Profilbild von Wordworld_Sophia

Wordworld_Sophia

Lesejury Star
offline

Wordworld_Sophia ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Wordworld_Sophia über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 05.05.2020

Lässt mich gleichzeitig fasziniert und verstört zurück...

Verity
0

Auch wenn ich ein großer Fan von Colleen Hoovers Geschichten bin und beinahe alle gelesen habe, hatte ich nicht viel von "Verity" erwartet, weil es die Leserschaft als wirkliches Schock-Buch angepriesen ...

Auch wenn ich ein großer Fan von Colleen Hoovers Geschichten bin und beinahe alle gelesen habe, hatte ich nicht viel von "Verity" erwartet, weil es die Leserschaft als wirkliches Schock-Buch angepriesen hat und mich nicht mehr viel schockieren kann. Mittlerweile habe ich ein gutes Gespür für Wendungen und kann häufig den Verlauf von Geschichten vorhersagen. Auch bei diesem Roman dachte ich nach wenigen Seiten, ich hätte die Story durchschaut. Doch da habe ich meine Rechnung ohne die Autorin gemacht....

Das Cover ist mit den rosafarbenen Wolken, dem babyblauen Himmel, dem Schwarm winzig klein wirkender Wolken und dem großen, hervorstechenden Titel der Inbegriff einer nichtssagenden Coverschönheit, wie man sie mittlerweile genreübergreifend immer häufiger findet. Versteht mich nicht falsch - ich mag die Gestaltung wirklich sehr - aber angesichts der Abgründe, die die Autorin hier offenlegt, hätte ich etwas erwartet, was weniger "Liebesgeschichte" schreit. Letztendlich ist es aber wohl genau der Schrecken hinter der schönen Verpackung, welcher das Buch so spannend macht und gerade weil man von der Queen of Hearts keine Psychothriller-ähnliche Geschichte erwarten würde, erwischt die Dunkelheit zwischen den Seiten einen so eiskalt. Dass der Titel, der gleichzeitig Name der Frau ist, die Dreh- und Angelpunkt der Geschichte darstellt, und durch die Bedeutung - nämlich ironischerweise "Wahrheit" - den Hauptkonflikt vorwegnimmt, finde ich einfach nur genial.


Erster Satz: "Erst höre ich das Geräusch seines berstenden Schädels, dann spritzt mir sein Blut entgegen."


Schon der Beginn des ersten Kapitels wird alle verstören, die hier ganz dem Cover zufolge eine seichte Liebesgeschichte erwarten. Als hätte die Autorin es darauf angelegt, gleich ein Statement zu setzen und schon aus dem ersten Satz möglichst viel Schockpotential herauszuholen, starten wir mit einem blutigen Unfall auf den Straßen Manhattans ins Geschehen. Wen das abschrecken sollte, dem sein versichert: genau in diesem Stil geht die Geschichte auch weiter. Dass Lowen ihren neuen Auftraggeber Jeremy ausgerechnet mit der Gehirnmasse eines Unfallopfers bespritzt kennenlernt, scheint zwar ein denkbar schlechtes Omen zu sein, ist aber nichts im Vergleich zu dem Schrecken, der auf sie zu kommt, als sie das Angebot, die Thrillerreihe seiner verunglückten Frau Verity weiterzuschreiben, annimmt und in das Haus einer Familie zieht, die einiges durchmachen musste. Bald schon zweifelt die Jungautorin daran, dass die Crawfords einfach nur unglückliche Chroniker sind. Ist es ein Zufall, dass beide Töchter Harper und Chastin kurz hintereinander verunglückt sind und auch Verity nach einem Unfall nicht mehr ansprechbar ist, oder steckt etwas anderes hinter den Unglücksfällen? Neugierig geworden liest sie Veritys Autobiografie, die sie in einer Kiste in ihrem Arbeitszimmer findet und dabei entdeckt sie eine dunkle Wahrheit. Eine Wahrheit, die ihr neues Glück als erfolgreiche Autorin und ihre Liebe zu Jeremy zerstören wird...


"Die meisten Leute, die nach New York kommen, legen es darauf an, entdeckt zu werden. Wir Übrigen kommen hierher, um uns zu verstecken."



Leider kann ich euch nicht viel über den Verlauf der Handlung erzählen, weil ich sonst Wichtiges vorwegnehmen müsste. Fest steht nur, dass diese Geschichte ganz anders aufgezogen ist, als die emotionalen Liebesromane, die wir sonst von Colleen Hoover kennen. Hier entblößt die Autorin Abgründe, verdreht Wahrheiten, lockt auf falsche Fährten und zeigt keinerlei Erbarmen, sodass wir bald das Gefühle bekommen, einen waschechten Psychothriller vor uns zu haben. Auch wenn wir vor allem Lowens Gedanken und Gefühle aus der Ich-Perspektive verfolgen und durch sie als neugierige Eindringling in die Welt der Crawfords eintauchen, bekommen wir durch eingeschobene Kapitel aus Veritys Autobiografie, die wir parallel zu Lowen lesen können, eine weitere interessante Perspektive präsentiert. Dass diese Kapitel es ganz schön in sich haben, wird bald nicht nur Lowen klar und wir erleben, wie Lowens Sicht auf die Dinge durch einige wenige Worte komplett auf den Kopf gestellt wird. Besonders spannend ist, dass Colleen Hoover mit Lowens Reaktionen auf Veritys Kapitel meine eigenen Reaktionen als Leser erstaunlich treffsicher vorhergesagt und ins Buch miteinfließen lassen hat, sodass die Geschichte auf gruselige Art und Weise die Erzählgrenzen immer wieder durchbricht.

Auch wenn auf der reinen Handlungsebene nicht viel passiert - eigentlich durchstöbert Lowen nur Veritys Arbeitszimmer, isst mit Jeremy zu Abend und liest ab und an ein Kapitel aus Veritys Manuskript - steigt die Spannung mit jedem Kapitel mehr an. Ein beinahe leeres Geisterhaus, eine gruselige geistig abwesende Frau und ein dunkles Geheimnis, das Stück für Stück gelüftet wird - Colleen Hoover weiß ganz genau, wie sie den Leser durch geschickt platzierte Häppchen, neue Wendungen und schockierende Geheimnissen bei Stange halten muss und so ist es kein Wunder, dass ich den Roman an einem Mittag verschlungen habe. Die Autorin trifft mit ihrer gezielten Verwendung der Neugierde, der Sensationsgeilheit und der Faszination für menschliche Abgründe des Lesers voll ins Schwarze. Sobald man mit dem Lesen begonnen hat, will man unbedingt hinter die Wahrheit kommen und verspürt genau wie Verity auch eine krankhafte Neugier und Faszination für Veritys Abgründe, in die wir Kapitel für Kapitel tiefer hinabsteigen...


"Die jetzt folgenden Seiten werden teilweise so widerwärtig und bitter schmecken, dass ihr sie ausspucken möchtet, aber ihr werdet sie dennoch schlucken. Die Wörter werden zu einem Teil von euch werden, einem Teil eures Innersten, und dieser Prozess wird schmerzhaft sein. Und doch weiß ich, dass ihr sie euch - meiner großzügigen Warnung zum Trotz - weiter einverleiben werdet, weil ihr nun mal seid, was ihr seid.
Menschen.
Neugierig."


