einmal aussetzen lässt."
Sie nickte.
Ein Schritt.
Keine Reißleine, kein Notfallschirm.
Er atmete tief ein und ließ die Luft entweichen, bevor er den Stift erneut ansetze."
"DU".


Das zweite große Standbein der Geschichte neben dem starken Setting sind die beiden spannenden Protagonisten und ihre Beziehung zueinander. Auffällig ist zunächst, dass die beiden schon etwas älter sind und nicht mehr in das College-Berufseinsteiger-New Adult-Raster hineinpassen. Auch inhaltlich ist die Geschichte erwachsener als das durchschnittliche New-Adult-Drama. Zwar haben auch hier die Figuren mit Problemen zu kämpfen, die sind jedoch eher ernster und präsentieren sich als gut ausgearbeitete Konflikte anstatt von überzeichneten Krisen, die sich als einfache Missverständnisse abtun lassen können. Es geht hier um Verlust und zweite Chancen, die eigene Stimme und Probleme mit dieser, Sucht und Opfer, Verantwortung und Liebe. Neben Annik und Krister, die mir natürlich im Laufe der Geschichte sehr ans Herz gewachsen sind, gibt es noch eine Reihe liebenswürdiger Nebenprotagonisten, di wohl auch in den Folgebänden noch auftauchen werden. Den Zwillingen Espen und Alva wird ja noch jeweils ein eigener Band gewidmet, auch bei Anniks Sohn Theo, ihrer neue Freundin Hanne, deren Mann Tom und allerlei schrulliger Gestalten, die schon zum Lillehamner Inventar gehören, würde ich mich aber über ein Widersehen freuen.


"Du kannst nur leben oder vor dem Leben Angst haben. Beides gleichzeitig geht nicht."


Kritisieren kann man an der Geschichte wohl vor allem zwei Dinge. Erstens: sie ist recht vorhersehbar. Julie Birkland erzählt hier zwar eine sehr süße Liebesgeschichte, die jedoch nicht zum Pageturner wird. Die beiden kommen recht schnell zusammen und schon zu Beginn ist klar, welcher Teil von Kristers Leben wohl dafür sorgen wird, dass es später kriselt. Auch der Umgang mit vielen Themen ist zwar gut gemacht, jedoch nicht überwältigend tiefgründig, weshalb ich diese Geschichte alles in allem in die wenig spektakuläre Kategorie "Wohlfühlbuch" stecken würde. Der zweite Punkt ist die Länge, beziehungsweise die fehlende Länge. Ich hätte gerne noch mehr von Krister und Annik gelesen und gerade das Ende kam mir recht flott abgehakt vor. Zum Glück gibt es ja aber noch zwei weitere Bände, in denen wir vielleicht nochmal was von den beiden erfahren.


"Krister trat an die Kante, und sein Herz jagte Blut und Botenstoffe durch seine Adern, um dem bevorstehenden Tod zu begegnen. Jedes einzelne Mal. Jede Zelle schrie in Todesangst. Als das Atmen schwer wurde, lächelte Krister. Nicht dieses Mal, Tod, mein Freund. Nicht dieses Mal.
Er kippte nach vorn und flog."





Fazit:


"Northern Love -Hoch wie der Himmel" ist eine zuckersüße Liebesgeschichte einer jungen alleinerziehenden Mutter, die mit ihrem Sohn im wunderschönen Norwegen einen Neuanfang wagt, nachdem ihr Mann in einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Die Geschichte erzählt von zweiten Chancen, der eigenen Stimme und sorgte bei mir außerdem für ganz schön viel Fernweh..

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Veröffentlicht am 30.10.2020

Erzählt von zweiten Chancen, der eigenen Stimme und sorgte bei mir außerdem für ganz schön viel Fernweh...

Hoch wie der Himmel
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Dieses Buch hat auf höchst mysteriöse Weise zu mir gefunden - es lag eines schönen Morgens einfach in meinem Briefkasten, ohne dass ich es gekauft, bestellt oder angefragt hätte. Ich habe extra in Social ...

