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Veröffentlicht am 23.01.2019

Leider nur etwas für Interessierte mit sehr langem Atem!

Walkaway
0

"Wir leben in den ersten Tagen einer besseren Nation."

Die nahe Zukunft: Der Planet ist vom Klimawandel gezeichnet, die moderne Gesellschaft wird von den Ultra-Reichen regiert und die Städte haben sich ...

"Wir leben in den ersten Tagen einer besseren Nation."

Die nahe Zukunft: Der Planet ist vom Klimawandel gezeichnet, die moderne Gesellschaft wird von den Ultra-Reichen regiert und die Städte haben sich in Gefängnisse für den normalen Bürger verwandelt. Doch es ist auch eine Welt, in der sich Lebensmittel, Kleidung und Obdach per Knopfdruck produzieren lassen. Warum also in einem System ausharren, das die Freiheit des Menschen beschränkt? Vier ungleiche Helden machen sich auf den Weg in die Wildnis. Dort suchen sie Unabhängigkeit, Glück und Selbstbestimmung. Was sie aber stattdessen dort finden, stellt ihre ganze Welt auf den Kopf: den Weg zur Unsterblichkeit …


"Dis." Zu ihrem Entsetzen stellte sie fest, dass ihr die Kehle eng wurde. Tränen rollten ihr über die Wangen. "Dis, es ist..."
"Ich weiß", antwortete die Simulation. "Jetzt ist alles anders."


Mein erster Gedanke, als ich das Buch beendet hatte: Uff. Nicht etwa weil ich es schlecht gefunden hätte, im Gegenteil, sondern einfach weil ich mich nicht erinnern kann, in den letzten Jahren so lange für ein einziges Buch gebraucht zu haben. Über sechs Wochen habe ich mich mit Cory Doctorows Utopie herumgeschlagen, etliche Leseflauten niedergekämpft und mich von den vielen spannenden Gedanken darin immer wieder anspornen gelassen, es mit den scheinbar nie endenden 736 Seiten voller Gehirnverrenkungen neu aufzunehmen. Mein zweiter Gedanke: Hat sich der Aufwand und das Durchhalten gelohnt? Ich würde sagen definitiv! Warum - das kommt jetzt!

Das Cover springt den Betrachter zuerst mit seiner furchtbar schrillen, orangenen Farbe an, die weder auf meinem Coverbild noch auf dem offiziellen Coverbild gut zur Geltung kommt. Diese Farbe täuscht ganz gut darüber hinweg, dass die sonstige Gestaltung eher minimalistisch ist. Mit dem gespiegelten, schwarz-weißen Hausmotiv wurde die Thematik definitiv wunderbar auf den Kopf getroffen. Das schwarze Haus mit den Gitterfenstern und dem Feuerausstoß soll wohl den Default repräsentieren während der weiße Pfeil, auf dem die Frau läuft, den Walkaway, also die Alternative, den Ausweg darstellt. Auch die aufdringliche Größe des Titels und des Autorennamens und die vielen Zitate überall passen gut ins Bild. Nur mit dem Klapptext bin ich nicht ganz zufrieden. Angesichts der sehr umfangreichen Handlung, der vielen Charaktere und der langen Erzählzeit, hätte ich mir doch ein wenig konkretere Einblicke in das erwartet, das auf den 736 Seiten auf mich wartet. Außerdem habe ich mich bis zum Ende gefragt, wer denn der vierte Held sein soll, der mit auf den Weg geht (wohl einfach ein Fehler in der Übersetzung)


Erster Satz: "Hubert Vernon Rudolph Clayton Irving Wilson Alva Anton Jeff Harley Timothy Curtis Cleveland Cecil Ollie Edmund Eli Wiley Marvin Ellis Espinoza war zu alt, um auf einer kommunistischen Party zu sein."


Ziemlich schonungslos wirft uns Cory Doctorow gleich zu Beginn des Buches in eine vollkommen abstruse Situation mit total verrückten Protagonisten mit echt schwierigen Namen. Da Hubert 20 Vornamen hat, wird er von seinem Freund Seth nur Etcetera genannt. Letzterer hat ihn auf eine heimliche, kommunistische Party geschleppt, auf der Bier aus sich reproduzierenden Kulturen getrunken wird, in alten Fabrikhallen Möbel unter Urheberrechtsverletzungen produziert werden und sich die rebellische Jugend versammelt. Als die Party gewaltsam aufgelöst wird hilft ihnen die junge Nathalie bei der Flucht. Auch wenn sie als Tochter eines Zottas (eines pervers reichen Menschen) eigentlich keine Sorgen haben müsste, würde sie nichts lieber tun, als aus dem Einflussbereich ihres Vaters zu fliehen. Auch Etcetera und Seth hält nichts mehr im korrupten System nahe am Zusammenbruch und so beschließen die drei ungleichen Gefährten zusammen in den Walkaway zu gehen.


"Niemand beschließt, eine Rekordzahl von Armen einzusperren. Es passiert einfach infolge schärferer Gesetze, geringerer Mittel für juristische Hilfe und zusätzlicher Kosten für Berufungsverfahren … es gibt keine Person, keine Entscheidung und keinen politischen Prozess, denen man die Schuld geben könnte. Es ist systemisch bedingt."
"Was ist die systemische Folge, wenn man ein Walkaway wird?"
"Ich glaube, das weiß noch niemand. Es wird aber sicher spannend, es herauszufinden."