Auch hier schaffte Colleen Hoovers Schreibstil wieder, dass ich in einem Wechselbad der Gefühle gefangen war. Diesmal waren es jedoch keine Verliebtheit, Bewunderung, Enttäuschung, Sehnsucht oder andere hübsche Gefühle, wie bei ihren Liebesromanen zuvor. Stattdessen war ich abwechselnd angeekelt, entsetzt, schockiert, zutiefst traurig und gleichzeitig wütend auf die Geschichte, die Protagonisten und die Autorin, die uns treuen Lesern so etwas antut. Teilweise sehr explizite Szenen in vulgärer Sprache wechselten sich mit einfühlsamen Emotionsbeschreibungen ab, sodass ich ständig zwischen Ekel, Fassungslosigkeit, Mitgefühl und Bewunderung für Colleen Hoover schwankte. Diese Geschichte ist spannend, emotional, verstörend, brutal und noch vieles mehr - mir fallen noch endlos viele Adjektive zum Beschreiben ein, am besten trifft es jedoch "krass". Durch die beklemmende Situation Lowens im Haus der Crawfords, die vielen Geheimnisse und auch ihre eigene Altlasten, die sie nicht gerade zu einer Sonnenschein-Protagonistin machen, ist die Atmosphäre Großteils düster. Teilweise setzt die Autorin jedoch auch sehr subtile aber wirkungsvolle Horrorelemente ein, die die brodelnde Atmosphäre weiter einheizen.

An einer Stelle lässt Colleen Hoover ihre Protagonistin und gefeierte Psychothriller-Autorin Verity Crawford selbst schreiben, der Autor habe seine Aufgabe gut gemacht, wenn der Leser nach dem Lesen ein unbehagliches Gefühl von Abneigung gegenüber den Protagonisten empfindet - und genau das hat Frau Hoover hier geschafft. Immer wieder wollte ich das Buch weglegen und nicht mehr weiterlesen, weil ich vor allem von Veritys Kapiteln genau wie Lowen emotional sehr mitgenommen wurde. Gleichzeitig mag man Lowen und Jeremy, auch wenn sie absolut keine Identifikationsfiguren oder Sympathieträger sind, wie Colleens andere Protagonisten. Während Lowen unsicher, zynisch und alles andere als emotional gefestigt ist, kann man als Leser Jeremy bis zum Schluss nicht zu 100% trauen, auch wenn er auf den ersten Blick wie der perfekte Ehemann und liebevolle Vorzeigevater erscheint. Deshalb bleibt auch die sich entwickelnde Liebesgeschichte der Beiden sehr im Hintergrund - auch der Autorin schien klar zu sein, dass man sich noch nicht auf die Beiden einlassen kann, solange man noch nicht weiß, was tatsächlich in dem großen, dunklen Haus der Crawfords vor sich geht.


"An dem Ort, an den ich mit euch gehen werde, ist kein Licht. Und das war meine letzte Warnung.
Dunkelheit voraus."


Dichte Thriller-Atmosphäre, schwierige Protagonisten, ein fesselnder Schreibstil, sehr heftige Szenen und ein undurchsichtiger Plotaufbau - all das schätze ich an "Verity", was mich aber zu einem wirklichen Fan der Geschichte gemacht hat, war das Ende. Denn dieses beinhaltet eine 180 Grad Wendung, die man der Geschichte nicht zugetraut hätte, die jedoch schockiert zurück lässt. Das Ende ist frustrierend offen, faszinierend mehrdeutig und hassenswert unbefriedigend, weshalb es sicherlich auch nicht allen Lesern gefallen wird. Mit viel Spielraum für Interpretationen und großem Schockpotential hat es meiner Meinung nach jedoch der sowieso schon ungewöhnlichen Geschichte eine Krone aufgesetzt und diesen Roman zu meinem ersten echten Jahreshighlight 2020 werden lassen.

Meine Rezension beenden will ich mit einem Zitat, das Lowen über Veritys Manuskript schreibt, aber auch meine Erfahrung mit "Verity" ziemlich genau auf den Punkt bringt:

"So entsetzlich ich das finde, was sie schreibt, kann ich doch nicht aufhören, es zu lesen. Es ist wie ein schreckliches Zugunglück, von dem man den Blick nicht abwenden kann."




Fazit:


"Verity" ist düster, vielschichtig, schockieren, spannend, emotional und lässt mich gleichzeitig fasziniert und verstört zurück. Colleen Hoover Autorin trifft mit ihrer gezielten Verwendung der Neugierde, der Sensationsgeilheit und der Faszination für menschliche Abgründe des Lesers voll ins Schwarze und hat hier eine beeindruckende Thriller-Romanze geschrieben, die ich sobald nicht mehr vergessen werde.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 05.05.2020

Lässt mich gleichzeitig fasziniert und verstört zurück...

Verity
0

Auch wenn ich ein großer Fan von Colleen Hoovers Geschichten bin und beinahe alle gelesen habe, hatte ich nicht viel von "Verity" erwartet, weil es die Leserschaft als wirkliches Schock-Buch angepriesen ...

Auch wenn ich ein großer Fan von Colleen Hoovers Geschichten bin und beinahe alle gelesen habe, hatte ich nicht viel von "Verity" erwartet, weil es die Leserschaft als wirkliches Schock-Buch angepriesen hat und mich nicht mehr viel schockieren kann. Mittlerweile habe ich ein gutes Gespür für Wendungen und kann häufig den Verlauf von Geschichten vorhersagen. Auch bei diesem Roman dachte ich nach wenigen Seiten, ich hätte die Story durchschaut. Doch da habe ich meine Rechnung ohne die Autorin gemacht....

Das Cover ist mit den rosafarbenen Wolken, dem babyblauen Himmel, dem Schwarm winzig klein wirkender Wolken und dem großen, hervorstechenden Titel der Inbegriff einer nichtssagenden Coverschönheit, wie man sie mittlerweile genreübergreifend immer häufiger findet. Versteht mich nicht falsch - ich mag die Gestaltung wirklich sehr - aber angesichts der Abgründe, die die Autorin hier offenlegt, hätte ich etwas erwartet, was weniger "Liebesgeschichte" schreit. Letztendlich ist es aber wohl genau der Schrecken hinter der schönen Verpackung, welcher das Buch so spannend macht und gerade weil man von der Queen of Hearts keine Psychothriller-ähnliche Geschichte erwarten würde, erwischt die Dunkelheit zwischen den Seiten einen so eiskalt. Dass der Titel, der gleichzeitig Name der Frau ist, die Dreh- und Angelpunkt der Geschichte darstellt, und durch die Bedeutung - nämlich ironischerweise "Wahrheit" - den Hauptkonflikt vorwegnimmt, finde ich einfach nur genial.


Erster Satz: "Erst höre ich das Geräusch seines berstenden Schädels, dann spritzt mir sein Blut entgegen."


Schon der Beginn des ersten Kapitels wird alle verstören, die hier ganz dem Cover zufolge eine seichte Liebesgeschichte erwarten. Als hätte die Autorin es darauf angelegt, gleich ein Statement zu setzen und schon aus dem ersten Satz möglichst viel Schockpotential herauszuholen, starten wir mit einem blutigen Unfall auf den Straßen Manhattans ins Geschehen. Wen das abschrecken sollte, dem sein versichert: genau in diesem Stil geht die Geschichte auch weiter. Dass Lowen ihren neuen Auftraggeber Jeremy ausgerechnet mit der Gehirnmasse eines Unfallopfers bespritzt kennenlernt, scheint zwar ein denkbar schlechtes Omen zu sein, ist aber nichts im Vergleich zu dem Schrecken, der auf sie zu kommt, als sie das Angebot, die Thrillerreihe seiner verunglückten Frau Verity weiterzuschreiben, annimmt und in das Haus einer Familie zieht, die einiges durchmachen musste. Bald schon zweifelt die Jungautorin daran, dass die Crawfords einfach nur unglückliche Chroniker sind. Ist es ein Zufall, dass beide Töchter Harper und Chastin kurz hintereinander verunglückt sind und auch Verity nach einem Unfall nicht mehr ansprechbar ist, oder steckt etwas anderes hinter den Unglücksfällen? Neugierig geworden liest sie Veritys Autobiografie, die sie in einer Kiste in ihrem Arbeitszimmer findet und dabei entdeckt sie eine dunkle Wahrheit. Eine Wahrheit, die ihr neues Glück als erfolgreiche Autorin und ihre Liebe zu Jeremy zerstören wird...