Dieses Buch hat auf höchst mysteriöse Weise zu mir gefunden - es lag eines schönen Morgens einfach in meinem Briefkasten, ohne dass ich es gekauft, bestellt oder angefragt hätte. Ich habe extra in Social Media und meinen Mails nach der Geschichte gesucht, um sicherzugehen, dass ich nicht doch eine Rezianfrage rausgeschickt, oder zufällig bei einem Gewinnspiel gewonnen habe - aber Fehlanzeige. Auch wenn die Umstände, unter denen "Northern Love - Hoch wie der Himmel" zu mir gefunden haben wohl ein Geheimnis bleiben werden, will ich natürlich meine Meinung zur Geschichte mit euch teilen.

Das Cover mit den schräg geschnittenen Bildkacheln und dem roten, gemaserten Hintergrund, der an die Wand eine bunten Holzhäuschens denken lässt, gleicht einem "warum ich nach Norwegen reisen will"-Moodboard. Hohe Berge, lange Fjorde, bunte Häuser, malerische Gassen, süße Seehunde, nette Menschen und ein wildes, raues Klima - all das versprechen die Coverbilder und machten mir damit sofort Lust, meine Koffer zu packen. Der Titel verweist darauf, dass hier eine Liebesgeschichte erzählt wird, während der Untertitel auf Kristers spezielles Hobby hindeutet, von dem wir aber erst im Laufe der Geschichte erfahren. "Northern Love - Hoch wie der Himmel" ist der erste Teil einer dreibändigen Reihe, die sich um die Mitglieder einer kleinen Praxis im beschaulichen Lillehamn dreht. Im Auftaktband geht es um Krister und die aus Deutschland zugezogene Ärztin Annik, während Band 2 von Kristers Bruder Espen und der dritte Teil von seiner Schwester Alva handelt, welche wir beide schon kennenlernen.


"Er sah... sie an. Und zwar nicht mit seinem "Igitt, ein Käfer"-Blick. Sondern... wie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass es ihr davon komisch im Bauch kribbelte, und ihr Mund irgendwie trocken wurde."


Julie Birkland hat einen personalen Er-Erzähler gewählt, um abwechselnd aus der Sicht von Annik und Krister erzählen zu können, die beide mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen haben und eigentlich gar nicht auf der Suche nach der großen Liebe sind. Annik, eine alleinerziehende Ärztin, die mit ihrem Sohn im wunderschönen Norwegen einen Neuanfang wagt, nachdem ihr Mann in einem Autounfall ums Leben gekommen ist, will nur eins: ihr altes Leben hinter sich lassen und zusammen mit dem kleinen Theo, der seit dem Unfall nicht mehr spricht, zurück ins Leben finden. Krister hat zwar alles, was er braucht - einen guten Job als geachteter Chirurg, eine Wohnung wie aus dem Einrichtungskatalog und eine Familie, die sich um ihn sorgt -, muss aber dennoch im Wingsuit von Bergen springen, um sich wirklich lebendig zu fühlen. Erst als eine neue Ärztin in der Familienpraxis anfängt, wird sein Herz durcheinander gewirbelt - und leider auch sein Sprachzentrum. Doch wie soll er der jungen Frau zeigen, was er empfindet, wenn er in ihrer Anwesenheit kein einziges Wort herausbekommt...?


"Hallo Krister."
Er konnte über Fjorde springen.
Sprechen, ganz ruhig.
Und lächeln.
"Hi."


Von der ersten Seite an hat mich vor allem eins gepackt: das wunderschöne Setting der Geschichte. Die Autorin entführt in einen kleinen Kurzurlaub an der Küste Norwegens, der mir ein ums andere Mal einen Anflug von Fernweh verpasst hat. Romantische Nächte am Lagerfeuer, Wochenenden in Ferienhäusern, Besuche auf der Seehundstation, Moltebeerschnaps-Exzesse in der Dorfkneipe, Wanderungen hoch über dem Fjord und skandinavische "Sahneschnittchen" haben mein Kopfkino angeregt und mich trotz des drohenden Corona-Lockdowns mit auf Reisen genommen, wie es nur ein gutes Buch kann. Dass die Autorin das Land selbst liebt und es mehrmals bereist hat, anstatt ihre Geschichte auf den typischen Klischees aufzubauen, merkt man dabei jeder Seite an. Das Arztroman-Motiv, steht dabei stark im Hintergrund. Zwar begleiten wir Annik und Krister auch ab und an auf ihre Arbeit in die Praxis, oder lauschen Teambesprechungen zu Fällen, dies wird aber vorrangig genutzt, um die Liebesgeschichte voranzutreiben und die anfangs noch sehr angespannte Atmosphäre zwischen Annik und Krister zu verdeutlichen. Wer also Angst vor einem "Greys Anatomie trifft Schwarzwaldklinik in Norwegen"-Touch hatte, kann hiermit beruhigt sein.