An diesem Punkt wird die Dystopie zur Utopie. Denn wo moderne Technologien wie 3D-Drucker Kleidung, Unterschlupft und Nahrung ohne großen Aufwand gewährleisten ist es möglich geworden, einfach aus dem System, dem Default, auszubrechen und wegzugehen. In einem Gasthof, in dem die wichtigsten Anforderungen nicht Leistung und Funktion sondern Solidarität und Toleranz sind, finden die drei ein neues Zuhause und einen Weg in ein freies, selbstbestimmtes Leben. Doch neben neuen wissenschaftlichen Entdeckungen, Bedrohungen durch den Default und eine immer näher rückende Konfrontation zwischen den verschiedenen Parteien müssen die Protagonisten auch an sich selbst arbeiten um im neuen Gesellschaftsentwurf glücklich werden zu können. Es beginnt der größte Befreiungskampf der Menschheit: der Kampf gegen die soziale Ungerechtigkeit, die Zerstörung der Umwelt und den Klimawandel, aber auch der Kampf gegen den Materialismus, gegenabsurden Hierarchien, gegen die Lust am „Wichtig sein“, gegen Neid und Eifersucht und all die anderen Dinge, mit denen sich Menschen selbst oft im Weg stehen.


"Dieses Glücksgefühl und die Intensität, die du spürst... hast du dich schon mal gefragt, ob das etwas ist, das wir mehr als nur flüchtig wahrnehmen können? Nimm mal einen Orgasmus. Wenn du einen Orgasmus hast, der nicht aufhört, wäre das brutal. In einer Hinsicht wäre das erstaunlich, aber das Erlebnis wäre schrecklich. Nimm das Glücksgefühl, dieses Gefühl, angekommen zu sein und einen Moment lang die Welt vollkommen gemacht zu haben. Kannst du dir vorstellen, wie es ist wenn es andauert? Warum solltest du dann jemals wieder deinen Arsch hochhieven? Ich glaube, wir sind so gemacht, dass wir das Glück immer nur für einen Moment wahrnehmen können, weil sich alle unsere Vorfahren, die es länger erleben konnten, an der Glückseligkeit verloren haben, bis sie verhungert sind oder bis sie ein Tiger gefressen hat."


Schon auf den ersten Seiten, bevor man überhaupt eine richtige Chance hatte, die Ausgangssituation zu verstehen, beginnen die ersten Grundsatzdiskussionen über Kapitalismus und Kommunismus und all ihren Phänomenen. Es wird also sehr bald klar, wie Cory Doctorow hier seine Prioritäten im Zusammenspiel von Science Fiction und Philosophie gesteckt hat. Immer wieder über das ganze Buch verteilt tritt die Handlung zurück und macht Platz für Fragestellungen, die mir zum Teil sehr relevant erschienen während sich mir der Sinn anderer nicht ganz erschloss. Während sich Kapitel voll drohender Gefahr bewaffneter Überfälle, listiger Tricks der Mächtigen, Entführung und Gehirnwäsche mit Verwirrungen und inneren Verwicklungen technologischer Probleme und in sich gekehrte Monologe oder Dialoge abwechseln wird es für den Leser sehr schwer, einen einheitlichen Spannungsbogen zu sehen und den roten Faden nicht aus den Augen zu verlieren. Da drängte sich sehr bald die Schlussfolgerung auf, dass diese Geschichte einfach viel zu lang ist. Interessante Passagen werden so immer wieder durch seitenweise Diskussionen über Computerprobleme abgelöst und der Überhang an Dialogen oder sogar Monologen machte es nicht unbedingt immer einfacher, den Unterhaltungen ernsthaft zu folgen.


"Wenn du Dinge tust, weil du willst, dass dir jemand anders den Kopf tätschelt, dann wirst du nicht so gut wie jemand, der es für die innere Befriedigung tut. Wir wollen das beste Gebäude errichten, das überhaupt möglich ist. Wenn wir ein System einführen, bei dem die Leute um Anerkennung buhlen, laden wir sie ein, Spielchen zu spielen und die Statistiken zu manipulieren, oder sogar ungesund viel zu arbeiten, um alle anderen zu schlagen. Eine Crew mit unglücklichen Leuten leistet minderwertige Arbeit. Wenn du ein System einrichtest, in dem sich die Leute auf Kunstfertigkeit, Kooperation und gutes Handwerk konzentrieren, bekommst du einen schönen Gasthof voller glücklicher Menschen, die gut zusammenarbeiten".


Und ernsthaft und aufmerksam zu lesen ist hier unbedingt notwendig. Mit seinem sehr einfallsreichen, intelligenten aber leider auch etwas schwergängigen Schreibstil stellt der Autor definitiv sicher, dass niemand diese Geschichte versteht, der sich nicht wirklich anstrengt. Zwar hilft ein Glossar beim Verstehen von teils abgefahrenen Neologismen oder existierenden Begrifflichkeiten aus der Computerwelt, trotzdem wird sich nicht lange mit Erklärungen aufgehalten (sonst hätte ich wohl noch mit 200 Seiten mehr zu kämpfen gehabt) sondern viele Dinge einfach als Vorwissen vorausgesetzt. Das alles hat zur Folge, dass man wirklich nur zu dem Buch greifen kann, wenn man gerade in der Verfassung und der Stimmung ist, sich auch wirklich hineindenken zu wollen und zu können - das erklär vielleicht auch, weshalb ich so lange gebraucht habe.

Die teilweise sehr brutalen Schwankungen zwischen actionreichen Kapiteln und in sich gekehrten Abschnitten werden auch durch große Zeitsprünge begleitet. Gerade im letzten Drittel des Romans lebt die Geschichte davon, was in den Erzähllücken passiert. Dadurch hatte ich aber wiederum große Probleme, die Entwicklung der Protagonisten wirklich gut verfolgen zu können. Aus diesem Grund konnte ich die Protagonisten auch nicht besonders nahe an mich heranlassen. Auch wenn wir mit einem komplexen, diversen Satz an Protagonisten beginnen hatte ich das Gefühl, dass sie sich im Laufe der Zeit alle immer ähnlicher werden - vor allem auch weil sie sehr ähnliche Konflikte und Sichtweisen haben. Denn ganz besonders ist an der Geschichte nicht Doctorows Blick auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge sondern vielmehr seine sensible aber solide Darstellung der inneren Veränderungen, die für die Walkaway notwendig sind: der Kampf gegen den Drang eine "ganz besondere Schneeflocke" zu sein und das Auflehnen gegen die menschlichen Unzulänglichkeiten.