"Die meisten Leute, die nach New York kommen, legen es darauf an, entdeckt zu werden. Wir Übrigen kommen hierher, um uns zu verstecken."



Leider kann ich euch nicht viel über den Verlauf der Handlung erzählen, weil ich sonst Wichtiges vorwegnehmen müsste. Fest steht nur, dass diese Geschichte ganz anders aufgezogen ist, als die emotionalen Liebesromane, die wir sonst von Colleen Hoover kennen. Hier entblößt die Autorin Abgründe, verdreht Wahrheiten, lockt auf falsche Fährten und zeigt keinerlei Erbarmen, sodass wir bald das Gefühle bekommen, einen waschechten Psychothriller vor uns zu haben. Auch wenn wir vor allem Lowens Gedanken und Gefühle aus der Ich-Perspektive verfolgen und durch sie als neugierige Eindringling in die Welt der Crawfords eintauchen, bekommen wir durch eingeschobene Kapitel aus Veritys Autobiografie, die wir parallel zu Lowen lesen können, eine weitere interessante Perspektive präsentiert. Dass diese Kapitel es ganz schön in sich haben, wird bald nicht nur Lowen klar und wir erleben, wie Lowens Sicht auf die Dinge durch einige wenige Worte komplett auf den Kopf gestellt wird. Besonders spannend ist, dass Colleen Hoover mit Lowens Reaktionen auf Veritys Kapitel meine eigenen Reaktionen als Leser erstaunlich treffsicher vorhergesagt und ins Buch miteinfließen lassen hat, sodass die Geschichte auf gruselige Art und Weise die Erzählgrenzen immer wieder durchbricht.

Auch wenn auf der reinen Handlungsebene nicht viel passiert - eigentlich durchstöbert Lowen nur Veritys Arbeitszimmer, isst mit Jeremy zu Abend und liest ab und an ein Kapitel aus Veritys Manuskript - steigt die Spannung mit jedem Kapitel mehr an. Ein beinahe leeres Geisterhaus, eine gruselige geistig abwesende Frau und ein dunkles Geheimnis, das Stück für Stück gelüftet wird - Colleen Hoover weiß ganz genau, wie sie den Leser durch geschickt platzierte Häppchen, neue Wendungen und schockierende Geheimnissen bei Stange halten muss und so ist es kein Wunder, dass ich den Roman an einem Mittag verschlungen habe. Die Autorin trifft mit ihrer gezielten Verwendung der Neugierde, der Sensationsgeilheit und der Faszination für menschliche Abgründe des Lesers voll ins Schwarze. Sobald man mit dem Lesen begonnen hat, will man unbedingt hinter die Wahrheit kommen und verspürt genau wie Verity auch eine krankhafte Neugier und Faszination für Veritys Abgründe, in die wir Kapitel für Kapitel tiefer hinabsteigen...


"Die jetzt folgenden Seiten werden teilweise so widerwärtig und bitter schmecken, dass ihr sie ausspucken möchtet, aber ihr werdet sie dennoch schlucken. Die Wörter werden zu einem Teil von euch werden, einem Teil eures Innersten, und dieser Prozess wird schmerzhaft sein. Und doch weiß ich, dass ihr sie euch - meiner großzügigen Warnung zum Trotz - weiter einverleiben werdet, weil ihr nun mal seid, was ihr seid.
Menschen.
Neugierig."


Auch hier schaffte Colleen Hoovers Schreibstil wieder, dass ich in einem Wechselbad der Gefühle gefangen war. Diesmal waren es jedoch keine Verliebtheit, Bewunderung, Enttäuschung, Sehnsucht oder andere hübsche Gefühle, wie bei ihren Liebesromanen zuvor. Stattdessen war ich abwechselnd angeekelt, entsetzt, schockiert, zutiefst traurig und gleichzeitig wütend auf die Geschichte, die Protagonisten und die Autorin, die uns treuen Lesern so etwas antut. Teilweise sehr explizite Szenen in vulgärer Sprache wechselten sich mit einfühlsamen Emotionsbeschreibungen ab, sodass ich ständig zwischen Ekel, Fassungslosigkeit, Mitgefühl und Bewunderung für Colleen Hoover schwankte. Diese Geschichte ist spannend, emotional, verstörend, brutal und noch vieles mehr - mir fallen noch endlos viele Adjektive zum Beschreiben ein, am besten trifft es jedoch "krass". Durch die beklemmende Situation Lowens im Haus der Crawfords, die vielen Geheimnisse und auch ihre eigene Altlasten, die sie nicht gerade zu einer Sonnenschein-Protagonistin machen, ist die Atmosphäre Großteils düster. Teilweise setzt die Autorin jedoch auch sehr subtile aber wirkungsvolle Horrorelemente ein, die die brodelnde Atmosphäre weiter einheizen.

An einer Stelle lässt Colleen Hoover ihre Protagonistin und gefeierte Psychothriller-Autorin Verity Crawford selbst schreiben, der Autor habe seine Aufgabe gut gemacht, wenn der Leser nach dem Lesen ein unbehagliches Gefühl von Abneigung gegenüber den Protagonisten empfindet - und genau das hat Frau Hoover hier geschafft. Immer wieder wollte ich das Buch weglegen und nicht mehr weiterlesen, weil ich vor allem von Veritys Kapiteln genau wie Lowen emotional sehr mitgenommen wurde. Gleichzeitig mag man Lowen und Jeremy, auch wenn sie absolut keine Identifikationsfiguren oder Sympathieträger sind, wie Colleens andere Protagonisten. Während Lowen unsicher, zynisch und alles andere als emotional gefestigt ist, kann man als Leser Jeremy bis zum Schluss nicht zu 100% trauen, auch wenn er auf den ersten Blick wie der perfekte Ehemann und liebevolle Vorzeigevater erscheint. Deshalb bleibt auch die sich entwickelnde Liebesgeschichte der Beiden sehr im Hintergrund - auch der Autorin schien klar zu sein, dass man sich noch nicht auf die Beiden einlassen kann, solange man noch nicht weiß, was tatsächlich in dem großen, dunklen Haus der Crawfords vor sich geht.


"An dem Ort, an den ich mit euch gehen werde, ist kein Licht. Und das war meine letzte Warnung.
Dunkelheit voraus."


Dichte Thriller-Atmosphäre, schwierige Protagonisten, ein fesselnder Schreibstil, sehr heftige Szenen und ein undurchsichtiger Plotaufbau - all das schätze ich an "Verity", was mich aber zu einem wirklichen Fan der Geschichte gemacht hat, war das Ende. Denn dieses beinhaltet eine 180 Grad Wendung, die man der Geschichte nicht zugetraut hätte, die jedoch schockiert zurück lässt. Das Ende ist frustrierend offen, faszinierend mehrdeutig und hassenswert unbefriedigend, weshalb es sicherlich auch nicht allen Lesern gefallen wird. Mit viel Spielraum für Interpretationen und großem Schockpotential hat es meiner Meinung nach jedoch der sowieso schon ungewöhnlichen Geschichte eine Krone aufgesetzt und diesen Roman zu meinem ersten echten Jahreshighlight 2020 werden lassen.

Meine Rezension beenden will ich mit einem Zitat, das Lowen über Veritys Manuskript schreibt, aber auch meine Erfahrung mit "Verity" ziemlich genau auf den Punkt bringt:

"So entsetzlich ich das finde, was sie schreibt, kann ich doch nicht aufhören, es zu lesen. Es ist wie ein schreckliches Zugunglück, von dem man den Blick nicht abwenden kann."