"Du hast gefragt, was passiert ist, das mein blödes Sprachzentrum wieder einmal aussetzen lässt."
Sie nickte.
Ein Schritt.
Keine Reißleine, kein Notfallschirm.
Er atmete tief ein und ließ die Luft entweichen, bevor er den Stift erneut ansetze."
"DU".


Das zweite große Standbein der Geschichte neben dem starken Setting sind die beiden spannenden Protagonisten und ihre Beziehung zueinander. Auffällig ist zunächst, dass die beiden schon etwas älter sind und nicht mehr in das College-Berufseinsteiger-New Adult-Raster hineinpassen. Auch inhaltlich ist die Geschichte erwachsener als das durchschnittliche New-Adult-Drama. Zwar haben auch hier die Figuren mit Problemen zu kämpfen, die sind jedoch eher ernster und präsentieren sich als gut ausgearbeitete Konflikte anstatt von überzeichneten Krisen, die sich als einfache Missverständnisse abtun lassen können. Es geht hier um Verlust und zweite Chancen, die eigene Stimme und Probleme mit dieser, Sucht und Opfer, Verantwortung und Liebe. Neben Annik und Krister, die mir natürlich im Laufe der Geschichte sehr ans Herz gewachsen sind, gibt es noch eine Reihe liebenswürdiger Nebenprotagonisten, di wohl auch in den Folgebänden noch auftauchen werden. Den Zwillingen Espen und Alva wird ja noch jeweils ein eigener Band gewidmet, auch bei Anniks Sohn Theo, ihrer neue Freundin Hanne, deren Mann Tom und allerlei schrulliger Gestalten, die schon zum Lillehamner Inventar gehören, würde ich mich aber über ein Widersehen freuen.


"Du kannst nur leben oder vor dem Leben Angst haben. Beides gleichzeitig geht nicht."


Kritisieren kann man an der Geschichte wohl vor allem zwei Dinge. Erstens: sie ist recht vorhersehbar. Julie Birkland erzählt hier zwar eine sehr süße Liebesgeschichte, die jedoch nicht zum Pageturner wird. Die beiden kommen recht schnell zusammen und schon zu Beginn ist klar, welcher Teil von Kristers Leben wohl dafür sorgen wird, dass es später kriselt. Auch der Umgang mit vielen Themen ist zwar gut gemacht, jedoch nicht überwältigend tiefgründig, weshalb ich diese Geschichte alles in allem in die wenig spektakuläre Kategorie "Wohlfühlbuch" stecken würde. Der zweite Punkt ist die Länge, beziehungsweise die fehlende Länge. Ich hätte gerne noch mehr von Krister und Annik gelesen und gerade das Ende kam mir recht flott abgehakt vor. Zum Glück gibt es ja aber noch zwei weitere Bände, in denen wir vielleicht nochmal was von den beiden erfahren.


"Krister trat an die Kante, und sein Herz jagte Blut und Botenstoffe durch seine Adern, um dem bevorstehenden Tod zu begegnen. Jedes einzelne Mal. Jede Zelle schrie in Todesangst. Als das Atmen schwer wurde, lächelte Krister. Nicht dieses Mal, Tod, mein Freund. Nicht dieses Mal.
Er kippte nach vorn und flog."





Fazit:


"Northern Love -Hoch wie der Himmel" ist eine zuckersüße Liebesgeschichte einer jungen alleinerziehenden Mutter, die mit ihrem Sohn im wunderschönen Norwegen einen Neuanfang wagt, nachdem ihr Mann in einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Die Geschichte erzählt von zweiten Chancen, der eigenen Stimme und sorgte bei mir außerdem für ganz schön viel Fernweh...

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