"Die Menschen versuchen seit Jahrhunderten, alle anderen dazu zu bewegen, die Erde nicht zu sehr zu belasten, konnten aber nicht mehr sagen als: "Halt still und atme möglichst wenig". (…) Wenn du zu lange darüber nachdenkst, gelangst du irgendwann zu dem Schluss, dass nichts, was du tust, überhaupt noch eine Rolle spielt. Entweder du bringst dich auf der Stelle um, oder du bringst deine Nachkommen um, indem du einfach nur atmest. Jest erkennen wir für die Menschheit einen Weg, der besser ist, als alles, was es früher gab. Wir geben den Körper auf. Wir geben von allem weg. Wir werden unsterbliche Wesen aus reinen Gefühlen und Gedanken, wir können mit Lichtgeschwindigkeit durch das Universum reisen, nichts kann uns töten, wir entscheiden bewusst, wie wir das Leben gestalten wollen, und bleiben dabei, solange wir wollen, während wir die Parameter genau abstimmen, bis wir die Version von uns selbst sind, die genau das Richtige tut und sich selbst kennt und achtet."


Die kleine Utopie inmitten einer zerstörten Welt kurz vor dem Super Gau des Kapitalismus regt mit ihren Ausflügen in die Philosophie definitiv zum Nachdenken an. Während viele Fragen nebenbei und ganz plakativ zu sozialökonomischen, ethischen, politischen, technologischen unökologischen Themen gestellt werden und die Protagonisten händeringend nach Antworten suchen prangert Doctorow im Vorbeigehen Probleme unserer Gesellschaft auf sehr originelle und einfallsreiche Art und Weise an. Er liefert dabei vielleicht keine unbedingt neue Erkenntnis oder ein Modell, das uns klar zeigt, wo es für uns in der Zukunft lang geht. Aber er sensibilisiert ohne mit dem Zeigefinger zu wedeln und gibt uns eine grobe Richtung vor, in die wir uns bewegen müssen: Weg von Materialismus und Ich-Bezogenheit hin zu einer pluralistischen, freien Gesellschaft die ohne Leistungsdruck und Hierarchien auskommt. Und das wichtigste: er zeigt uns, dass es in seiner Vision nicht über Kriege und Aufstände geht sondern über langsame, schrittweise Verändern des eigenen Ichs und das Streben nach Verbesserung - der Rest erledigt sich dann von selbst.


"Ich misstraue jedem Plan, der Ungerechtigkeit beheben will und dessen erster Schritt lautet: Wir zerschlagen das ganze System un ersetzen es durch ein besseres. Besonders wenn du nichts anderes tun kannst, solange nicht der erste Schritt getan ist. Unter allen Möglichkeiten, sich selbst zu verarschen und rein gar nichts zu tun, ist dies die selbstsüchtigste."



Fazit:


"Walkaway" ist eine schonungslose Analyse der gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart und gleichzeitig ein hoffnungsvoller Ausblick der Humanismus und Digitalisierung zu einer spannenden Utopie verbindet. Viele interessante Gedanken und Visionen können jedoch leider nicht über eine riesige Überlänge und etliche Leseflauten hinwegtäuschen.

Deshalb leider nur etwas für Interessierte mit sehr langem Atem!

Veröffentlicht am 23.01.2019

Leider nur etwas für Interessierte mit sehr langem Atem!

Walkaway
0

"Wir leben in den ersten Tagen einer besseren Nation."

Die nahe Zukunft: Der Planet ist vom Klimawandel gezeichnet, die moderne Gesellschaft wird von den Ultra-Reichen regiert und die Städte haben sich ...

"Wir leben in den ersten Tagen einer besseren Nation."

Die nahe Zukunft: Der Planet ist vom Klimawandel gezeichnet, die moderne Gesellschaft wird von den Ultra-Reichen regiert und die Städte haben sich in Gefängnisse für den normalen Bürger verwandelt. Doch es ist auch eine Welt, in der sich Lebensmittel, Kleidung und Obdach per Knopfdruck produzieren lassen. Warum also in einem System ausharren, das die Freiheit des Menschen beschränkt? Vier ungleiche Helden machen sich auf den Weg in die Wildnis. Dort suchen sie Unabhängigkeit, Glück und Selbstbestimmung. Was sie aber stattdessen dort finden, stellt ihre ganze Welt auf den Kopf: den Weg zur Unsterblichkeit …


"Dis." Zu ihrem Entsetzen stellte sie fest, dass ihr die Kehle eng wurde. Tränen rollten ihr über die Wangen. "Dis, es ist..."
"Ich weiß", antwortete die Simulation. "Jetzt ist alles anders."


Mein erster Gedanke, als ich das Buch beendet hatte: Uff. Nicht etwa weil ich es schlecht gefunden hätte, im Gegenteil, sondern einfach weil ich mich nicht erinnern kann, in den letzten Jahren so lange für ein einziges Buch gebraucht zu haben. Über sechs Wochen habe ich mich mit Cory Doctorows Utopie herumgeschlagen, etliche Leseflauten niedergekämpft und mich von den vielen spannenden Gedanken darin immer wieder anspornen gelassen, es mit den scheinbar nie endenden 736 Seiten voller Gehirnverrenkungen neu aufzunehmen. Mein zweiter Gedanke: Hat sich der Aufwand und das Durchhalten gelohnt? Ich würde sagen definitiv! Warum - das kommt jetzt!