Fazit:


"Verity" ist düster, vielschichtig, schockieren, spannend, emotional und lässt mich gleichzeitig fasziniert und verstört zurück. Colleen Hoover Autorin trifft mit ihrer gezielten Verwendung der Neugierde, der Sensationsgeilheit und der Faszination für menschliche Abgründe des Lesers voll ins Schwarze und hat hier eine beeindruckende Thriller-Romanze geschrieben, die ich sobald nicht mehr vergessen werde.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 04.05.2020

Spannend, witzig, charmant und einfach magisch!

Das Flüstern der Magie
0

Von Bestseller-Autorin Laura Kneidl habe ich zwar schon mehrere ihrer Young-Adult-Bücher wie zum Beispiel "Berühre mich. Nicht", "Verliere mich. Nicht." oder "Someone New" gelesen, einen Fantasy-Roman ...

Von Bestseller-Autorin Laura Kneidl habe ich zwar schon mehrere ihrer Young-Adult-Bücher wie zum Beispiel "Berühre mich. Nicht", "Verliere mich. Nicht." oder "Someone New" gelesen, einen Fantasy-Roman aus ihrer Feder habe ich aber bislang noch nicht versucht. Da kommt ihr neues Fantasyabenteuer "Das Flüstern der Magie" gerade recht, das in die magische Stadt Edinburgh entführt! Dank des Piper Verlags konnte ich schon vor dem Erscheinungstermin mit dem Lesen anfangen und euch nun heute - pünktlich zur Veröffentlichung - von meinen Erfahrungen erzählen!

Das Cover gefällt mir wirklich sehr gut, da es mit den dunklen Ranken, den blauen Farbschlieren und den goldenen Akzenten von düsteren Geheimnissen, wundervoller Magie und einem schillernden Setting erzählt und direkt den Kern der Geschichte trifft. Auch der Titel "Das Flüstern der Magie" passt sehr gut zum Inhalt, da die Protagonistin genau diesem Flüstern folgt, um magische Gegenstände aufzuspüren. Sehr schön sind auch die beiden Porträts von Fallon und Reed in den Leselaschen der broschierten Ausgabe und das Vorwort der Autorin, das gleich Lust macht, die Geschichte zu lesen.


Erster Satz: "Ich starrte den Türsteher des Banshee Labyrinth an und fragte mich, wen der stämmige Mann wohl vor sich stehen sah."


Ohne große Umschweife lernen wir die junge Fallon kennen, die getarnt durch ihren magischen Mantel in einem Club im Billard Geld erspielt, um die angeschlagene Kasse ihres Antiquitätenladens aufzubessern. Denn auch wenn dieser Laden nur zur Tarnung ihres eigentlichen Berufs als Archivarin magischer Gegenstände gilt, überprüfen ihre Eltern regelmäßig, ob der Laden läuft und sie die Verantwortung zurecht an die 19-Jähirge übergeben haben. Als plötzlich ein geheimnisvoller junger Mann die magische Maskerade ihres Mantels durchschaut und ihr wahres Ich sieht, ist ihr sofort klar, dass er anders ist. Was sie allerdings noch nicht weiß, als sie ihn mit zu sich nach Hause nimmt, ist dass er sie übel hintergehen, magische Tarotkarten aus ihrem Archiv stehlen und damit nicht nur ihr eigenes Leben sondern das aller Menschen in Gefahr bringen wird...

Wie das in jedem guten Fantasy-Einzelband der Fall ist, werden wir schnell in die Begebenheiten eingeführt und starten dann unmittelbar mit der Handlung durch. Anders als ich angenommen hatte, herrscht zu einem großen Teil eine Krimi-Atmosphäre vor, da sich die Haupthandlung darum dreht, die verschollenen und gefährlichen Tarot-Karten wiederzubeschaffen, die durch Reeds Verrat in Umlauf gekommen sind. Damit niemand wissentlich oder versehentlich mit dem magischen Kartenset ein Leben verflucht, schließt sich die Archivarin Fallon bald mit dem reuigen Dieb Reed zusammen, der für das ganze Schlamassel verantwortlich war und die beiden begeben sich auf eine abenteuerliche Suche im Untergrund Edinburghs. Einbrüche, Deals, Verkäufer, Zwischenhändler, Okkult-Portale im Internet, Verfolgung und Täuschung - den Beiden ist kein Weg zu schade, um herauszufinden, wer die Karten hat, bevor etwas Schlimmes passiert. Und als wäre der äußere Druck nicht schon hoch genug, finden auch bald Fallons Eltern den Verlust der Karten heraus und stellen ihr ein Ultimatum, was dafür sorgt, dass die Spannung immer hoch bleibt.


"Und du hörst die Magie wirklich flüstern?", fragte Reed, nachdem ich ihm einen Crashkurs über Archivarenwissen gegeben hatte. (…)
"Und was sagt die Magie?"
"Sie rezitiert alte Metallica-Songs."


Neben dem Krimi-ähnlichen Handlungsaufbau und der Jagd nach dem Kartenset, spielt auch das Setting der Geschichte eine auffallend prägende Rolle in der Geschichte. Egal ob berüchtigte Pubs, uralte Museen, wichtige Sehenswürdigkeiten, düstere Schwarzmärkte oder Häuser am Meer - die Autorin nimmt uns an ganz unterschiedliche Schauplätze mit, vermittelt uns ein vielseitiges Bild der Stadt und baut eine magisch-düstere Atmosphäre auf, sodass man jeder Seite anmerkt, dass Laura Kneidl einen Narren an Edinburgh gefressen und sogar eine Weile dort gelebt hat. Natürlich spart sie auch Schottland-Klischees wie Kilts, Bier und Dauerregen nicht aus und in den 400 Seiten können wir nur einen kurzen Eindruck des Settings erhalten, dieser Eindruck hat jedoch ausgereicht um in mir den Wunsch zu wecken, einmal hinzufahren und die Stadt mit eigenen Augen zu sehen.

Die magisch-düstere Atmosphäre der Stadt wird ganz wunderbar mit einfachen aber spannenden Urban-Fantasy-Elementen verbunden. Statt magische Wesen oder besondere Fähigkeiten zu beschreiben, erzählt Laura Kneidl von ganz normalen Menschen, die das "Flüstern der Magie" hören können und zusammen mit sogenannten "Eingeweihten" daran arbeiten, dass diese Magie kein Unheil anrichtet und verborgen bleibt. Diese Idee um die Archivare, die magische Gegenstände aufspüren, in ihren Besitz bringen (notfalls auch durch Diebstahl und Täuschung versteht sich ^^), sie katalogisieren und dann sicher verwahren ist eine wirklich nette und kreative Abwechslung, die mir sehr gut gefallen hat. Zwar bleiben viele Erklärungen rund um die Arbeit der Archivare und das ganze System aufgrund der limitierten Länge oberflächlich und die Autorin kann nicht so in die Tiefe gehen, wie eine Reihe es ermöglicht hätte, dennoch leiden weder Setting, Handlung noch Fantasy-Konstrukt unter dem Konzeption als Einzelband. Besonders angetan haben es mir die magischen Gegenstände, bei denen ich mir im Verlauf der Geschichte oftmals gewünscht habe, auch so einen zu besitzen. Da besitzt Fallon zum Beispiel ein magisches Tablett, dass Essen erscheinen lässt, einen Mantel, der die wahre Identität des Trägers verschleiert und den Menschen stattdessen zeigt, was sie am liebsten sehen wollen, ein Kompass, der jeder Person finden kann, von der man etwas besitzt, oder eine Schreibfeder, die alles, was man notiert erscheinen lässt. Man stelle sich vor, man besäße solche Gegenstände - wie würde das mein Leben erleichtern...