Das Cover springt den Betrachter zuerst mit seiner furchtbar schrillen, orangenen Farbe an, die weder auf meinem Coverbild noch auf dem offiziellen Coverbild gut zur Geltung kommt. Diese Farbe täuscht ganz gut darüber hinweg, dass die sonstige Gestaltung eher minimalistisch ist. Mit dem gespiegelten, schwarz-weißen Hausmotiv wurde die Thematik definitiv wunderbar auf den Kopf getroffen. Das schwarze Haus mit den Gitterfenstern und dem Feuerausstoß soll wohl den Default repräsentieren während der weiße Pfeil, auf dem die Frau läuft, den Walkaway, also die Alternative, den Ausweg darstellt. Auch die aufdringliche Größe des Titels und des Autorennamens und die vielen Zitate überall passen gut ins Bild. Nur mit dem Klapptext bin ich nicht ganz zufrieden. Angesichts der sehr umfangreichen Handlung, der vielen Charaktere und der langen Erzählzeit, hätte ich mir doch ein wenig konkretere Einblicke in das erwartet, das auf den 736 Seiten auf mich wartet. Außerdem habe ich mich bis zum Ende gefragt, wer denn der vierte Held sein soll, der mit auf den Weg geht (wohl einfach ein Fehler in der Übersetzung)


Erster Satz: "Hubert Vernon Rudolph Clayton Irving Wilson Alva Anton Jeff Harley Timothy Curtis Cleveland Cecil Ollie Edmund Eli Wiley Marvin Ellis Espinoza war zu alt, um auf einer kommunistischen Party zu sein."


Ziemlich schonungslos wirft uns Cory Doctorow gleich zu Beginn des Buches in eine vollkommen abstruse Situation mit total verrückten Protagonisten mit echt schwierigen Namen. Da Hubert 20 Vornamen hat, wird er von seinem Freund Seth nur Etcetera genannt. Letzterer hat ihn auf eine heimliche, kommunistische Party geschleppt, auf der Bier aus sich reproduzierenden Kulturen getrunken wird, in alten Fabrikhallen Möbel unter Urheberrechtsverletzungen produziert werden und sich die rebellische Jugend versammelt. Als die Party gewaltsam aufgelöst wird hilft ihnen die junge Nathalie bei der Flucht. Auch wenn sie als Tochter eines Zottas (eines pervers reichen Menschen) eigentlich keine Sorgen haben müsste, würde sie nichts lieber tun, als aus dem Einflussbereich ihres Vaters zu fliehen. Auch Etcetera und Seth hält nichts mehr im korrupten System nahe am Zusammenbruch und so beschließen die drei ungleichen Gefährten zusammen in den Walkaway zu gehen.


"Niemand beschließt, eine Rekordzahl von Armen einzusperren. Es passiert einfach infolge schärferer Gesetze, geringerer Mittel für juristische Hilfe und zusätzlicher Kosten für Berufungsverfahren … es gibt keine Person, keine Entscheidung und keinen politischen Prozess, denen man die Schuld geben könnte. Es ist systemisch bedingt."
"Was ist die systemische Folge, wenn man ein Walkaway wird?"
"Ich glaube, das weiß noch niemand. Es wird aber sicher spannend, es herauszufinden."


An diesem Punkt wird die Dystopie zur Utopie. Denn wo moderne Technologien wie 3D-Drucker Kleidung, Unterschlupft und Nahrung ohne großen Aufwand gewährleisten ist es möglich geworden, einfach aus dem System, dem Default, auszubrechen und wegzugehen. In einem Gasthof, in dem die wichtigsten Anforderungen nicht Leistung und Funktion sondern Solidarität und Toleranz sind, finden die drei ein neues Zuhause und einen Weg in ein freies, selbstbestimmtes Leben. Doch neben neuen wissenschaftlichen Entdeckungen, Bedrohungen durch den Default und eine immer näher rückende Konfrontation zwischen den verschiedenen Parteien müssen die Protagonisten auch an sich selbst arbeiten um im neuen Gesellschaftsentwurf glücklich werden zu können. Es beginnt der größte Befreiungskampf der Menschheit: der Kampf gegen die soziale Ungerechtigkeit, die Zerstörung der Umwelt und den Klimawandel, aber auch der Kampf gegen den Materialismus, gegenabsurden Hierarchien, gegen die Lust am „Wichtig sein“, gegen Neid und Eifersucht und all die anderen Dinge, mit denen sich Menschen selbst oft im Weg stehen.


"Dieses Glücksgefühl und die Intensität, die du spürst... hast du dich schon mal gefragt, ob das etwas ist, das wir mehr als nur flüchtig wahrnehmen können? Nimm mal einen Orgasmus. Wenn du einen Orgasmus hast, der nicht aufhört, wäre das brutal. In einer Hinsicht wäre das erstaunlich, aber das Erlebnis wäre schrecklich. Nimm das Glücksgefühl, dieses Gefühl, angekommen zu sein und einen Moment lang die Welt vollkommen gemacht zu haben. Kannst du dir vorstellen, wie es ist wenn es andauert? Warum solltest du dann jemals wieder deinen Arsch hochhieven? Ich glaube, wir sind so gemacht, dass wir das Glück immer nur für einen Moment wahrnehmen können, weil sich alle unsere Vorfahren, die es länger erleben konnten, an der Glückseligkeit verloren haben, bis sie verhungert sind oder bis sie ein Tiger gefressen hat."


Schon auf den ersten Seiten, bevor man überhaupt eine richtige Chance hatte, die Ausgangssituation zu verstehen, beginnen die ersten Grundsatzdiskussionen über Kapitalismus und Kommunismus und all ihren Phänomenen. Es wird also sehr bald klar, wie Cory Doctorow hier seine Prioritäten im Zusammenspiel von Science Fiction und Philosophie gesteckt hat. Immer wieder über das ganze Buch verteilt tritt die Handlung zurück und macht Platz für Fragestellungen, die mir zum Teil sehr relevant erschienen während sich mir der Sinn anderer nicht ganz erschloss. Während sich Kapitel voll drohender Gefahr bewaffneter Überfälle, listiger Tricks der Mächtigen, Entführung und Gehirnwäsche mit Verwirrungen und inneren Verwicklungen technologischer Probleme und in sich gekehrte Monologe oder Dialoge abwechseln wird es für den Leser sehr schwer, einen einheitlichen Spannungsbogen zu sehen und den roten Faden nicht aus den Augen zu verlieren. Da drängte sich sehr bald die Schlussfolgerung auf, dass diese Geschichte einfach viel zu lang ist. Interessante Passagen werden so immer wieder durch seitenweise Diskussionen über Computerprobleme abgelöst und der Überhang an Dialogen oder sogar Monologen machte es nicht unbedingt immer einfacher, den Unterhaltungen ernsthaft zu folgen.


"Wenn du Dinge tust, weil du willst, dass dir jemand anders den Kopf tätschelt, dann wirst du nicht so gut wie jemand, der es für die innere Befriedigung tut. Wir wollen das beste Gebäude errichten, das überhaupt möglich ist. Wenn wir ein System einführen, bei dem die Leute um Anerkennung buhlen, laden wir sie ein, Spielchen zu spielen und die Statistiken zu manipulieren, oder sogar ungesund viel zu arbeiten, um alle anderen zu schlagen. Eine Crew mit unglücklichen Leuten leistet minderwertige Arbeit. Wenn du ein System einrichtest, in dem sich die Leute auf Kunstfertigkeit, Kooperation und gutes Handwerk konzentrieren, bekommst du einen schönen Gasthof voller glücklicher Menschen, die gut zusammenarbeiten".


Und ernsthaft und aufmerksam zu lesen ist hier unbedingt notwendig. Mit seinem sehr einfallsreichen, intelligenten aber leider auch etwas schwergängigen Schreibstil stellt der Autor definitiv sicher, dass niemand diese Geschichte versteht, der sich nicht wirklich anstrengt. Zwar hilft ein Glossar beim Verstehen von teils abgefahrenen Neologismen oder existierenden Begrifflichkeiten aus der Computerwelt, trotzdem wird sich nicht lange mit Erklärungen aufgehalten (sonst hätte ich wohl noch mit 200 Seiten mehr zu kämpfen gehabt) sondern viele Dinge einfach als Vorwissen vorausgesetzt. Das alles hat zur Folge, dass man wirklich nur zu dem Buch greifen kann, wenn man gerade in der Verfassung und der Stimmung ist, sich auch wirklich hineindenken zu wollen und zu können - das erklär vielleicht auch, weshalb ich so lange gebraucht habe.

Die teilweise sehr brutalen Schwankungen zwischen actionreichen Kapiteln und in sich gekehrten Abschnitten werden auch durch große Zeitsprünge begleitet. Gerade im letzten Drittel des Romans lebt die Geschichte davon, was in den Erzähllücken passiert. Dadurch hatte ich aber wiederum große Probleme, die Entwicklung der Protagonisten wirklich gut verfolgen zu können. Aus diesem Grund konnte ich die Protagonisten auch nicht besonders nahe an mich heranlassen. Auch wenn wir mit einem komplexen, diversen Satz an Protagonisten beginnen hatte ich das Gefühl, dass sie sich im Laufe der Zeit alle immer ähnlicher werden - vor allem auch weil sie sehr ähnliche Konflikte und Sichtweisen haben. Denn ganz besonders ist an der Geschichte nicht Doctorows Blick auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge sondern vielmehr seine sensible aber solide Darstellung der inneren Veränderungen, die für die Walkaway notwendig sind: der Kampf gegen den Drang eine "ganz besondere Schneeflocke" zu sein und das Auflehnen gegen die menschlichen Unzulänglichkeiten.


"Die Menschen versuchen seit Jahrhunderten, alle anderen dazu zu bewegen, die Erde nicht zu sehr zu belasten, konnten aber nicht mehr sagen als: "Halt still und atme möglichst wenig". (…) Wenn du zu lange darüber nachdenkst, gelangst du irgendwann zu dem Schluss, dass nichts, was du tust, überhaupt noch eine Rolle spielt. Entweder du bringst dich auf der Stelle um, oder du bringst deine Nachkommen um, indem du einfach nur atmest. Jest erkennen wir für die Menschheit einen Weg, der besser ist, als alles, was es früher gab. Wir geben den Körper auf. Wir geben von allem weg. Wir werden unsterbliche Wesen aus reinen Gefühlen und Gedanken, wir können mit Lichtgeschwindigkeit durch das Universum reisen, nichts kann uns töten, wir entscheiden bewusst, wie wir das Leben gestalten wollen, und bleiben dabei, solange wir wollen, während wir die Parameter genau abstimmen, bis wir die Version von uns selbst sind, die genau das Richtige tut und sich selbst kennt und achtet."


Die kleine Utopie inmitten einer zerstörten Welt kurz vor dem Super Gau des Kapitalismus regt mit ihren Ausflügen in die Philosophie definitiv zum Nachdenken an. Während viele Fragen nebenbei und ganz plakativ zu sozialökonomischen, ethischen, politischen, technologischen unökologischen Themen gestellt werden und die Protagonisten händeringend nach Antworten suchen prangert Doctorow im Vorbeigehen Probleme unserer Gesellschaft auf sehr originelle und einfallsreiche Art und Weise an. Er liefert dabei vielleicht keine unbedingt neue Erkenntnis oder ein Modell, das uns klar zeigt, wo es für uns in der Zukunft lang geht. Aber er sensibilisiert ohne mit dem Zeigefinger zu wedeln und gibt uns eine grobe Richtung vor, in die wir uns bewegen müssen: Weg von Materialismus und Ich-Bezogenheit hin zu einer pluralistischen, freien Gesellschaft die ohne Leistungsdruck und Hierarchien auskommt. Und das wichtigste: er zeigt uns, dass es in seiner Vision nicht über Kriege und Aufstände geht sondern über langsame, schrittweise Verändern des eigenen Ichs und das Streben nach Verbesserung - der Rest erledigt sich dann von selbst.


"Ich misstraue jedem Plan, der Ungerechtigkeit beheben will und dessen erster Schritt lautet: Wir zerschlagen das ganze System un ersetzen es durch ein besseres. Besonders wenn du nichts anderes tun kannst, solange nicht der erste Schritt getan ist. Unter allen Möglichkeiten, sich selbst zu verarschen und rein gar nichts zu tun, ist dies die selbstsüchtigste."