"Nein, wir sind nicht zusammen. Es ist etwas komplizierter."
Jess runzelte die Stirn. "Ist komplizierter das Codewort für schwanger? Wenn ja, bestehe ich darauf, dass das Baby Jess heißt."


Eine packende Jagd durch den Untergrund, ein vielseitiges, ausdrucksstarkes Setting, abwechslungsreiche Fantasy-Elemente und unerwartete Wendungen - was fehlt da noch für einen Young-Adult-Fantasy-Roman? Natürlich: eine schöne Romanze. Dass die beiden Protagonisten sich auf ihrer Suche nach den Karten näher kommen müssen, ist ja schon beinahe vorprogrammiert. Eine nette Idee ist aber, dass diesmal die Protagonistin in das Geheimnis der Magie eingeweiht ist und es dem ahnungslosen Protagonisten erklären muss und nicht wie so oft umgekehrt. Zwar findet Fallon auch bald heraus, dass Reed anders ist und die Magie auf ihn keine Wirkung hat, dennoch entwickelt die Geschichte dadurch eine andere Dynamik. Schön ist auch, dass trotz der großen Raum einnehmenden Handlung noch genügend Luft für die beiden Protagonisten gelassen wird. Fallon ist keine besonders begabte Archivarin und auch keine "besondere Schneeflocke" mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, wie man das aus vielen Reihen kennt. Immer wieder verschusselt sie etwas, hat Pech und oftmals geht etwas schief, sie ist jedoch mit vollem Herzen dabei und deshalb sehr sympathisch. An manchen Stellen nimmt man ihr aber nur mäßig gut ab, dass sie 19 Jahre alt ist. Beim Schicksal von Reed hat Laura Kneidl vielleicht ein kleines bisschen dick aufgetragen. Hier hätte das halbe Drama auch ausgereicht, um sein Dasein als Dieb zu rechtfertigen, was seiner Glaubwürdigkeit gut getan hätte. Nichtsdestotrotz machen die Beiden in Kombination sehr viel Spaß - Sarkasmus, Schwierigkeiten und Uneinigkeiten zum Trotz bilden sie ein tolles Team, das sich ergänzt, vertraut und eine schöne Beziehung aufbaut.


"Alles - jeder Mensch und jeder Gegenstand - hatte seinen eigenen Klang, seinen eigenen Duft und sein eigenes Gefühl. Reeds Stimme erinnerte an ein Instrument mit einer einzigen verstimmten Saite. Nicht perfekt, aber noch immer wohltuen, wenn eine Melodie darauf gespielt wurde."


Das Ende hat mich zwar nicht komplett überrascht, mir aber zugesagt und einen runden Abschluss für diesen temporeichen, vielseitigen Fantasy-Roman gebildet, den ich an einem einzigen Mittag runtergelesen habe. Vielleicht sollte ich also den weiteren Fantasy-Romanen der Autorin noch eine Chance geben und zum Beispiel mit "Die Krone der Dunkelheit" anfangen. Fest steht, dass mich Laura Kneidl im Fantasy-Genre viel mehr überzeugen konnte, als in der Disziplin YA.




Fazit:


Eine packende Jagd durch den Untergrund Edinburghs, ein vielseitiges, ausdrucksstarkes Setting, abwechslungsreiche Fantasy-Elemente, eine prickelnde Romanze und unerwartete Wendungen - dieser Einzelband ist spannend, witzig, charmant und einfach magisch!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 30.04.2020

Viele tolle Ideen stehen offensichtlichen Mängeln gegenüber... schade!

His Dark Materials 3: Das Bernstein-Teleskop
0

Puh, wo fange ich hier bloß an... So sicher ich mir bei der Bewertung der ersten beiden Bände der "His Dark Material"-Reihe von Philip Pullman war (nämlich, dass ich sie nicht besonders mochte), so zwiegespalten ...

Puh, wo fange ich hier bloß an... So sicher ich mir bei der Bewertung der ersten beiden Bände der "His Dark Material"-Reihe von Philip Pullman war (nämlich, dass ich sie nicht besonders mochte), so zwiegespalten bin ich angesichts dieses Finalbands. Wo mir "Der goldene Kompass" zu langweilig war und mir in "Das magische Messer" zu viel passiert, ist in "Das Bernstein-Teleskop" seltsamerweise beides gleichzeitig der Fall: hier treffen detaillierte Weltbeschreibungen auf schnell abgefrühstückte Schlachten, originelle Ideen verpuffen an angestaubter Ideologie und mutige Vorstöße lassen die viel zu oberflächliche Auflösung noch viel unbefriedigender erscheinen. So viele tolle Ideen stehen hier offensichtlichen Mängeln gegenüber, sodass dieser Finalband zugleich mein Lieblingsteil, aber auch klar der schwächste Band der Reihe darstellt.


Doch bevor ich das weiter ausführe, noch ein paar Worte zum Cover. Meine Ausgabe ist Teil eines Dreier-Schubers aus dem Hause Carlsen, der genau wie die andern beiden Bände in dunklem Nachthimmel-Blau mit hellen Sternensprenkeln gehalten ist und ein Motiv zeigt. Auf dem ersten Teil ist die Protagonistin Lyra zusehen, die auf einem Eisbären reitet und auf dem zweiten sieht man einen Jungen, der vermutlich den neuen Protagonisten Will darstellen soll, neben einem Messer. Wer die Person auf dem dritten und letzten Teil darstellen soll und warum hier ein Falke abgebildet ist, erschließt sich mir aber nicht ganz. Das Bernstein-Teleskop oder auch die Libelle der anderen Ausgaben gefallen mir deutlich besser, auch da hier doch alles "Kinderbuch" schreit. Weshalb diese Klassifizierung auf jeden Fall fragwürdig ist, habe ich in meinen Rezensionen zu den anderen beiden Bänden (HIER!) schon erläutert. Auch wenn das junge Alter darauf hindeutet, dass wir es hier mit einem Kinderbuch zu tun haben - ungeschönte Gewalt, blutige Kämpfe, sterbende Protagonisten, mordlustige Kindermobs, grausame Menschenversuche, herumliegende Leichen, abgetrennte Gliedmaßen, Folter, Entführungen, Morde, harter Überlebenskampf und philosophische Ausführungen sprechen eine ganz andere Sprache. In diesem Finalband verwischen die Grenzen mehr denn je und so stellt sich die Frage, was Philip Pullman hier schreiben wollte: ein Kinderbuch, ein Jugendabenteuer oder ein Fantasy-Epos für Erwachsene? Leider ist er aus meiner Sicht in allem drei gescheitert: "Das Bernstein-Teleskop" ist wie seine Vorgänger für ein Kinderbuch zu brutal, für ein Jugendbuch zu kindlich-naiv, kann sich aber auch nicht mit etablierten Fantasy-Klassikern messen...