Fazit:


"Walkaway" ist eine schonungslose Analyse der gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart und gleichzeitig ein hoffnungsvoller Ausblick der Humanismus und Digitalisierung zu einer spannenden Utopie verbindet. Viele interessante Gedanken und Visionen können jedoch leider nicht über eine riesige Überlänge und etliche Leseflauten hinwegtäuschen.

Deshalb leider nur etwas für Interessierte mit sehr langem Atem!

Veröffentlicht am 24.12.2018

Eine seltsam entrückt und abgehoben wirkende Geschichte

Mit uns der Wind
0

Die Eindrücke:

Schreibstil: Bettina Belitz´ Stil kann man deutlich ansehen, dass sie ursprünglich aus dem Fantasy Genre kommt. Ihre reine, poetische Sprache, die oft auf sonderbare Art und Weise den ...

Die Eindrücke:

Schreibstil
: Bettina Belitz´ Stil kann man deutlich ansehen, dass sie ursprünglich aus dem Fantasy Genre kommt. Ihre reine, poetische Sprache, die oft auf sonderbare Art und Weise den Kern einer Situation trifft, macht das Leseerlebnis besonders intensiv gleichzeitig wirken die vielen Anspielungen auf esoterischer, metaphysischer Ebene und die zähfließende Erzählweise ein wenig abgehoben und deplatziert.

Charaktere
: Die Geschichte wird aus zwei Perspektiven erzählt, die sich im Chaos des Festivals treffen: Zufall oder Schicksal? Mona will aus ihrem goldenen Käfig ausbrechen und endlich in die Welt ziehen und Abenteuer erleben trotz ihrer Narkolepsie. Auch Adrian hat einen tiefsitzenden Drang nach Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit in sich, den er im gefährlichen Kitesurfen auslebt. Zwei spannende Charaktere die hier aufeinander treffen.

Setting
: Die schöne, reale Rock-am-Ring-Atmosphäre, in der alles möglich scheint, mit netten Anspielungen auf Rockmusik (Closer to the Edge" von 30 Seconds to Mars ❤) steht kontrapunktisch zu dem Hauch Mystik, der durch die Han-Ryu-Anspielungen auf die japanische Mythologie und esoterische Traumsequenzen aufkommt. Die Mischung aus Liebe, Anziehungskraft, dem wilden Freiheitsdrang der Charaktere, Sehnsucht, Melancholie sorgt für eine dunkle, geheimnisvollen Grundstimmung und eine besondere Sogwirkung.

________________________________

Die Zitate:

"Er ist mir vertraut", sage ich leise. "Es ist wie eine tiefe Ahnung, die ich fühle, wenn ich seine Videos anschaue und von ihm träume. Und ich möchte diese Ahnung überprüfen."

"Ein Augenblick der Geduld kann vor großem Unheil bewahren, ein Augenblick der Ungeduld ein ganzes Leben zerstören."
________________________________


Das Urteil:


Eine seltsam entrückt und abgehoben wirkende Geschichte mit einer dunklen, geheimnisvollen Grundstimmung und eine besonderen Sogwirkung. Die aufkommende Esoterik und die handfeste Rock-am-Ring-Atmosphäre wollen nicht so ganz zusammen passend - ansonsten eine solide Liebesgeschichte

Veröffentlicht am 24.12.2018

Eine seltsam entrückt und abgehoben wirkende Geschichte

Mit uns der Wind
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Die Eindrücke:

Schreibstil: Bettina Belitz´ Stil kann man deutlich ansehen, dass sie ursprünglich aus dem Fantasy Genre kommt. Ihre reine, poetische Sprache, die oft auf sonderbare Art und Weise den ...

Die Eindrücke:

Schreibstil
: Bettina Belitz´ Stil kann man deutlich ansehen, dass sie ursprünglich aus dem Fantasy Genre kommt. Ihre reine, poetische Sprache, die oft auf sonderbare Art und Weise den Kern einer Situation trifft, macht das Leseerlebnis besonders intensiv gleichzeitig wirken die vielen Anspielungen auf esoterischer, metaphysischer Ebene und die zähfließende Erzählweise ein wenig abgehoben und deplatziert.

Charaktere
: Die Geschichte wird aus zwei Perspektiven erzählt, die sich im Chaos des Festivals treffen: Zufall oder Schicksal? Mona will aus ihrem goldenen Käfig ausbrechen und endlich in die Welt ziehen und Abenteuer erleben trotz ihrer Narkolepsie. Auch Adrian hat einen tiefsitzenden Drang nach Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit in sich, den er im gefährlichen Kitesurfen auslebt. Zwei spannende Charaktere die hier aufeinander treffen.

Setting
: Die schöne, reale Rock-am-Ring-Atmosphäre, in der alles möglich scheint, mit netten Anspielungen auf Rockmusik (Closer to the Edge" von 30 Seconds to Mars ❤) steht kontrapunktisch zu dem Hauch Mystik, der durch die Han-Ryu-Anspielungen auf die japanische Mythologie und esoterische Traumsequenzen aufkommt. Die Mischung aus Liebe, Anziehungskraft, dem wilden Freiheitsdrang der Charaktere, Sehnsucht, Melancholie sorgt für eine dunkle, geheimnisvollen Grundstimmung und eine besondere Sogwirkung.

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Die Zitate:

"Er ist mir vertraut", sage ich leise. "Es ist wie eine tiefe Ahnung, die ich fühle, wenn ich seine Videos anschaue und von ihm träume. Und ich möchte diese Ahnung überprüfen."

"Ein Augenblick der Geduld kann vor großem Unheil bewahren, ein Augenblick der Ungeduld ein ganzes Leben zerstören."
________________________________


Das Urteil:


Eine seltsam entrückt und abgehoben wirkende Geschichte mit einer dunklen, geheimnisvollen Grundstimmung und eine besonderen Sogwirkung. Die aufkommende Esoterik und die handfeste Rock-am-Ring-Atmosphäre wollen nicht so ganz zusammen passend - ansonsten eine solide Liebesgeschichte!

Veröffentlicht am 10.12.2018

Eine ausdrucksstarke Romanze

Idol - Gib mir dein Herz
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Nach dem ersten Teil "Idol - Gib mir die Welt", in dem wir für kurze Zeit Teil der verrückten, düsteren, lockenden Rock-Welt der Band Kill John werden und die Kraft des Rhythmus´, die Dynamik der Massen ...

Nach dem ersten Teil "Idol - Gib mir die Welt", in dem wir für kurze Zeit Teil der verrückten, düsteren, lockenden Rock-Welt der Band Kill John werden und die Kraft des Rhythmus´, die Dynamik der Massen und allgemein die Macht der Musik, die Leidenschaft, die Harmonie, spüren dürfen, war mir klar, dass ich auch mit dem zweiten Teil wieder in dieses Universum zurückkehren will. Und dieser Teil hat, was dem ersten Teil ein bisschen gefehlt hat: ein durchgängiger roter Faden. Anstatt von riesigen Zeitsprünge ist alles recht kompakt zusammen gehalten und wir dürfen dabei zusehen, wie sich zwischen den beiden Protagonisten eine Anziehungskraft entwickelt, die auch beim Leser spürbar wird und dem ein oder anderen amüsanten Wortgefecht beiwohnen. Da keiner der beiden Protagonisten ein Musiker ist, fällt die schön poetische und kraftvolle Darstellung der Musik leider weg und es geht stattdessen mehr um den großen Organisationsaufwand und das viele Personal hinter einer Band.

Das Cover ist in Farbgebung und Formatierung dem ersten Teil angepasst, hat aber meiner Meinung nach eine ganz andere Ausstrahlung. Um es mal vorsichtig zu formulieren: das ist eines dieser Bücher, bei denen ich das Cover in einer U-Bahn sehr gerne verdecken würde, da es doch sehr eindeutig verrät, worum es geht. Während das Cover von Band 1 noch bunt, schillernd, glamourös und sexy war, dabei aber nicht viel verraten hat und wir nur einen dunklen Umriss im hellen Durcheinander aus Nebel, Scheinwerferlicht und Schattenspielen gesehen haben, finde ich das Motiv, der Typ im Anzug hier irgendwie billig. Ich mag es absolut nicht, wenn mir Bilder die Vorstellung eines Charakters verderben. Ich finde alles am Cover schreit: erotischer Milliardärroman - was es streng genommen auch ist, aber da kann man sich im New Adult Genre schon etwas Gehobeneres ausdenken finde ich )

Erster Satz: "Kennen Sie diese Leute, die einfach immer Glück zu haben scheinen?"


Auch wenn Sophie Darling eigentlich nicht zu diesen Leuten gehört, denen immer alles zufliegt, wird sie auf ihrem Flug nach London in die erste Klasse versetzt. Was ihr aber zuerst wie eine Chance auf einen gemütlichen Flug erscheint, wird bald vernichtet, als sie ihren Sitznachbar kennenlernt: einen steinreichen, verklemmten Charmebolze (ironisch gemeint) mit Flugangst. Mit ihrer fröhlichen extrovertierten Art nimmt sie sich kein Blatt vor den Mund und beschließt, dem attraktiven aber eiskalten Mann gehörig auf die Nerven zu gehen. Dass der Sonnenschein ihr zukünftiger Chef und Manager der Band Kill John ist, ahnt sie noch nicht, genauso wenig, wie dass die beiden lange noch nicht fertig miteinander sind...

„Ich sitze neben der Frau fest, die offenbar an einem unheilbaren Fall von verbalem Durchfall leidet.“
„Sagt der Mann mit sozialer Verstopfung.“
Er erstarrt und reißt die Augen auf. Und dann entfährt ihm ein unterdrücktes Schnauben, das sich in ein ersticktes Lachen verwandelt. "Herrgott." Er zwickt sich in den Nasenrücken und ringt um Fassung. "Ich bin verflucht." Ich lächle. "Schon gut." Ich tätschle seinen Unterarm. "In etwa sieben Stunden wird alles vorbei sein."


Eigentlich ist das ein total typisches, vorhersehbares Buch: ein Mann Typ "sexy, unglaublich gutaussehend, mächtig, reich und mit Problemen belastet" und eine Frau Typ "sehr hübsch, offenherzig, gewillt seine Mauern zu durchbrechen und natürlich mit noch mehr Problemen belastet" treffen sich und -booommm- Anziehungskraft, Intrigen und jede Menge Drama. Ja ich kenne dieses Erfolgskonzept und doch falle ich jedes Mal aufs Neue wieder darauf rein. Schon im ersten Kapitel war ich fasziniert von der Kombination aus "Sonnenschein" und "Plappermäulchen", wie sich die beiden bald nennen, die in witzigen Wortgefechten endet. Sophie trägt ihr Herz auf der Zunge und redet ohne Punkt und Komma und lockt Gabriel damit immer mehr aus seiner Reserve, was sehr amüsant mit anzusehen ist. Das ist eigentlich schon der ganze Inhalt des Buches. Die beiden treffen in vielen ähnlichen Szenen immer wieder aufeinander und werden mit ihrer Anziehungskraft konfrontiert während scheinbare Probleme im Weg zu ihrem Glück stehen. Mit den vielen Wiederholungen ähnlicher Szenen und manchen kleinen Logiklücken ist der Plot keineswegs ein Meisterwerk, trotzdem habe ich das Prickeln von Anfang an gespürt und konnte nicht mehr aufhören zu lesen. Auch durch den stetigen Perspektivenwechsel und die vielen spannenden Nebencharaktere blieb die Geschichte immer spannend.