In der Gestaltung aufgefallen ist mir auch, dass die Kapitelanfänge hier nicht mehr von einer Zeichnung des zentralen Motivs (goldener Kompass, magisches Messer oder Bernstein-Teleskop) geziert werden, sondern von einem passenden Zitat eingeleitet werden. Diese sind vorrangig aus der Bibel, von John Milton oder William Blake, was ein erster Hinweis auf die Richtung der großen Auflösung am Ende geben könnte Eine weitere Auffälligkeit sind die angerissenen Gedankenstrom-artigen Dialogfetzen in Kursivschrift, die an den Enden der ersten Kapiteln Lyras Träume während ihres durch Mrs Coulters in Gefangenschaft verursachten Schlafs ergeben. Bis ich jedoch verstanden habe, dass die kurzen Szenen keine Druckfehler sind, sondern nacheinander gelesen einen zusammenhängenden Dialog wiedergeben, hat es einige Kapitel gebraucht. Zu dieser Verwirrung beigetragen könnte auch haben, dass ich für die ersten 200 Seiten Ewigkeiten gebraucht habe, da der Beginn sich sogar noch schleppender hinzieht als der Auftakt der Reihe (was eine wirkliche Leistung ist, da ich schon geneigt war, dem Beginn von "Der goldene Kompass" einen Orden für den langatmigsten Einstieg aller Zeiten zu verleihen...). Nach dem überstürzten Ende von "Das magische Messer" wird Lyra von ihrer Mutter in einer abgelegenen Höhle gefangen gehalten und ist zum Schlafen gezwungen. Will reist in Begleitung zweier Engel durch Landschaft und Welten, um sie zu finden und hat bis auf ein Treffen mit Iorek Byrnison nichts Aufregendes zu erzählen. Letzterer sucht mit seinen Bären einen neues Ort zum Leben, da die Arktis immer mehr schmilzt (kleiner Seitenhieb auf den Klimawandel übrigens ^^). Auch was die Hexe Serafina Pekkala, Lord Asriel, verschiedene Behörden der Kirche, Polarfüchse und Klippenalben so treiben, erfahren wir ausführlich im ersten Drittel der Geschichte. Dass Mary Malones Entdeckung einer fremden Welt voller intelligenter Antilope-Elefanten-Kreuzungen auf Rädern und das langsam voranschreitende gegenseitige Kennenlernen und Anfreunden beider Lebewesen bald der mit Abstand spannendste Handlungsstrang ist, sagt denke ich alles, was man über den Beginn des großen Finales wissen muss

Genauso unkonventionell und wenig zufriedenstellend wie der Beginn ist das Ende des Buches. Da sich im Laufe der Geschichte eine ordentliche Menge an Fragen, Anspielungen, Geheimnisse und spannender Protagonisten mit irgendwelchen Bestimmungen und Ziele häufen, hatte ich erwartet, eine umfassende Auflösung zu bekommen, die alle rätselhafte Einzelteile der Geschichte geschickt verbindet und endlich Ordnung in die verworrene Handlung bringt. Statt des typischen Show-Downs erhalten wir einen sehr unübersichtlichen Kampf, in der ohne großes Federlesen etwa die Hälfte der wichtigen Protagonisten sterben und von dessen Verlauf und Ausgang wir außer einem zehnseitigen (!!!!) Ausschnitt nichts mitbekommen, und welcher dann in einen langsamen Ausklang mündet, der aber das Versprechen auf eine große Zusammenführung aller Fäden und Lüftung der Geheimnisse nicht einhalten kann.
Insgesamt bleiben ganze Handlungsstränge nur angerissen oder unaufgelöst und es wirkt leider so, als hätte sich der Autor am Ende stark im Zeitplan verzettelt, sodass er den Rest der Geschichte nach 600 Seiten weiteren Rätseln in die verbliebenen 8 quetschen musste. Die Löcher in der Handlung sind beizeiten so groß, dass ein ganzes Schiff hindurchpasst (zum Beispiel das der Gypter, die mit diesem plötzlich in einer bislang unbekannten Welt auftauchen), die Fragezeichen so gewaltig, dass man kein besonderes Teleskop braucht, um sie zu sehen (anders als den Staub, von dem lange keiner wusste, was er darstellt und den plötzlich alle sehen können...), den Ausgang der alles entscheidenden Schlacht erfahren wir nie und die große Prophezeiung auf die sich alles stützt (der Sündenfall - meine eigene an den Haaren herbeigezogene Interpretation dazu findet ihr am Ende meiner Rezension ) kommt am Ende nicht mal mehr vor. Das Geheimnis des Staubs wird zwar teilweise gelüftet, alles um die "dark materials" bleibt jedoch für die vielen Andeutungen und angeblichen Erkenntnisse der Protagonisten zu schwammig. Auch etliche weitere Anspielungen wie zum Beispiel Marys Rolle als "Verführerin", als "Schlange" oder Lyras Bestimmung als neue "Eva" und die Konsequenzen der Seelenwanderung - fast alles, worauf ich gespannt gewartet habe, verläuft zugunsten einer überhasteten und meiner Meinung nach völlig unpassenden Liebesgeschichte zwischen Will und Lyra auf den letzten Seiten im Nichts.

Ja und alles zwischen dem laaaaaangweiligen Anfang und dem wirklich unbefriedigenden Ende war … episch, spannend, vielseitig und definitiv originell, was mich zu meinem in der Einleitung erwähnten Zwiespalt führt. Philip Pullman schreibt von winzigen Menschen mit kurzer Lebensdauer, giftigen Sporen und wütendem Stolz, die auf Libellen reiten und die besten Spione sind. Er denkt sich etliche Parallelwelten aus, von denen einige unserer sehr ähnlich und andere eher fremdartig erscheinen, die aber alle nach den bekannten Theorien von Evolution und Quantenphysik zusammenpassen. Er stellt uns sogar eine neue intelligente Lebensform mit rautenförmigem Skelett, Hörnern, sensiblen Rüsseln und einer Symbiose mit großen Bäumen, deren Samenkapseln sie als Räder verwenden und durch die Prärie düsen, vor (wie kreativ muss man bitte sein, um sich eine Spezies wie die Mulefas auszudenken?!?). Und er stellt sich mutig Fragen wie "Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Was passiert wenn wir sterben? Gibt es einen Gott und wenn ja, wer oder was ist Gott? Was ist der Himmel?". Genau an den Stellen, an denen, an denen andere Fantasy-Romane häufig ungenau werden oder mit großen Gesten ausfaden, setzt er, statt sich schwammig aus der Affäre zu ziehen, zu ausschweifenden Erklärungen an und schickt seine Protagonisten in die Welt der Toten, lässt uns den Tod des Allmächtigen miterleben und klärt das Geheimnis unseres Bewusstseins auf...


Doch auch der Mittelteil ist nicht nur gut - die Kehrseite zu diesen mutigen Thesen und Themen ist nämlich, dass sie meiner Meinung nach in einer Fantasy-Geschichte dieses Formats völlig fehl am Platz sind. Das Ende strotzt nur noch so vor verpackter Lebensphilosophie und überzogener (und bei genauem Nachdenken auch geklauter) "Gott ist tot"-Kirchen-Kritik, sodass der Autor sich hier immer weiter vom Ursprung - einem Kinder-Abenteuer-Fantasy-Buch - wegbewegt. Auch dass seine Protagonisten über Nacht zu Erwachsenen werden, ist keine besonders erfreuliche Entwicklung, die man dem Autor nicht ganz abnimmt. Neben all der tollen neuen Entwicklungen und Ideen kam bei mir immer wieder die Frage auf, warum der Autor dies und jenes nicht schon vorher angebracht oder eingeführt hat. Ein Beispiel: Marys Geschichte (damit meine ich nicht ihr Aufenthalt bei den Mulefas, der zwar überdimensional langgestreckt war, mir aber sehr zugesagt hat, sondern ihre Lebensgeschichte) wird auf den aller letzten Seiten erzählt, wodurch sie sich für mich erst sehr spät profiliert hat. Und so ist es mit vielen Aspekten: etliche Zusammenhänge, Erklärungen, Treffen und Dialoge hätte ich mir zu einem früheren Zeitpunkt der Geschichte gewünscht und wirken mitten im Finale etwas fehl am Platz.