Sophie Darling ist neue Marketing-Beauftragte der Rockband Kill John, was anfangs für viele Konflikte sorgt. Denn sie ist ausgerechnet die Paparazza, die die Bilder geschossen hat, die Jax´ Selbstmordversuch öffentlich gemacht haben. In der Liebe hatte sie nie Glück und hat sich auf den neuen Job eigentlich nur eingelassen, um aus ihrem alten Umfeld entfliehen zu können. Auch wenn mir bei ihr ein wenig der Hintergrund gefehlt hat und mir ihre genaue Aufgabe und Wichtigkeit im Kill-John-Team nicht ganz klar geworden ist, ist sie mir mit ihrer offenen und ironischen Art ans Herz gewachsen.

"Ich schaue ihr in die Augen und verspüre erneut dieses seltsame Gefühl, wie ein Schlag direkt unter meine Rippen. Schmerz, Verbitterung, Reue, Zärtlichkeit, es ist eine Mischung aus all diesen Empfindungen, was es schwierig macht, sich für eine zu entscheiden. Ich will ihr sagen, dass es mir leid tut, dass ich sie verletzt habe. Ich will sie wegschicken, damit ich dieses Unbehagen nicht verspüren muss. Sie ist gefährlich, weil ich sie nicht kontrollieren kann. Und sie ist absolut schön, wie geschmolzenes Glas, das einen in Versuchung führt, es zu berühren, obwohl man weiß, dass man sich daran verbrennen wird."

Gabriel Scott ist eigentlich das genaue Gegenteil von Sophie: zwar super heiß und unverschämt attraktiv, aber leider auch ein griesgrämiger, introvertierter Eisklotz. Seitdem er seine Mutter verloren hat und auf der Straße gelandet war, versucht er niemanden an sich ranzulassen, was bei Sophie nur mäßig funktioniert. Auch wenn sein Charakter eigentlich innerhalb der Geschichte ganz gut funktioniert hat, fand ich seine Kampf-Vergangenheit ein wenig fragwürdig, genau wie seine 6 Häuser auf der ganzen Welt und die Tatsache dass er in so jungen Jahren schon eine so wichtige Stellung einnimmt. Vielleicht minimal unrealistisch... aber ich bin sowieso kein besonderer Fan des aktuellen Milliardärhypes. Da sind mir die altmodischen Prinz-Geschichten lieber - da kommt das Mädel zwar auch fast immer schlecht weg, das ist aber wenigstens auf das Alter der Geschichten zu schieben... Besonders ironisch fand ich eine Stelle, in der sich die Bandmitglieder über Geschichten über "Pythonschwänze" und "Muschiflüsterer" beschweren, wodurch die Frauen, die sie lesen total unrealistische Anforderungen bekommen, die echte Männer gar nicht erfüllen können - das hätte sich die Autorin ja mal selbst zu Herzen nehmen können, ich mein ja nur...

"Er lächelt. Er steht wie eine wunderschöne Statue in den Schatten und wirkt unantastbar. Wie ein Fels. Aber dieses Lächeln ist mein Verderben. Darin liegt die gesamte Freude der Menge. Es spiegelt meine Begeisterung und Aufregung wider. Er weiß, was ich empfinde. Er weiß es, weil er es unglaublicherweise ebenfalls empfindet. Mir wird klar, dass er diesen Teil seines Lebens liebt, er hat es nur noch nie gezeigt. Jetzt lässt er es mich sehen. Das ist der Mann hinter dem Vorhang."


Der Schreibstil ist mal wieder sehr flüssig und locker, was mir gut gefällt, an manchen Stellen waren mir die Formulierungen aber wieder viel zu derb (könnte vielleicht an der Übersetzung liegen). Auch der Witz und Humor, der den Umgang der Protagonisten Großteils prägt hat, trägt viel dazu bei, die Lesestimmung zu verbessern. In Zusammenspiel mit der sich leise entwickelnden Beziehung der Protagonisten hat die wilde Mischung aus Verführung, Anziehungskraft, Scheinwerferlicht, Musik, Sinnlichkeit, Reichtum neben den Schattenseiten der Berühmtheit wie Groupies, Drogen, Paparazzi, Abhängigkeit vom Plattenvertrag, die in schnellem Tempo immer wieder gegenüber gestellt werden, die mitreißende Wirkung des Romans ausgemacht. Sehr schön war auch wieder, nebenher etwas von der Band mitzubekommen und liebgewonnene Charaktere wiederzusehen. Die Band, die Musik und das ganze Feeling, das in Band 1 zu spüren war, sind hier leider ein wenig kurz gekommen. Aber im nächsten Band um Jax wird das vielleicht wieder anders sein...

„Irgendwo, über dem Atlantik, in zehntausend Metern Höhe, hat sie sich an mich geschmiegt und mein Herz hat beschlossen, ihren Duft, den Klang ihrer Stimme und das Gefühl ihrer Haut mit Geborgenheit gleichzusetzen.“


Das Ende empfand ich dann wieder als ein wenig überzogen, zuerst im negativen Sinne und dann im positiven. Wer es gelesen hat, weiß vielleicht was ich meine. Ich verstehe einfach nicht, warum es Autoren nicht einfach bei einem langsam auslaufenden Ende belassen können, wenn die Handlung nicht anderes hergibt. Aber stattdessen muss ein heftiger Drop inszeniert und danach ein riesiges Happy End mit Flughafenszene und Heiratsantrag inszeniert werden, seufz. Ich weiß gar nicht, warum ich dieses Genre überhaupt noch lese, wenn ich mich durchgängig darüber aufrege. Ah ja richtig, wegen des unglaublichen Unterhaltungswerts


Fazit:

Eine ausdrucksstarke Romanze, die vor allem durch den wilden Mix aus Verführung, Anziehungskraft, Scheinwerferlicht, Musik, Humor und Extravaganz besticht. Sehr unterhaltsam aber leider mit einigen Schwächen in der Konzeption - Freunde des Genres werden voll auf ihre Kosten kommen!