Dass ich es aber trotzdem ohne größere Leseflauten durch die 608 Seiten geschafft habe, habe ich vor allem Philip Pullmans Schreibstil zu verdanken, der für einen Fantasy-Roman überraschend kurz gehalten ist. Es lassen sich kaum ausschweifende Beschreibungen und Erklärungen finden, stattdessen dominieren kurze und prägnante Szenen das Bild. Leider passieren dadurch aber immer wieder viele Dinge gleichzeitig und gerade bei actionreichen Schlüsselszenen kommt es immer wieder vor, dass sich Perspektiven überlappen wie die dargestellten Welten und man ein wenig den Überblick verliert. Zeitweise wirkt die Erzählung wie ein verschickter Fiebertraum, nur um danach wieder auf geregelte Bahnen zu kommen. Immer wieder tauchen wieder sehr berührende und herzergreifende Szenen auf, die danach von schwülstigem Philosophieren und abgedroschenem Kitsch abgelöst werden. Tod, Mord und Hass wechseln sich mit kindlicher Naivität ab und mal wird zur großen High-Fantasy-Schlacht geblasen, nur um dann auf wenigen Seiten alle Probleme zu lösen. Ich habe das Gefühl, dass der Autor selbst nicht genau wusste, was für eine Art Geschichte er hier schreiben will, und somit ist der Leser bei all den vielen Übergängen und Facetten zunehmend überfordert und überfragt, in welche Schublade man diese Geschichte nun packen soll. Im Endeffekt muss ich feststellen, dass keine der bekannten Schubladen und Labels so wirklich passt. Und trotz dass das eigentlich eine großartige Leistung ist, würde auf Philip Pullmans ganz persönlicher Schublade neben "mal was Anderes" auch "aber für mich definitiv zu verrückt" stehen.



Fazit:


Episch, spannend, vielseitig und definitiv originell. aber trotzdem zu verworren, zäh und undurchschaubar, um mich wirklich überzeugen zu können. So bleibt die ganze Reihe für mich nur eine Ansammlung spannender Ideen, die insgesamt aber viel zu viele Schwächen hat, um sich den 1300 Seiten "His Dark Materials" zu stellen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 30.04.2020

Viele tolle Ideen stehen hier offensichtlichen Mängeln gegenüber ... schade!

His Dark Materials 3: Das Bernstein-Teleskop
0

Puh, wo fange ich hier bloß an... So sicher ich mir bei der Bewertung der ersten beiden Bände der "His Dark Material"-Reihe von Philip Pullman war (nämlich, dass ich sie nicht besonders mochte), so zwiegespalten ...

Puh, wo fange ich hier bloß an... So sicher ich mir bei der Bewertung der ersten beiden Bände der "His Dark Material"-Reihe von Philip Pullman war (nämlich, dass ich sie nicht besonders mochte), so zwiegespalten bin ich angesichts dieses Finalbands. Wo mir "Der goldene Kompass" zu langweilig war und mir in "Das magische Messer" zu viel passiert, ist in "Das Bernstein-Teleskop" seltsamerweise beides gleichzeitig der Fall: hier treffen detaillierte Weltbeschreibungen auf schnell abgefrühstückte Schlachten, originelle Ideen verpuffen an angestaubter Ideologie und mutige Vorstöße lassen die viel zu oberflächliche Auflösung noch viel unbefriedigender erscheinen. So viele tolle Ideen stehen hier offensichtlichen Mängeln gegenüber, sodass dieser Finalband zugleich mein Lieblingsteil, aber auch klar der schwächste Band der Reihe darstellt.


Doch bevor ich das weiter ausführe, noch ein paar Worte zum Cover. Meine Ausgabe ist Teil eines Dreier-Schubers aus dem Hause Carlsen, der genau wie die andern beiden Bände in dunklem Nachthimmel-Blau mit hellen Sternensprenkeln gehalten ist und ein Motiv zeigt. Auf dem ersten Teil ist die Protagonistin Lyra zusehen, die auf einem Eisbären reitet und auf dem zweiten sieht man einen Jungen, der vermutlich den neuen Protagonisten Will darstellen soll, neben einem Messer. Wer die Person auf dem dritten und letzten Teil darstellen soll und warum hier ein Falke abgebildet ist, erschließt sich mir aber nicht ganz. Das Bernstein-Teleskop oder auch die Libelle der anderen Ausgaben gefallen mir deutlich besser, auch da hier doch alles "Kinderbuch" schreit. Weshalb diese Klassifizierung auf jeden Fall fragwürdig ist, habe ich in meinen Rezensionen zu den anderen beiden Bänden (HIER!) schon erläutert. Auch wenn das junge Alter darauf hindeutet, dass wir es hier mit einem Kinderbuch zu tun haben - ungeschönte Gewalt, blutige Kämpfe, sterbende Protagonisten, mordlustige Kindermobs, grausame Menschenversuche, herumliegende Leichen, abgetrennte Gliedmaßen, Folter, Entführungen, Morde, harter Überlebenskampf und philosophische Ausführungen sprechen eine ganz andere Sprache. In diesem Finalband verwischen die Grenzen mehr denn je und so stellt sich die Frage, was Philip Pullman hier schreiben wollte: ein Kinderbuch, ein Jugendabenteuer oder ein Fantasy-Epos für Erwachsene? Leider ist er aus meiner Sicht in allem drei gescheitert: "Das Bernstein-Teleskop" ist wie seine Vorgänger für ein Kinderbuch zu brutal, für ein Jugendbuch zu kindlich-naiv, kann sich aber auch nicht mit etablierten Fantasy-Klassikern messen...

In der Gestaltung aufgefallen ist mir auch, dass die Kapitelanfänge hier nicht mehr von einer Zeichnung des zentralen Motivs (goldener Kompass, magisches Messer oder Bernstein-Teleskop) geziert werden, sondern von einem passenden Zitat eingeleitet werden. Diese sind vorrangig aus der Bibel, von John Milton oder William Blake, was ein erster Hinweis auf die Richtung der großen Auflösung am Ende geben könnte Eine weitere Auffälligkeit sind die angerissenen Gedankenstrom-artigen Dialogfetzen in Kursivschrift, die an den Enden der ersten Kapiteln Lyras Träume während ihres durch Mrs Coulters in Gefangenschaft verursachten Schlafs ergeben. Bis ich jedoch verstanden habe, dass die kurzen Szenen keine Druckfehler sind, sondern nacheinander gelesen einen zusammenhängenden Dialog wiedergeben, hat es einige Kapitel gebraucht. Zu dieser Verwirrung beigetragen könnte auch haben, dass ich für die ersten 200 Seiten Ewigkeiten gebraucht habe, da der Beginn sich sogar noch schleppender hinzieht als der Auftakt der Reihe (was eine wirkliche Leistung ist, da ich schon geneigt war, dem Beginn von "Der goldene Kompass" einen Orden für den langatmigsten Einstieg aller Zeiten zu verleihen...). Nach dem überstürzten Ende von "Das magische Messer" wird Lyra von ihrer Mutter in einer abgelegenen Höhle gefangen gehalten und ist zum Schlafen gezwungen. Will reist in Begleitung zweier Engel durch Landschaft und Welten, um sie zu finden und hat bis auf ein Treffen mit Iorek Byrnison nichts Aufregendes zu erzählen. Letzterer sucht mit seinen Bären einen neues Ort zum Leben, da die Arktis immer mehr schmilzt (kleiner Seitenhieb auf den Klimawandel übrigens ^^). Auch was die Hexe Serafina Pekkala, Lord Asriel, verschiedene Behörden der Kirche, Polarfüchse und Klippenalben so treiben, erfahren wir ausführlich im ersten Drittel der Geschichte. Dass Mary Malones Entdeckung einer fremden Welt voller intelligenter Antilope-Elefanten-Kreuzungen auf Rädern und das langsam voranschreitende gegenseitige Kennenlernen und Anfreunden beider Lebewesen bald der mit Abstand spannendste Handlungsstrang ist, sagt denke ich alles, was man über den Beginn des großen Finales wissen muss

Genauso unkonventionell und wenig zufriedenstellend wie der Beginn ist das Ende des Buches. Da sich im Laufe der Geschichte eine ordentliche Menge an Fragen, Anspielungen, Geheimnisse und spannender Protagonisten mit irgendwelchen Bestimmungen und Ziele häufen, hatte ich erwartet, eine umfassende Auflösung zu bekommen, die alle rätselhafte Einzelteile der Geschichte geschickt verbindet und endlich Ordnung in die verworrene Handlung bringt. Statt des typischen Show-Downs erhalten wir einen sehr unübersichtlichen Kampf, in der ohne großes Federlesen etwa die Hälfte der wichtigen Protagonisten sterben und von dessen Verlauf und Ausgang wir außer einem zehnseitigen (!!!!) Ausschnitt nichts mitbekommen, und welcher dann in einen langsamen Ausklang mündet, der aber das Versprechen auf eine große Zusammenführung aller Fäden und Lüftung der Geheimnisse nicht einhalten kann.
Insgesamt bleiben ganze Handlungsstränge nur angerissen oder unaufgelöst und es wirkt leider so, als hätte sich der Autor am Ende stark im Zeitplan verzettelt, sodass er den Rest der Geschichte nach 600 Seiten weiteren Rätseln in die verbliebenen 8 quetschen musste. Die Löcher in der Handlung sind beizeiten so groß, dass ein ganzes Schiff hindurchpasst (zum Beispiel das der Gypter, die mit diesem plötzlich in einer bislang unbekannten Welt auftauchen), die Fragezeichen so gewaltig, dass man kein besonderes Teleskop braucht, um sie zu sehen (anders als den Staub, von dem lange keiner wusste, was er darstellt und den plötzlich alle sehen können...), den Ausgang der alles entscheidenden Schlacht erfahren wir nie und die große Prophezeiung auf die sich alles stützt (der Sündenfall - meine eigene an den Haaren herbeigezogene Interpretation dazu findet ihr am Ende meiner Rezension ) kommt am Ende nicht mal mehr vor. Das Geheimnis des Staubs wird zwar teilweise gelüftet, alles um die "dark materials" bleibt jedoch für die vielen Andeutungen und angeblichen Erkenntnisse der Protagonisten zu schwammig. Auch etliche weitere Anspielungen wie zum Beispiel Marys Rolle als "Verführerin", als "Schlange" oder Lyras Bestimmung als neue "Eva" und die Konsequenzen der Seelenwanderung - fast alles, worauf ich gespannt gewartet habe, verläuft zugunsten einer überhasteten und meiner Meinung nach völlig unpassenden Liebesgeschichte zwischen Will und Lyra auf den letzten Seiten im Nichts.

Ja und alles zwischen dem laaaaaangweiligen Anfang und dem wirklich unbefriedigenden Ende war … episch, spannend, vielseitig und definitiv originell, was mich zu meinem in der Einleitung erwähnten Zwiespalt führt. Philip Pullman schreibt von winzigen Menschen mit kurzer Lebensdauer, giftigen Sporen und wütendem Stolz, die auf Libellen reiten und die besten Spione sind. Er denkt sich etliche Parallelwelten aus, von denen einige unserer sehr ähnlich und andere eher fremdartig erscheinen, die aber alle nach den bekannten Theorien von Evolution und Quantenphysik zusammenpassen. Er stellt uns sogar eine neue intelligente Lebensform mit rautenförmigem Skelett, Hörnern, sensiblen Rüsseln und einer Symbiose mit großen Bäumen, deren Samenkapseln sie als Räder verwenden und durch die Prärie düsen, vor (wie kreativ muss man bitte sein, um sich eine Spezies wie die Mulefas auszudenken?!?). Und er stellt sich mutig Fragen wie "Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Was passiert wenn wir sterben? Gibt es einen Gott und wenn ja, wer oder was ist Gott? Was ist der Himmel?". Genau an den Stellen, an denen, an denen andere Fantasy-Romane häufig ungenau werden oder mit großen Gesten ausfaden, setzt er, statt sich schwammig aus der Affäre zu ziehen, zu ausschweifenden Erklärungen an und schickt seine Protagonisten in die Welt der Toten, lässt uns den Tod des Allmächtigen miterleben und klärt das Geheimnis unseres Bewusstseins auf...


Doch auch der Mittelteil ist nicht nur gut - die Kehrseite zu diesen mutigen Thesen und Themen ist nämlich, dass sie meiner Meinung nach in einer Fantasy-Geschichte dieses Formats völlig fehl am Platz sind. Das Ende strotzt nur noch so vor verpackter Lebensphilosophie und überzogener (und bei genauem Nachdenken auch geklauter) "Gott ist tot"-Kirchen-Kritik, sodass der Autor sich hier immer weiter vom Ursprung - einem Kinder-Abenteuer-Fantasy-Buch - wegbewegt. Auch dass seine Protagonisten über Nacht zu Erwachsenen werden, ist keine besonders erfreuliche Entwicklung, die man dem Autor nicht ganz abnimmt. Neben all der tollen neuen Entwicklungen und Ideen kam bei mir immer wieder die Frage auf, warum der Autor dies und jenes nicht schon vorher angebracht oder eingeführt hat. Ein Beispiel: Marys Geschichte (damit meine ich nicht ihr Aufenthalt bei den Mulefas, der zwar überdimensional langgestreckt war, mir aber sehr zugesagt hat, sondern ihre Lebensgeschichte) wird auf den aller letzten Seiten erzählt, wodurch sie sich für mich erst sehr spät profiliert hat. Und so ist es mit vielen Aspekten: etliche Zusammenhänge, Erklärungen, Treffen und Dialoge hätte ich mir zu einem früheren Zeitpunkt der Geschichte gewünscht und wirken mitten im Finale etwas fehl am Platz.

Dass ich es aber trotzdem ohne größere Leseflauten durch die 608 Seiten geschafft habe, habe ich vor allem Philip Pullmans Schreibstil zu verdanken, der für einen Fantasy-Roman überraschend kurz gehalten ist. Es lassen sich kaum ausschweifende Beschreibungen und Erklärungen finden, stattdessen dominieren kurze und prägnante Szenen das Bild. Leider passieren dadurch aber immer wieder viele Dinge gleichzeitig und gerade bei actionreichen Schlüsselszenen kommt es immer wieder vor, dass sich Perspektiven überlappen wie die dargestellten Welten und man ein wenig den Überblick verliert. Zeitweise wirkt die Erzählung wie ein verschickter Fiebertraum, nur um danach wieder auf geregelte Bahnen zu kommen. Immer wieder tauchen wieder sehr berührende und herzergreifende Szenen auf, die danach von schwülstigem Philosophieren und abgedroschenem Kitsch abgelöst werden. Tod, Mord und Hass wechseln sich mit kindlicher Naivität ab und mal wird zur großen High-Fantasy-Schlacht geblasen, nur um dann auf wenigen Seiten alle Probleme zu lösen. Ich habe das Gefühl, dass der Autor selbst nicht genau wusste, was für eine Art Geschichte er hier schreiben will, und somit ist der Leser bei all den vielen Übergängen und Facetten zunehmend überfordert und überfragt, in welche Schublade man diese Geschichte nun packen soll. Im Endeffekt muss ich feststellen, dass keine der bekannten Schubladen und Labels so wirklich passt. Und trotz dass das eigentlich eine großartige Leistung ist, würde auf Philip Pullmans ganz persönlicher Schublade neben "mal was Anderes" auch "aber für mich definitiv zu verrückt" stehen.



Fazit:


Episch, spannend, vielseitig und definitiv originell. aber trotzdem zu verworren, zäh und undurchschaubar, um mich wirklich überzeugen zu können. So bleibt die ganze Reihe für mich nur eine Ansammlung spannender Ideen, die insgesamt aber viel zu viele Schwächen hat, um sich den 1300 Seiten "His Dark Materials" zu stellen.